Santiago
Nachdem ich Catalinas
Zimmer verlassen hatte, genehmigte ich mir eine kurze Dusche. Ein eher erfolgloser Versuch, die Sorgen der letzten Tage zu vergessen und mir von der Haut zu waschen.
Als Catalina mich gefragt hatte, wann ich das letzte Mal geschlafen hatte, hatte ich ernsthaft darüber nachdenken müssen. Und auch jetzt hatte ich die Antwort noch nicht gefunden. War es vor zwei Tagen gewesen? Drei? Oder doch schon länger? Ich wusste es nicht mehr.
Die letzten Tage waren ein einziges Durcheinander von Folter, Blut, Fragen und Antworten, die uns nicht weitergebracht hatten.
Und auch jetzt, als ich mich ins Bett legte, um meine Reserven wieder ein bisschen aufzufüllen, kamen meine Gedanken nicht zum Stillstand. Noch immer hatten wir keine Antwort darauf, was unser Feind plante, und das sorgte nicht gerade dafür, dass ich ruhig schlafen konnte.
Seufzend fuhr ich mir mit der Hand übers Gesicht, bevor ich an die Zimmerdecke starrte. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber mein Gefühl sagte mir, dass etwas Schlimmes passieren würde. Und es würde Catalina betreffen.
Da ich im Moment absolut nichts an der Situation ändern und auch die Zukunft nur bedingt beeinflussen konnte, zwang ich mich dazu, die Augen zu schließen. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, lauschte meinem Herzschlag und zwang meine Gedanken, Ruhe zu finden. Ich brauchte meine Konzentration und meine Kraft, um auf Catalina aufzupassen. Und unnötige Gedankenkarusselle hielten mich davon ab, diese Aufgabe zufriedenstellend zu bewältigen.
Außerdem war ich ein Profi. Meine Geduld war nahezu endlos. Und ich war darauf trainiert, selbst in den chaotischsten Momenten die Ruhe zu bewahren. Mich zum lang benötigten Schlaf zu zwingen war daher eine meiner leichtesten Übungen.
Ein schrilles Piepen
von meinem Handy riss mich aus dem Schlaf. Es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks, bevor mein Gehirn realisierte, was dieses Piepen zu bedeuten hatte.
Es war der Alarm für Catalinas Fenster.
Ich bemerkte kaum, wie ich aus dem Bett sprang, nach meiner Pistole griff und über den Flur in ihr Zimmer rannte. Als ich durch die Tür ins Zimmer platzte, sprang Raúl von der Couch auf, aber ich schenkte ihm keine Beachtung, sondern stürmte direkt in ihr Schlafzimmer.
Ihr Bett war leer. Das Fenster geöffnet. Sofort scannte ich alles nach Spuren eines Angriffes, aber es gab nichts, was darauf hindeutete. Und dann wäre Raúl auch wach geworden. Wie aufs Stichwort stand er plötzlich neben mir.
»Was ist los?«
Ich wirbelte zu ihm herum und konnte mich gerade noch davon abhalten, ihm die Nase zu brechen. Stattdessen boxte ich ihm einmal in den Magen. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen hielt sich meine rechte Hand den Bauch.
»Das solltest du mir verflucht noch mal beantworten können! Sie ist weg! Ihr Fenster ist offen!« Ich machte einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu. »Wieso zum Teufel hast du nichts mitbekommen?«
Ich merkte, wie sich ein roter Schleier über mein Blickfeld legte. Ein leichtes Zittern durchlief mich, und der Drang, alles kurz und klein zu schlagen, war nur wenige Sekunden von unkontrollierbar entfernt.
»Fuck, Santiago«, knurrte Raúl, und sein Blick sagte mir, dass er eigentlich zurückschlagen wollte. »Sie muss sich rausgeschlichen haben!«
»Um genau so etwas zu verhindern, solltest du Wache halten!«
Von Raúl würde ich keine Antworten erhalten. Schließlich hatte er nicht einmal bemerkt, wie sie ihr verfluchtes Zimmer verlassen hatte. Stattdessen wirbelte ich auf dem Absatz herum und stürmte den Flur hinunter. Unterwegs mobilisierte ich meine Leute und begann, Befehle zu brüllen.
