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Catalina
Wir hatten noch nicht ganz das Haus betreten, als mein Vater auch schon am oberen Treppenabsatz auftauchte. Als er mich sah, erhellte ein wirklich strahlendes Lächeln sein Gesicht.
»Catalina, mi hija !« Er breitete die Arme aus und kam auf mich zu.
Meine schlechte Laune verpuffte ein wenig, während ich meinen Vater betrachtete. Er trug eine legere weiße Leinenhose und ein hellblaues Hemd, das am Kragen nicht ganz zugeknöpft war. Die braunen Locken waren ein wenig zerzaust, und wenn man ihm noch einen Strohhut aufgesetzt hätte, hätte er wie der typische Urlauber ausgesehen. Aber er war kein Urlauber. Nein, stattdessen war er der mächtigste Drogenboss in Mexiko City.
Allerdings hatte ich das nie in ihm gesehen. Für mich war er immer ein liebender und fürsorglicher Vater gewesen. Ich wusste, dass ich das Licht seines Lebens war. Nach dem Tod meiner Mutter war ich alles, was ihm noch etwas bedeutete, und genau deswegen war ich auch sein größter Schwachpunkt. Was der Grund dafür war, warum mir ein zwei Meter großer, tätowierter Schatten überallhin folgte.
Ich ließ mich von meinem Vater in die Arme nehmen und atmete den vertrauten Duft seines Aftershaves ein, gemischt mit dem Geruch nach teuren Zigarren. Er griff nach meinen Schultern und hielt mich ein wenig von sich entfernt, um mir ins Gesicht blicken zu können.
»Wie war deine Nacht, hija
Ich warf einen bedeutungsvollen Blick über meine Schulter, wo Santiago stand. »Sie war gut, bis ich etwas unsanft aus dem Club gezogen wurde.«
Mein Vater grinste. »Er macht doch nur seinen Job, Lina.«
»Ja, und den macht er sehr gründlich«, kommentierte ich mit einem Augenrollen.
Santiago räusperte sich, und der Ausdruck auf dem Gesicht meines Vaters wechselte. Er verwandelte sich von einem liebevollen Vater in einen skrupellosen Drogenboss.
»Am besten gehst du jetzt ins Bett, Lina.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut.«
»Natürlich, mi padre. Te quiero
Ich spürte Santiagos Blick auf mir, als ich mich umdrehte und durch eine der Türen in Richtung Küche verschwand. Ich war noch zu aufgedreht von den Ereignissen im Club und dem plötzlichen Wiedersehen mit Santiago, als dass ich jetzt einfach so schlafen gehen könnte. Außerdem war ich noch immer angepisst, dass niemand wirklich mit mir redete und ich nicht die geringste Ahnung hatte, was hier wirklich vor sich ging.
Vor den großen Fensterscheiben, die den Blick hinaus in den Garten freigaben, blieb ich stehen. Die Terrasse mit den hellen Terrakottafliesen wurde von den in den Boden eingelassenen Lampen erhellt. Auf einer der weißen Liegen lag noch das türkisfarbene Handtuch, das ich heute Morgen benutzt hatte. Links davon stand der große Holztisch, an dem ganz gemütlich eine Großfamilie Platz finden konnte. Dahinter der hochmoderne Grill, an den sich eine steinerne Theke mitsamt einer kleinen Küchenzeile anschloss. Man konnte sich ganz leicht vorstellen, wie mein Vater an dem Grill stand und die Familie bekochte. Und solche Mittage gab es wirklich. Nur dass die Familie, die an dem großen Tisch saß, aus Drogendealern und Killern bestand. Nicht gerade das gemütliche Familienessen, das man sich normalerweise vorstellte, oder?
Aber was war eigentlich schon normal? Für mich war der Grillabend mit Kriminellen normal. So war ich aufgewachsen. Ich war schon immer Teil dieser Familie gewesen. Sie war alles, was ich hatte. Für mich war es normal, dass neben mir ein bewaffneter Mann stand und auf mich aufpasste, während ich mit meinen Puppen spielte. Ich kannte nichts anderes, und trotzdem wusste ich nicht alles, weil niemand mir die vollständige Wahrheit sagte.
Seufzend wandte ich mich vom Anblick des perfekt gemähten Rasens und der Dahliensträucher ab und ging zum Kühlschrank, um mir ein Sandwich zu machen.
Alle hier versuchten immer, mich zu beschützen. Und was hatte ich davon? Eine Vierundzwanzig-Stunden-Überwachung und nur einen Teil der Wahrheit.
