Kapitel 33 – Kaia
Der Duft, der an ihre Nase drang, erinnerte an Stiefmütterchen. An einen staubigen Feldweg. An den Spaziergang, den sie mit Reas unternommen hatte. In einer anderen Welt, in einem anderen Leben.
Kaia blinzelte die Benommenheit weg. Sie sah Reas’ Gesicht über ihrem. Seine Augen weiteten sich. Er drückte einen hastigen Kuss auf ihre Stirn und bettete sie sanft auf die weiche Erde. Nein, nicht auf die Erde. Wo eben noch verbrannte und geflutete Felder waren, wuchs Gras, dessen lange, weiche Halme Kaias Haut kitzelten. Kaia hielt den Schal auf ihren Hals gedrückt und richtete sich vorsichtig in eine sitzende Position auf. Ihr Vater stützte sie, und gemeinsam sahen sie sich ungläubig um.
Auf dem Feld wuchsen weiß blühende Kräuter, so weit das Auge reichte. Fiora war schon dabei, die Blüten zu pflücken. Kaia sah genauer hin. Schafgarbe und Hirtentäschel, als hätte jemand gespürt, was sie jetzt brauchte, um ihre Wunde zu versorgen. Träumte sie? War sie wieder bewusstlos geworden? Lag sie im Sterben, und das hier war Hemera? Sogar Reas und seine Brüder waren hier. Sie hielten einen anderen Mann in den Armen, dessen blonde Strähnen sich im warmen Frühlingswind mit schwarzen und silbernen mischten.
Reas löste sich aus der Umarmung und kam zurück zu Kaia. Seine Augen strahlten in hellstem Silber, das im Sonnenaufgang die bunten Farben des Himmels zurückwarf. »Mein Bruder ist zurück«, sagte er. »Zephyros, der Westwind. Er brachte den Frühling – ein bisschen verfrüht, aber ich schätze, auf den richtigen Gang der Jahreszeiten kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Er lachte, und der Ton von hellen Glöckchen klingelte über
die Felder. »Die Kräuter werden dir helfen. Fiora bereitet schon einen Umschlag.« Er strich mit den Fingern über Kaias Wange und ihre Lippen. Dann näherte er sein Gesicht dem ihren und küsste sie zärtlich. Er löste sich aus dem Kuss, sah ihr noch einmal in die Augen und nahm ihr vorsichtig den Schal ab. Er runzelte die Stirn und leichte Besorgnis lag in seinem Blick.
Sie beugte sich zu ihm. »Angst gehört dazu«, erinnerte sie ihn. Ein weiterer Kuss. »Die Liebe hilft uns, mit der Angst zu leben.«
Reas lächelte. Er ging zu Fiora, die mit dem Messergriff die Blüten zerdrückte und anschließend die Paste auf den Schal strich. Reas legte Kaia den frischen Verband an und küsste sie noch einmal. »Ich will gar nicht mehr aufhören, dich zu küssen«, murmelte er. Sein Atem strich über ihre Lippen und ihre Wangen, und sie wollte sich an ihn schmiegen und all die Menschen – und Götter – ausblenden, die um sie herum standen und ihnen zusahen.
Reas schien das Gleiche zu denken. Er erhob sich, ging hinüber zu seinen Brüdern und winkte ihnen, mit herüberzukommen. Kaia kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Reas hatte von seinen Brüdern erzählt, aber sie hatte nie erwartet, deren Bekanntschaft zu machen, vor allem nicht in ihrem jetzigen Zustand.
»Kaia? Das ist meine Familie. Notos und Euros … und Zephyros.«
Der blonde Mann trat aus dem Schatten seiner Brüder und verneigte sich vor Kaia. »Ihr habt meinen Bruder gelehrt, zu lieben und auf die Kraft der Liebe zu vertrauen. Ich gebe zu, am Ende habe selbst ich gezweifelt, ob er es schaffen würde, aber wenn ich Euch sehe, weiß ich, warum er über sich hinauswachsen konnte.« Er nahm Kaias Hand und drückte einen Kuss darauf.
»Finger weg«, knurrte Reas. »Suche dir eine andere, der du schöne Augen machen kannst. Kaia gehört zu mir.«
Zephyros lachte, und die Glöckchen in seiner Stimme klangen noch heller als die von Reas – wenn das überhaupt möglich war.
