9
Santiago
Bereits als ich das Haus betrat, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Die Stimmung war angespannt. Als würde ein unsichtbares Gewicht über allem liegen. Und es war viel zu ruhig. Es sollte viel mehr Betrieb herrschen. Stattdessen konnte ich niemanden sehen.
Das miese Gefühl, seit ich wusste, dass Catalina in Garcías Gewalt war, verstärkte sich mit jedem Schritt, den ich in Richtung von Gonzales’ Büro machte. Die Tür war nur angelehnt, und das Erste, das ich wahrnahm, war Catalinas Stimme.
»Mehr hast du nicht drauf, Arschloch?«
Ich stürmte in das Büro, bereit, jeden und alles abzuschlachten, der sich zwischen sie und mich stellte. Aber sie war nicht da. Stattdessen saß Gonzales an seinem Schreibtisch. Den Ellbogen auf die Armlehne des Stuhls gestützt, das Kinn in seiner Hand. Neben dem Laptop auf dem Schreibtisch stand eine offene Flasche Tequila, aus der – in Anbetracht der Tatsache, dass die Sonne gerade erst aufgegangen war – bereits eine beeindruckende Menge fehlte.
»Santiago.«
Ich kannte den Blick, mit dem Gonzales mich jetzt ansah. Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, als seine geliebte Frau gestorben war. Und in diesem Moment gefror mein Herz zu Eis. Schweigend stand ich im Raum, bis Gonzales mit einer schwachen Geste auf den Bildschirm deutete.
»Sieh dir das an.«
Ich versuchte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, nicht in Panik zu verfallen und generell nicht meinen Gefühlen die Kontrolle über die Situation zu geben. Gemessenen Schrittes trat ich hinter den Schreibtisch und stellte mich neben Gonzales, der dann das Video neu startete.
Catalina saß in der Mitte eines komplett abgedunkelten Raumes. Eine helle Lampe war auf sie gerichtet und sorgte dafür, dass sie den Blick abgewandt hielt, weil das Licht sie so stark blendete. Und dadurch, dass sie mit Händen und Füßen an einen Stuhl gefesselt war, konnte sie sich dem Ganzen auch nicht entziehen. Ich kannte diese Technik, hatte sie selbst schon mehrfach angewandt. Durch die Fesseln zwang ich mein Opfer in eine hilflose, unterwürfige Position, und durch das Blenden nahm ich ihm jegliche Orientierung und die Chance, sich auf einen eventuellen Angriff vorzubereiten.
Sie, meine Catalina, jetzt in dieser Situation zu sehen fühlte sich an, als würde jemand meine Eingeweide zusammendrücken.
Was das Ganze noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass sie nur ein dunkles Shirt und ihre Unterwäsche trug. Noch etwas, das ich selbst gerne tat, um meine Gefangenen zu demütigen und ihre Opferrolle noch zu verstärken.
Ich war noch nicht fertig damit zu verarbeiten, Catalina in diesem Zustand zu sehen, als ich am Rande des Bildschirms eine schemenhafte Gestalt entdeckte. Automatisch spannte ich mich an, bereit, sie zu verteidigen, obwohl mein Verstand wusste, dass es nichts gab, was ich tun konnte. Alles, was ich sah, war schon längst passiert.
Hilflos musste ich mit ansehen, wie ihr ins Gesicht geschlagen wurde. Wie ihr Kopf zur Seite flog. Die Lippe aufplatzte. Als sie Blut spuckte, ballte ich beide Hände zu Fäusten, um mich davon abzuhalten, den Laptop in seine Einzelteile zu zerlegen.
»Mehr hast du nicht drauf, Arschloch?«
Das Grinsen in ihrem Gesicht sprach eine eindeutige Sprache, und der Ausdruck in ihren Augen sagte klar und deutlich ›Fick dich!‹. Es hatte selten einen Moment gegeben, in dem ich stolzer auf sie gewesen war.
Allerdings wurde es danach noch schlimmer. Schläge gegen ihren ungeschützten Bauch. Es wurde so hart an ihren Haaren gezogen, dass ihr Kopf in einem schmerzhaften Winkel nach hinten gebogen war. Sie wurde gewürgt. Weitere Schläge gegen ihre empfindliche Körpermitte. Und ich konnte schon jetzt die blauen Flecken sehen, die sich bald auf ihrer makellosen Haut bilden würden.