»Catalina ist weggelaufen! Sucht sie! Seht euch die Bilder der Überwachungskameras an! Findet heraus, wie sie von hier verschwunden ist! Dreht die ganze verfluchte Stadt auf links, wenn es sein muss!«
Erst vor Gonzales’ Räumlichkeiten hielt ich inne. Alles in mir brannte darauf, selber nach Catalina zu suchen, aber zuerst musste ich mit ihrem Vater sprechen. Meine Faust traf auf das Holz, und ich wartete wenige Sekunden, bevor ich das Zimmer betrat.
»Gonzales!«, rief ich, während ich mich umsah. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Catalinas Vater auftauchte und mich besorgt ansah. Er brauchte nur einen Blick auf mich zu werfen, und sofort verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck.
»Was ist passiert?«
»Catalina ist verschwunden. Freiwillig.«
Gonzales fluchte ausgiebig, und es dauerte, bis er wieder ein vernünftiges Wort an mich richten konnte. Für so etwas hatte ich keine Zeit! Ja, er war ihr Vater und mein Boss, dem ich alles zu verdanken hatte, aber in diesem Moment wollte ich ihn einfach nur mit dem Kopf gegen die Wand klatschen.
»Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht«, stieß ich hervor.
Gonzales ließ sich in einem der Sessel im Wohnzimmer nieder und nahm einen tiefen, vermutlich beruhigenden Atemzug.
»Du wirst es aber herausfinden, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Sehr gut.« Gonzales rieb sich einmal über die Stirn, bevor er mich wieder ansah. »Finde sie, Santiago. Du weißt, dass es für sie im Moment viel zu gefährlich ist, alleine zu sein.«
Das wusste ich selbst, weswegen ich nicht die Zeit mit einer Antwort verschwendete, sondern einfach aus dem Zimmer lief. Das Haus war in Aufruhr, und gleichzeitig schien es wie leer gefegt, da beinahe jeder auf der Suche nach Catalina war.
Auf dem Weg nach unten tauchte Raúl neben mir auf. Noch immer verspürte ich den Drang, ihn in den Boden zu prügeln, weil Catalina unter seiner Aufsicht verschwunden war. Allerdings war das nur die Oberfläche meiner Gefühle. Darunter verbarg sich eine große Portion Wut auf mich selbst, weil ich nicht persönlich auf sie aufgepasst hatte, und noch tiefer darunter eine verzehrende Sorge, dass ihr etwas passieren könnte, solange sie nicht unter meiner Aufsicht war.
»Was ist?«, fragte ich barsch.
»Ich habe mir die Aufnahmen der Überwachungskameras angesehen. Sie ist aus ihrem Fenster geklettert. Danach zur Garage gerannt und mit ihrem Wagen verschwunden.«
Ein Funken Erleichterung durchströmte mich. Catalinas Wagen war mit einem Peilsender ausgestattet. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, öffnete die App und ortete ihren Wagen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, die sich aber wie eine Ewigkeit anfühlten, bevor ich das Auto geortet hatte. Und es sah ganz danach aus, als wäre Catalina gerade eben auf dem Weg, die Stadt zu verlassen.
»Informiere alle. Ich schicke euch die Koordinaten.«
Damit ließ ich ihn stehen und rannte aus dem Haus zu meinem eigenen Wagen. Die Reifen drehten durch, als ich vom Gelände fuhr.
Kurz nachdem ich losgefahren war,
hielt Catalina an einer mir unbekannten Adresse. In meinem Bedürfnis, noch schneller zu ihr zu kommen, drückte ich das Gaspedal bis zum Boden durch. In der Realität dauerte es vermutlich nicht besonders lange, bis ich neben Catalinas Wagen hielt und aus meinem Auto sprang, aber in meiner Wahrnehmung war ich eine Ewigkeit unterwegs.
Ich stürmte direkt zum Eingang, aber der Türsteher hielt mich auf. Knurrend packte ich ihn an der Kehle und drückte ihn gegen die Mauer in seinem Rücken, bevor ich ihn daran hochschob, bis seine Füße in der Luft baumelten.
»Sieh auf meinen Arm«, fuhr ich ihn an. Es dauerte einen Moment, bevor sich sein Blick auf das dortige Tattoo fokussierte, und ich konnte selbst in der schummerigen Beleuchtung erkennen, wie er blass wurde. Das Symbol des Ramírez-Kartells prangte dort deutlich sichtbar.
»Haben wir ein Problem?«, fragte ich.
»N … ne … nein«, brachte er gerade so hervor.
Ich ließ ihn weit genug herab, damit seine Füße wieder den Boden berührten und frischer Sauerstoff in seine Lungen strömen konnte.
