Kapitel 30 – Reas
Er wollte sie festhalten, doch er spürte, wie sie verblasste. Mehr und mehr. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Zu viele Menschen waren bewusstlos nach Hemera gekommen, bevor sie … bevor sie starben. Er musste zu ihr, musste nach Vala. Die Ketten, die ihn hier hielten, mussten sich öffnen, mussten einfach durch seinen bloßen Willen gesprengt werden und seinen Körper freigeben, um zwischen den Welten zu wandeln. Sein Wille musste reichen, um das Gefängnis zu verlassen und Kaia zu retten. Wäre er bei Kaia, könnte er den Schnee schmelzen und sie retten.
»Aber du hast deine Kräfte nicht unter Kontrolle«, sprach die Stimme des Zweifels. »Du konntest sie nicht kontrollieren, als du Arianas Eisblume hast wachsen lassen und du kannst sie jetzt nicht kontrollieren.« Reas ballte seine Hände zu Fäusten und schloss die Augen. Wenn er schon nicht nach Vala konnte, würde er den Winter von hier aus dazu zwingen müssen, Kaia freizugeben. Er konnte es. Er musste sich nur stark genug konzentrieren.
Er stellte sich vor, wie der Schnee schmolz, wie die Temperatur stieg … Er riss die Augen auf und blickte nach Vala. Der Schneefall hatte wieder begonnen, und Kaias regloser Körper war bereits mit einer dünnen, weißen Schicht bedeckt. »Verdammt!« Er schlug auf den Boden, und seine kaum verheilten Finger begannen zu bluten. Wie seine Ohren geblutet hatten. Er war als Mensch in Hemera gefangen und konnte nichts tun, um Kaia zu retten.
Doch Zweifel durfte er nicht zulassen. All diese Stimmen in seinem Kopf … sie wurden von Angst genährt, und er würde Phobos nicht wieder Macht über sich geben. Es war auch einfach nicht wichtig. Nicht jetzt. Jetzt zählte nur Kaia – und dass sie lebte. Seine Brust wurde eng, und als müssten sich die Gefühle einen Weg an die Oberfläche bahnen, fing er an zu weinen. Er war ihr so nah, er konnte seine Hand nach ihr ausstrecken – doch sie waren in zwei Welten. Welten, die keine Grenze hatten, die man erreichen konnte. Götter gingen einfach in die andere Welt, weil sie es wollten; allein der Gedanke genügte. Menschen mussten bewusstlos sein – oder träumen.
Reas schloss die Augen und atmete tief durch, um sein viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Nicht verrückt werden. Ruhig bleiben. Ruhig und besonnen. Auf Kaia konzentrieren. Davon träumen, wie sie zusammen waren. Wie sie ihn geküsst hatte. Wie sie sich geliebt hatten, damals, auf dem Gutshof. Eine Ewigkeit her, und doch leuchteten die Erinnerungen so hell, dass sie die dunkle Verzweiflung in seinem Inneren vertrieben. Er war ihr nah, so nah, wie er nie zuvor jemandem gewesen war. Sie hatte ihre Beine um ihn geschlungen und er war ihr nicht nur nah … Er war mit ihr verschmolzen. Sie waren eins gewesen. Es fühlte sich an, als könnte er selbst jetzt ihren Körper an seinem spüren, ihre schmalen Arme an seiner Brust, ihre kalte Wange an seiner –
Ein heulender Eissturm fegte über sie hinweg. Reas warf sich über Kaia, um sie vor dem Wind zu schützen. Himmel, ihr Körper war kalt. Kein Wunder, sie lagen beide in einer tiefen Schneewehe, und die Restwärme ihrer Körper ließ sie tiefer und tiefer einsinken. Sie waren auf Vala. Reas jubilierte. Er streckte die Hand aus, und als wäre es das Natürlichste der Welten, dass ein Anemos in einem Menschenkörper das Wetter befehligte, legte sich der Sturm. Der Schnee schmolz, aber langsam, viel zu langsam. Er konnte die Kälte nehmen, aber keine Wärme erschaffen, dazu benötigte er seine Brüder.
Eine glutrote Sonne erhellte die blausilbrige Mondnacht. Reas spürte die Hitze auf der Haut, bevor er verstand, was geschah. Keine Sonne — eine Feuersbrunst raste über die Schneewehen. Dampf stieg in dicken Wolken auf, und die ausgedörrte Erde unter der Schneedecke begann zu brennen. Reas schirmte Kaia mit seinem Körper ab und riss die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, doch ein Donner zerfetzte die Wolken und es begann, in Strömen zu regnen. Er schnappte nach Luft, was in dieser Sturzflut kaum möglich war. Verdammt, was war mit seinen Kräften los? Feuer, Regen, Schnee … Alles durcheinander, alles vollständig … er schluckte schwer. Vollständig außer Kontrolle.
Er sah nach Kaia. Egal, was hier passierte, es hatte alles keinen Wert, wenn sie nicht überlebte. Hatte die Wärme … war es zu schnell zu warm geworden? Ihr Puls ging flach, doch es war keine Atmung zu spüren. Reas presste seine Lippen auf ihre und blies. Wieder und wieder. Um ihn herum zischten Flammen in einem Meer aus Regen, doch alles war egal, wenn Kaia nicht zu ihm zurückkam. »Kaia«, stieß er zwischen zwei Atemspenden aus. »Mach schon.« Wieder eine Atemspende. »Komm zurück.«
Kaia hustete. Reas richtete ihren Oberkörper auf und zog sie an sich. »Kaia. Kaia. Kaia.« Er konnte nicht aufhören, ihren Namen in Verwunderung und Dankbarkeit zu flüstern.