Reas betrachtete Zephyros mit zusammengekniffenen Augen. »Warum warst du eigentlich verschwunden und hast mich allein zurückgelassen? Ich hätte deine Hilfe brauchen können.«
Sein Bruder lächelte. »Ich bin kein Kämpfer, Reas. Meine Waffe ist die Liebe, und die allein kann leider nicht gegen das Übel ankommen, das die Angst sät. Ich bin zu menschlich geworden, lange vor dir.«
Nun waren es alle Brüder, die Zephyros erstaunt anblickten. Er zuckte die Schultern. »Ich habe etwas Ähnliches durch wie Reas, es ist schon lange her, gleich zu Anbeginn der Zeit. Hätte ich es euch erzählt, hättet ihr mich getadelt oder verspottet. Habt ihr euch nie gefragt, warum der Frühling in den Herzen der Menschen mit dem Wiedererwachen der Liebe verbunden ist? Nun, meine Menschwerdung ist der Grund. Wir waren schon einmal an dem Punkt, an dem Vala und Hemera auseinandertrieben, und nur durch Liebe konnte ich die Welten zusammenhalten. Ihr könnt euch nicht erinnern, ihr wart zu jung. Die Tage des ewigen Frühlings waren mit eurer Geburt vorbei, und ich warte schon sehr lange auf den jetzigen Moment, an dem einer von euch ein Kind Valas wird.«
Er lächelte Reas an. »Ich hätte mit jedem der beiden anderen gerechnet, aber nicht mit dir. Der Nordwind …« Er schüttelte lachend den Kopf. »Nun, wie auch immer, wir haben es überlebt und werden so lange in Frieden leben, bis Euros und Notos all das vergessen haben. Dann werden wir wieder an diesen Punkt kommen. Aber das ist noch lange hin, und es werden viele Jahreszeiten ins Land gehen. Feiern wir die Jahre, die vor uns liegen.«
Er reichte Reas einen Strauß Frühlingsblumen, die mit den Farben des Sonnenaufgangs um die Wette strahlten. Reas gab sie an Kaia weiter, die ihr Gesicht darin vergrub und tief den
süßen Duft einatmete. »Komm, Liebste.« Er hob sie hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als ein kleines Kind. »Wo sollen wir hin? So gern ich würde – ich nehme dich nicht mit nach Hemera.«
Sie kicherte. »Danke, das möchte ich auch nicht. Allerdings weiß ich nicht, wie es nun weitergehen soll.«
Felis meldete sich zu Wort: »Ich würde euch mit zu mir nehmen – ich habe ein kleines Haus hier im Dorf – allerdings wird es schon mit Fiora und mir recht eng. Es besteht nur aus einem einzigen Raum«, fügte er verlegen hinzu.
Kaia hob die Augenbrauen. »Ihr beide? Fiora, was … Ich dachte, du hättest den Männern abgeschworen? Hast du nicht gesagt, du würdest nie wieder einen Mann in dein Bett lassen?«
»Werde ich auch nicht.« Fiora hakte sich bei Felis unter. »Mein zukünftiger Mann hat daran ebenso wenig Interesse wie ich. Alles, was wir wollen, ist, in Frieden zu leben. Und wenn wir dafür ein Ehepaar spielen, soll es mir recht sein. Ich habe wenig Lust auf die Alternativen.«
»Ich auch nicht.« Felis warf Maius einen finsteren Blick zu. »Ich habe gesehen, was die rechtschaffene Bevölkerung mit Leuten wie mir macht. Irgendwann wird die Menschheit so weit sein, aber jetzt noch nicht.«
Kaia lächelte. »Nun, dann gratuliere ich herzlich zur Verlobung. Ladet uns zur Hochzeit ein, ja?«
Fiora verzog gespielt entrüstet das Gesicht. Felis lachte und umarmte sie.
Der Pfarrer erhob sich. »Ich bitte um Verzeihung, Felis, für das, was ich dir angetan habe. Ich bin mehr als traditionell aufgewachsen und ich … ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Ich kann es immer noch nicht, um ehrlich zu sein. Wenn ihr beide mir vergeben könnt … und es mir gestattet … würde ich euch trauen. In der … in der Kirche.« Reas spürte, wie
viel Überwindung es Maius kostete, diese Worte auszusprechen, und er flehte im Stillen, dass Felis und Fiora annehmen würden.
Die beiden sahen sich an und schienen gänzlich ohne Worte zu einem Einverständnis gekommen zu sein. »Einverstanden«, sagte Felis. Er streckte Maius seine Hand hin.
Dieser zögerte einen winzigen Augenblick, dann ergriff er sie. »Glückwunsch zur Verlobung. Auch dir, Fiora.« Er schüttelte ebenfalls Fioras Hand.
Felis legte den Arm um Fiora und führte sie zurück zum Dorf. Reas und Kaia sahen ihnen hinterher.
Maius sagte: »Es … hm, es ist ein wenig kompliziert, wenn keiner dich sehen kann, Reas … Aber ich würde gern mit meiner Tochter in unser Haus zurückkehren und dort einige Dinge verändern. Du bist herzlich eingeladen. Wir müssen nur einen Weg finden, wie du … nun … wie wir es den Frauen klarmachen, dass meine Tochter einen unsichtbaren Verlobten hat. Wir können sie nicht von heute auf morgen dazu bringen, wieder den alten Glauben anzunehmen und dich zu sehen.«
»Das dürfte kein Problem sein«, warf Zephyros ein. »Reas ist genug Mensch, dass sie ihn sehen, genauso, wie die Menschen mich sehen. Ich komme gern mit und helfe, wo ich kann. Unsere Brüder werden noch nicht von Menschen wahrgenommen, aber ich glaube –« Er wandte sich an Notos, der sich immer noch einen Körper mit Euros teilte. »– ich glaube, die beiden müssen erst einmal ganz andere Dinge klären.« Er grinste.