Ich holte ein Messer aus der Schublade und betrachtete die Klinge im Schein der Deckenleuchte. So gut wie jeder Mensch in diesem Haus wusste, wie man damit jemanden töten konnte. Mir hatte man stattdessen beigebracht, mich damit zu verteidigen. Meinen Angreifer so lange in Schach zu halten, bis meine Rettung eingetroffen war. Oder jemanden gerade schwer genug zu verletzen, dass er mir nicht mehr gefährlich werden konnte. Wieder war ich zwar Teil der Familie, wurde aber doch außen vor gelassen. Ich konnte die Stimme meines Vaters im Kopf hören:
»Wir machen das nur zu deinem Schutz, Lina.«
Ich verdrehte die Augen, während ich die Zutaten wieder wegräumte, um mich danach an die Küchenzeile zu lehnen und mein Sandwich zu essen.
Manchmal fragte ich mich, wie es wohl war, in einer normalen Familie aufzuwachsen. Ohne Waffen, ohne Geheimnisse und ohne dauerhafte Überwachung. Ich konnte mich nicht an einen Tag in meinem Leben erinnern, an dem ich alleine gewesen war. Wirklich alleine. Einfach so vor die Tür gehen zu können, sich in ein Eiscafé zu setzen und die Menschen zu beobachten war völlig utopisch für mich. Selbst jetzt, in diesem Moment, in diesem Haus, in dem die Fenster durch kugelsicheres Glas ersetzt worden waren, konnte ich nicht einfach so auf die Terrasse gehen. Ich hatte es schon ausprobiert. Es würde keine Minute dauern, bis entweder Santiago oder eine der Wachen neben mir auf der Terrasse auftauchen würde. Ich war einfach so verdammt wütend und frustriert. Dieser Abend war ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte doch einfach nur eine Nacht lang tanzen wollen, um etwas von dem ganzen Stress loszuwerden. Stattdessen war ich aus dem Club gezerrt, angeschwiegen und später ins Bett geschickt worden. Als wäre ich ein dummes kleines Mädchen.
Ich hatte diese ganze Situation so satt. Ob ich irgendwann einmal ein selbstbestimmtes Leben würde führen können? Mein Blick glitt hinaus in den Garten, und in der Entfernung konnte ich die hohe Mauer ausmachen, die unser gesamtes Anwesen umgab. Nein, ein selbstbestimmtes Leben stand für mich nicht auf dem Plan.
Seufzend stellte ich meinen Teller in die Spüle und nahm mir ein Glas, um mir etwas von dem selbst gemachten Eistee einzuschenken.
»Du solltest doch ins Bett gehen.«
Ich zuckte zusammen, wirbelte auf dem Absatz herum und starrte in Santiagos dunkelbraune Augen. Das Glas glitt aus meiner Hand, aber anders als erwartet, hörte ich es nicht auf dem Boden zersplittern. Als ich nach unten blickte, sah ich es in Santiagos Hand. Die Reflexe dieses Mannes waren unglaublich.
Er reichte mir das Glas zurück, und ich nahm es mit leicht zitternden Fingern entgegen, trank einen Schluck von dem kühlen Eistee, um mich etwas zu beruhigen.
»Ich war noch nicht müde.«
Sein Blick scannte einmal den Raum, als würde der nächste Angreifer direkt hier in der Küche auf uns warten, und das nervte mich nur noch mehr.
»Und jetzt bist du es?«
»Nein«, gab ich zurück und klang dabei schnippischer als beabsichtigt.
Ich drehte mich von ihm weg, um mein Geschirr abzuwaschen. Kommentarlos stellte Santiago sich neben mich und trocknete ab, räumte die benutzten Teile wieder weg.
»Hast du nicht Vorlesungen in ein paar Stunden?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Seite. »Beginnen erst am Nachmittag.«
»Du solltest jetzt trotzdem ins Bett gehen, Catalina. Es ist spät.«
Ich schnaubte verächtlich. Gab es eigentlich auch irgendjemanden in meinem Leben, der nicht ständig versuchte, mich herumzukommandieren?
»Was war das?«, fragte Santiago mit einem gewissen gefährlichen Unterton in der Stimme, den ich schon öfter bei ihm gehört hatte. Diesen Ton schlug er immer dann an, wenn ich seine Geduld strapazierte. Tja, Pech gehabt. Meine Geduld war heute auch strapaziert.