»Also, vor Kurzem hat eine junge Frau diesen elenden Schuppen betreten. Lange, gewellte braune Haare. Schlank, hübsch.« Meine Hand schloss sich fester um seinen Hals. »Eine Augenweide. Und sie war alleine.« Ich sah das Erkennen in seinem Gesicht, und Aufregung durchströmte mich. Würde ich Catalina gleich wieder in meine Arme schließen können? Wenigstens für einen kurzen Moment, bevor ich ihr beibringen würde, was es bedeutete, wenn man sich meinen Regeln widersetzte.
Für einen kurzen Augenblick tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Von Catalina. Nackt. Gefesselt. Rote Striemen auf ihrer gebräunten Haut. Ein dunkles Flehen auf ihren sündigen Lippen. Ob sie mich anbetteln würde aufzuhören oder … weiterzumachen?
Aber darauf durfte ich mich jetzt nicht konzentrieren. Nicht solange ich sie nicht wieder in Sicherheit wusste.
»Du erinnerst dich an sie?«
Er brachte in dem Moment ein Nicken zustande, in dem ich am Rande wahrnahm, dass andere Autos auf den kleinen Parkplatz fuhren. Autotüren wurden geöffnet, schwere Stiefel liefen über den Kies, und Waffen wurden entsichert. Eine kleine Armee war eingetroffen, um die Prinzessin des Ramírez-Kartells wieder nach Hause zu bringen.
»Wo ist sie?«
Der Blick des Türstehers flog an mir vorbei zu meinen Leuten und wieder zurück. Ich hörte das Gemurmel der wartenden Gäste und dann, kurz nachdem sie sich die neu eingetroffenen Männer vermutlich näher angesehen hatten, wie sie sich beeilten zu verschwinden. Diese Nacht würde für den Club in jedem Fall ein Verlustgeschäft werden.
»Ich habe dir eine Frage gestellt.« Meine Stimme war ruhig und ausgeglichen. Die Ruhe vor dem Sturm.
»Sie ist verschwunden. Ist noch nicht lange her.«
Eiskalte Angst rieselte über meine Wirbelsäule und ließ meine nächsten Worte messerscharf klingen. »Was bedeutet verschwunden?«
»Ihr schien es nicht besonders gut zu gehen, aber ihr Begleiter hat sich gut um sie gekümmert und ist dann mit ihr weggefahren.«
Das Blut rauschte in meinen Ohren, die Geschwindigkeit meines Herzschlags verdoppelte sich, und ich fühlte, wie mir die Kontrolle zu entgleiten drohte.
»Santiago …« Das war Raúls Stimme. Neben mir.
Wie in Zeitlupe drehte ich den Kopf, um ihn anzusehen, und ich konnte die Angst in seinem Blick erkennen, als er den Ausdruck in meinen Augen sah. Ich war an meinen besten Tagen ein ausgeglichener Serienmörder, der vielleicht mal mordete, um aufgestauten Frust loszuwerden und sich zu beruhigen, aber ansonsten war ich eigentlich recht ruhig. Aber die Aussicht, dass Catalina entführt worden war, sorgte nicht gerade dafür, dass ich einen meiner besten Tage hatte.
Stattdessen entwickelte sich das hier zum bisher schlechtesten Tag in meinem Leben, und nicht einmal ich wusste, was ich dann alles tun würde.
»Was sollen wir tun?«
Ich atmete langsam durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. »Nehmt den ganzen Laden auseinander. Und wenn ihr jeden Nagel einzeln aus der Wand reißen müsst, ich will über jede Sekunde informiert sein, seit Catalina diesen Club betreten hat.«
»Aber –«, setzte der Türsteher an, doch ich zog einfach meine Pistole und schoss ihm in den Kopf. Blut, Knochen und Hirnmasse verteilten sich über die Wand hinter ihm und spritzten etwas auf mein Shirt.
Danach betrat ich mit meinen Leuten den Club und ließ die Hölle losbrechen. Ich schlug alles kurz und klein, was mir in den Weg kam, befragte jeden, der das Unglück hatte, mir vor die Füße zu fallen. Wenn die Antworten mich zufriedenstellten, ließ ich sie manchmal gehen. Aber viel öfter tötete ich mein Gegenüber. Egal ob Gast oder Angestellter. Und selbst wenn sie sich nicht einmal an Catalina erinnern konnten, bereitete ich ihrem Leben ein Ende. Denn nach meinem Verständnis hatte Catalina ihnen gar nicht nicht
auffallen können. Dafür war sie zu außergewöhnlich, zu schön, zu einzigartig. Und es wäre ihre verdammte Aufgabe gewesen, auf sie aufzupassen.