Notos verbeugte sich. »Wir gehen nach Hemera«, sagte er. »Ich denke, dort wird Arbeit auf uns warten. Und Euros kann sich endlich einen neuen Körper beschaffen. Ich liebe dich, Bruder, aber langsam geht mir das hier zu weit.« Er verschwand.
Zephyros setzte sich in Bewegung, gefolgt von Maius und Reas, der Kaia trug. Sie kuschelte sich an seine Brust und ließ sich von dem sanften Schaukeln seiner Schritte in den Schlaf wiegen.
Als Kaia die Augen öffnete, waren sie schon fast am Ende des Feldweges, der auf den Kirchplatz führte. Zephyros ging immer noch voraus, und unter seinen Schritten verwandelte sich der Schlamm, der im Herbst die Straßen überflutet hatte und anschließend vom Schnee bedeckt worden war, in fruchtbare Erde, aus der Frühlingsblumen trieben. Er wandte sich zu den anderen um und lächelte. »Ein wenig Schönheit und Hoffnung brauchen die Menschen, bevor ich Platz für das Getreide mache. Ich denke, Euros wird nicht mehr lange brauchen, bis er einen neuen Körper hat. Dann kann Notos seine Kräfte in den Griff bekommen und Valas Kornspeicher wieder füllen.«
Sie gingen über die Blumenwiese, die das ganze Dorf durchzog. Überall kamen die Menschen aus ihren Häusern und deuteten ungläubig auf die Blumen. Kein Wunder. Zu Beginn der Nacht – war wirklich erst eine Nacht vergangen? – war das Leben im Dorf unter gewaltigen Schneemassen versunken, wie zuvor unter einer Schlammlawine. Nun sprossen Blumen in allen Farben des Regenbogens. Kinder hatten weniger Probleme, das rasche Kommen des Frühlings zu begreifen. Sie tollten auf den Wiesen, pflückten Blumen und flochten Kränze, und einige vorwitzige Kinder hängten sich an Zephyros’ wehenden Mantel und bettelten darum, auf den Arm genommen zu werden. Er lachte sein glockenhelles Lachen und führte weiter die Prozession an, mit einem Kind auf jedem Arm und einem auf seinen Schultern. Kaia wunderte sich, wie sein schmaler Körper die Last tragen konnte, doch offensichtlich galten die Gesetze der Menschen nicht für menschgewordene Götter. Reas hatte sie schließlich auch schon den ganzen Weg getragen, und sie wog sicher mehr als ein Kind. Allerdings wollte sie, wie die Kinder, die Blumen unter ihren nackten Füßen spüren.
»Lass mich runter, Liebster«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Reas setzte sie ab, und sie grub ihre Zehen in die weiche, warme
Erde. Der Duft der Blumen hüllte sie ein, und sie holte tief Luft, als wäre dies der letzte Atemzug, den sie je tun würde. Aber es war nur der Anfang. Der Anfang eines neuen Lebens, mit einer neuen Familie. Sie hatte einen Vater, der fest entschlossen schien, seine Taten wiedergutzumachen. Eben kniete er sich auf die Wiese zu spielenden Kindern und ließ sich von einem kleinen Jungen einen Blumenkranz auf den Kopf setzen. Von dem verbitterten Mann, der zu Phobos’ Marionette geworden war, war nichts mehr übrig, obwohl Phobos nicht verschwunden war. Er war ein Teil von ihnen allen, doch nichts, das man fürchten musste. Angst konnte beschützen, sie musste nicht lähmen. Wenn sie alle ihre Herzen für Phobos öffneten, ihm jedoch nicht gestatteten, sie zu beherrschen, konnten sie mit ihm leben und mussten ihn nicht bekämpfen.
Kaias Blick wanderte von ihrem Vater zu Reas. Sie trat an den Mann mit dem langen, grauen Haar heran und legte ihre Arme um ihn. Seine silbernen Augen reflektierten die goldene Morgensonne, doch all dies war überstrahlt von dem Glück, das aus ihnen schien. Dieses Strahlen würde nie erlöschen, es würde immer an ihrer Seite sein und den Weg durch all die dunklen Erinnerungen, die es aufzuarbeiten galt, weisen.
Kaias Blick wanderte zu seinen vollen Lippen, die leicht geöffnet waren. Sie schloss die Augen. Sie spürte, wie seine kühle Haut auf sie abstrahlte, noch bevor er sie berührte. Dann streifte sie sein Atem, der nach Schnee roch. Seine Lippen küssten ihre Stirn, ihre Augen, dann wanderten sie sacht über ihre Wange hinunter zu ihrem Mund. Sie strichen sanft über ihre Lippen, vorsichtig, fragend. Sie öffnete ihre Lippen und hoffte, das würde ihm als Antwort genügen.
Es genügte. Sein Mund presste sich mit der unterdrückten Leidenschaft eines ganzen, ewigen Lebens auf ihren. Sie versanken in einem Kuss, der sie der Welt und den Menschen
um sie herum entführte in ein Land, in dem nur sie beide lebten, in dem nur dieser Moment zählte. Und dieser Moment war ewig.