»Nichts.«
»Catalina …«
Ich sah ihn an und zuckte zusammen, weil ich nicht bemerkt hatte, dass er näher gekommen war und uns nur noch einige Zentimeter trennten.
»Was?«, fragte ich.
Einen Moment lang blickten wir uns nur in die Augen, und ich hätte beinahe schwören können, dass da etwas in seinem Blick lag. Etwas Neues, Heißes … Hungriges. Aber dann blinzelte er, und der Augenblick war vorüber. Ich war mal wieder Opfer meiner eigenen Fantasie geworden. Aber egal wie sehr ich mir auch wünschte, dass es anders war, da würde nie mehr zwischen Santiago und mir sein.
»Geh ins Bett.«
Er hatte diesen kühlen, unberührten Befehlston angeschlagen, der mich immer in den Wahnsinn trieb. Und heute Nacht sorgte er dafür, dass mir endgültig der Kragen platzte.
»Weißt du was? Nein.« Santiago hob eine Augenbraue. »Ich bin es so leid, dass jeder hier meint, er könnte mich herumkommandieren, als wäre ich drei Jahre alt. Ich bin zwanzig, verdammt. Ich bin erwachsen! Fick dich, Santiago! Fickt euch alle! Ich hab die Schnauze voll!«
Ich wirbelte auf dem Absatz herum und wollte die Küche verlassen, aber ich kam nicht weit. Bevor ich wusste, was geschah, umfasste Santiago meine Schultern und knallte mich mit Wucht gegen den Kühlschrank. Ich schnappte nach Atem, als mir der plötzliche Aufprall die Luft aus den Lungen presste. Dabei wusste ich selbst in diesem Moment, dass er nur den Bruchteil seiner Kraft verwendete, weil Santiago mich niemals wirklich verletzen würde.
»Wovon hast du die Schnauze voll, Catalina?«, fragte er mich und sprach dabei gefährlich leise. »Davon, dass ich dich beschütze?« Er kam mir so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. »Davon, dass ich mit einer blutenden Wunde als Erstes zu dir komme?«
In diesem Moment wurde mir alles zu viel. Die Wut und die Frustration, die sich die ganze Nacht über angestaut hatten. Dazu Santiagos Nähe. Die Sehnsucht nach ihm, die niemals befriedigt werden würde. Ich konnte einfach nicht mehr. Es war zu viel.
Ich versuchte, mich zu befreien, aber Santiagos Griff war unnachgiebig.
»Lass mich verdammt noch mal los!«, zischte ich und drehte die Hüfte, um ihm irgendwie zu entkommen.
Fuck.
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und starrte Santiago an. Seine Pupillen waren geweitet. Sein Blick auf meinen Mund fixiert. Ich öffnete die Lippen, um tief Luft zu holen, und sein Geruch erfüllte meine Lungen.
Ich mochte zwar eine Jungfrau sein, aber ich wusste trotzdem, dass das, was sich da gerade hart gegen meinen Hüftknochen presste, eine Erektion war. Santiago hatte eine Erektion. Meinetwegen.
Das Herz drohte mir aus der Brust zu springen, mein Atem wurde immer hektischer. Er lehnte sich näher zu mir. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Santiago«, flüsterte ich.
Er blinzelte. Sein Blick wanderte von meinem Mund zu meinen Augen. Ich war mir sicher, dass er mich jeden Moment küssen würde. Mein Körper wurde nachgiebig, und ich legte ihm eine Hand auf die Brust, spürte seinen ebenmäßigen Herzschlag unter meiner Handfläche. Unser Atem vermischte sich.
Plötzlich trat Santiago zurück, als hätte er sich verbrannt. Sein Gesicht wurde wieder zu einer ausdruckslosen Maske, kurz bevor er den Blick abwandte und aus dem Fenster starrte.
»Geh ins Bett, Catalina.« Da war absolut kein Gefühl in seiner Stimme.
Scham überflutete mich. Ich hatte wirklich gedacht, dass … Ich nahm einen zittrigen Atemzug, spürte Tränen in meinen Augen brennen. Ich war wirklich dämlich. Als ob Santiago mir jemals freiwillig auf diese Art und Weise nahe sein wollte. Seine Erektion war eine rein körperliche Reaktion, die nichts zu bedeuten hatte. Sonst hätte er sich wohl kaum so angewidert von mir abgewandt.
Santiago wählte genau diesen Moment, um mich wieder anzusehen.
»Catalina …«
Ich wollte das nicht hören. Seine entschuldigenden Worte. Seine Reue. Nichts davon. Ich drehte mich um und flüchtete aus dem Raum.