Wenn Catalina wenigstens innerhalb der Stadtgrenzen geblieben wäre, hätte das vielleicht sogar funktioniert. Dort kannte jeder Nachtclubbesitzer das Kartell oder gehörte sogar dazu. Sie wäre niemals unbeaufsichtigt gewesen. Aber das hatte sie natürlich auch gewusst, und vermutlich war sie genau deswegen hierhergefahren. Sie hatte allein sein wollen.
Fuck!
Als niemand mehr anwesend oder am Leben war, setzte ich mich auf den letzten intakten Barhocker und schnappte mir eine Flasche Tequila von hinter der Theke. Leichen lagen auf dem Fußboden verstreut. Es stank nach Qualm, Schweiß und Tod. Beinahe die gesamte Einrichtung war zertrümmert. Alle, die jetzt noch standen, gehörten zu mir.
Ich starrte die klare Flüssigkeit an. Das Bedürfnis, mich besinnungslos zu betrinken, war stark. Aber die Notwendigkeit, Catalina in Sicherheit zu bringen, war stärker. Und meine Sinne würden unter Alkoholeinfluss nicht mehr so gut funktionieren wie ohne.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber schließlich schob jemand ein Tablet vor meine Nase, und eine verpixelte Videoaufnahme flackerte über den Bildschirm. Aber nicht mal die schlechteste Qualität auf dieser Welt hätte mich davon abhalten können, Catalina zu erkennen.
Wie sie Arm in Arm mit einem fremden jungen Mann den Club verließ.
Die Glasflasche in meiner Hand gab ein protestierendes Knirschen von sich, als ich mit der Hand zudrückte. Vorsichtig lockerte ich meinen Griff wieder und stellte sie beiseite.
»Das war jetzt vor zehn Minuten«, teilte Raúl mir mit.
Ich wandte meinen Blick nicht von der körnigen Aufnahme von Catalina ab. Inzwischen saß sie gemeinsam mit diesem Typen, der bereits sein Todesurteil unterschrieben hatte, auf einer Bank. Er streichelte über ihren Rücken. Ich kniff die Augen zusammen, als Catalina, meine
Catalina, plötzlich in sich zusammensackte.
»Vielleicht hat er ihr etwas in den Drink getan?«
Ich musste um Fassung ringen. »Sieht danach aus«, presste ich hervor.
Wir beobachteten beide, wie eine scheinbar leblose Catalina von dem Fremden hochgehoben und weggetragen wurde, außer Reichweite der Kameras.
»Was jetzt?«, fragte Raúl, als der Bildschirm dunkel wurde.
Ich schloss die Augen, sah Catalina vor mir, wie sie mich anlächelte. Mir sagte, dass sie sich bei mir immer sicher fühlte. Es war, als würde mir jemand mit einem rostigen Messer in den Bauch stechen. Mehrfach.
»Lass die gesamte Gegend absuchen. Mach jede Kamera ausfindig. Dreht jeden Stein um. Ich will wissen, wohin dieser verfluchte Wichser mit ihr verschwunden ist. Schick das Video an mich und unsere Techniker. Sie sollen das verdammte Ding auseinandernehmen.«
Einen Moment herrschte Schweigen. »Und was wirst du tun?«
»Ich fahre zurück und spreche mit Gonzales.«
Catalina
Die Kälte weckte mich auf.
Dieses Mal war es komplett dunkel. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Dafür war ich mir aber verdammt sicher, dass zumindest ein mildes Schlafmittel in meinem Wasser gewesen war. Denn nach der kryptischen Höllen-Ansage meines Entführers war ich beinahe sofort eingeschlafen. Ich hatte nicht einmal mehr mitbekommen, wie er den Container wieder verlassen hatte.
Blind tastete ich nach der Wasserflasche, öffnete sie und warf die geöffnete Flasche von mir weg. Scheppernd krachte sie gegen die Metallwand, bevor sich der Inhalt auf den Boden ergoss. Wenigstens würde ich so nicht mehr in Versuchung kommen, das Wasser zu trinken. Denn wenn ich eins mit Sicherheit wusste, dann, dass ich alle meine Sinne bei vollster Klarheit brauchen würde, wenn ich diese Sache hier überstehen wollte.
Ich schloss die Augen wieder, zog die Knie an die Brust und umfasste sie mit meinen Armen, machte mich so klein wie möglich.
»Santiago, wo bist du nur?«