»Ich weiß, wie ich heiße«, grummelte sie. »Was ist hier …« Ihre Augen wurden groß. »Reas?« Regen lief wie Tränen über ihre Wangen. Ihre Lippen zitterten, als sie seinen Namen sprach. »Reas, du? Ist das Wirklichkeit oder ein Traum?« Sie betrachtete ihn, als könnte sie nicht glauben, dass sie beide hier waren, gemeinsam. Sie strich über seine Stirn und ließ ihre Finger durch sein Haar gleiten. Er schloss die Augen und genoss ihre Berührung. Sie hatten beide überlebt, und nur das zählte. Alles andere würde sich finden.
Als Kaias Lippen seine berührten, lehnte er sich ihr entgegen und trank ihren Atem, der kalt und zittrig über seine Lippen strich. Sie küssten sich, erst zärtlich, dann heftiger. Seine Lippen öffneten sich, und seine Zunge drang mit mühsam unterdrückter Leidenschaft in ihren Mund vor. Sie ließ sich nach hinten fallen und zog ihn mit sich. Sie landeten mit einem lauten Platschen im Schlamm, und Reas spürte, wie ihm schmutziges Wasser übers Gesicht rann. Er lachte und wischte die Schlammspritzer aus Kaias Augen, und statt einzelner Punkte hatte sie nun lange, dunkle Schlieren in ihrem Gesicht. Sie kicherte. »Du siehst auch nicht besser aus, glaub mir.« Sie küsste ihn erneut.
Schlamm. Das Merkwürdige an der Situation drang erst jetzt in sein Bewusstsein. Kaia schien es genauso zu ergehen, denn sie schaute sich um, und Reas folgte ihrem Blick. Der Schnee war verschwunden, als hätte es nie einen Winter gegeben. Verbrannte Getreidestoppeln auf der Erde zeugten davon, dass hier einst ein Feld gewesen war, doch im Moment wirkte die Landschaft wie ein schlammiger Tümpel im Spätherbst. Ein heißer Wind hüllte Reas und Kaia ein und vertrieb rasch die Kälte aus ihren Gliedern.
Aus der Ferne näherte sich eine einzelne Gestalt. Die Person schien zu gehen, doch sie kam viel schneller näher, als ein Mensch gehen oder rennen konnte. Langes, schwarzes Haar wehte im Sommerwind, die dunkle Haut wirkte fahl im kühlen Mondlicht. Schwarze Augen hefteten sich auf Reas, der ungläubig die Gestalt anstarrte. Der Mann öffnete den Mund, und von Notos’ Lippen erklang Euros’ Stimme: »Verdammt schwer, beide Jahreszeiten zu kontrollieren. Tut mir leid für die Umstände, Reas, aber Notos ist noch nicht wieder ganz der Alte. Es hat mich genug Energie gekostet, ihn dazu zu bewegen, aus dem Brunnen zu klettern. Seine Kräfte zu benutzen – da weigert er sich.« Er strich sich die schwarzen Strähnen, die der Wüstenwind wild um seinen Kopf wehte, aus dem Gesicht. »Ich kriege das schon hin. Wenn du den Winter von Hemera aus beherrschen kannst, werde ich ja wohl Sommer und Herbst kontrollieren können, was?« Er grinste schief.
Reas konnte sich kaum noch erinnern, wann er Notos das letzte Mal hatte lachen sehen. Und selbst, wenn es nicht wirklich Notos war – noch nicht, sie würden ihren Bruder schon wieder mit neuem Mut beleben – war es eine ungemeine Freude, seine Familie um sich zu haben. Er rannte auf ihn zu und schloss ihn – sie beide – in die Arme. Notos drückte ihn, und Reas meinte, zwei Atemzüge in seinen Ohren zu hören, einen flach und unstetig, einen schnell und lebendig. »Es ist so merkwürdig«, murmelte er. »Hat einer von euch so etwas schon einmal gemacht?«
»Nein.« Welche Wohltat, Notos’ Stimme zu hören, auch wenn er so klang, als hätte er seit Jahren nicht gesprochen. »Aber du warst auch sicher noch nie in einem Menschenkörper in Hemera, oder?«
Euros fügte hinzu: »Es scheint vieles zu geben, was wir nicht über uns wissen. Vielleicht waren all diese Dinge auch nicht möglich, bevor du gelernt hattest, zu fühlen.«
Eine andere Stimme gesellte sich zu ihren: »Schwach zu sein, meint ihr.«
Reas’ Schultern versteiften sich. Er kannte diese Stimme, die in seinem Rücken erklang. Er sah in Notos’ entsetztes Gesicht und drehte sich langsam um. Pfarrer Maius stand da, und in seinen Augen tanzte der schwarze Schatten. Er hatte Kaia hochgezogen und hielt ihr ein Messer an die Kehle, das gleiche, das Iselda tödlich verwundet hatte. »Wann werdet ihr verfluchten Anemoi es endlich lernen: Gefühle retten euch nicht – sie töten euch.«