Mit jeder Sekunde, die verging, stieg meine Körpertemperatur. Zorn, wie ich ihn noch nie zuvor gespürt hatte, bemächtigte sich meiner und verbrannte jeden klaren, logischen Gedanken zu einem kleinen Häufchen Asche. Ich zitterte, weil ich mich so stark anstrengte, einfach nur stillzustehen. Aber als der Bildschirm plötzlich und ohne Vorwarnung schwarz wurde, konnte ich mich nicht länger beherrschen. Ich schaffte es noch, ein paar Schritte zu machen, bevor ich meine Faust durch die Wand hämmerte. Putz bröckelte, Holz gab nach, Tapete riss.
Schwer atmend, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen, stand ich da und schloss einfach für ein paar Sekunden die Augen. Aber das machte es nur schlimmer, denn alles, was ich sah, war eine gefesselte Catalina, die geschlagen wurde. Also hob ich die Lider wieder und zog meine Faust aus der Wand. Die Haut an den Knöcheln war aufgeplatzt, und Blut tropfte von meinen Fingern.
Ich wischte meine Hand an der Jeans ab und drehte mich zu Gonzales um. Die gleiche Verzweiflung, die ich spürte, zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht.
»Das Video kam vor etwa dreißig Minuten. Ein Paketbote hat den Umschlag am Tor abgegeben.«
»Was habt ihr mit dem Boten gemacht?«
»Raúl hat ihn befragt. Aber ihm wurde die DVD selber zugeschickt, das Bargeld lag mit im Umschlag, mit der Anweisung, die DVD hier abzugeben. Nichts, was uns weiterhelfen würde.«
Mit beiden Händen rieb ich mir übers Gesicht und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Allerdings war das schwieriger, als es sein sollte. Im Moment fühlte ich mich wie ein verfluchter Anfänger, der seinen ersten Job erhalten und damit vollkommen überfordert war. Und nicht wie der eiskalte Profi, der ich eigentlich war.
»Was sollen wir jetzt tun, Santiago? Es gab keine Forderungen. Nichts. Nur das Video.«
Ich ging wieder zurück zum Schreibtisch und griff nach dem Laptop. »Wir schicken das Video an unseren IT-Spezialisten. Er soll sehen, was er aus der Datei an Informationen gewinnen kann. Und ich werde es mir auch noch ein paar Mal ansehen. Vielleicht kann ich irgendwelche Details erkennen.« Während ich das sagte, verschickte ich die entsprechenden E-Mails und zwang mich gleichzeitig dazu, Ruhe zu bewahren. Der einzige Grund, warum das auch nur halbwegs funktionierte, war, dass es Catalina absolut nicht half, wenn ich jetzt die Nerven verlor.
»Sie haben mein kleines Mädchen …« Gonzales’ Stimme war voller Schmerz. Und kurz überlegte ich, ob ich ihm die Tatsache verschweigen sollte, dass ich wusste, wer sie hatte. Aber das würde ihm auch nicht helfen, und er war mein Boss. Ich war mir ziemlich sicher, sollte er später erfahren, dass ich ihm Informationen, die Catalinas Entführung betrafen, verschwiegen hatte, würde er mir die Eier abschneiden. Und das mit Recht.
Ich schloss den Laptop und richtete mich auf, sah Gonzales direkt ins Gesicht. »Ich weiß, wer sie hat.«
Er schnappte nach Luft und sah mich aufgeregt an. »Wer ist es? Wer sind diese Bastarde? Ich schwöre, ich werde …«
»Daniel García.«
Gonzales stoppte und sah aus, als hätte man ihm gerade mit voller Wucht in den Magen geboxt. Ich nahm einen beruhigenden Atemzug.
»Ich habe vorhin jemanden getötet, der mir einen Namen gegeben hat. Alarico Morrell. Angeblich einer von Garcías Leuten. Er soll Catalina aus dem Club entführt haben.«
»Aber … Wenn das stimmt … Wenn sie sich wirklich in Daniels Gewalt befindet …«
Gonzales brauchte den Satz nicht zu beenden. Wir wussten beide, dass es dann nicht gut aussah.
»Ich weiß. Aber García ist nicht dämlich. Er weiß, dass wir jeden einzelnen seiner Männer abschlachten werden, wenn sie Catalina töten. Er will etwas und wird sie als Druckmittel einsetzen. Sie zu töten bringt ihm gar nichts.« Das war die einzige Hoffnung, die wir hatten. Die einzige Hoffnung, an die ich mich klammern konnte.
Gonzales ließ langsam den Atem entweichen, und so etwas wie Resignation zeigte sich in seinen Gesichtszügen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte ich ihm sein Alter ansehen. Vor mir stand ein Mann, der bereits mehr Dunkelheit in seinem Leben gesehen hatte, als andere sich auch nur vorstellen konnten.
»Wir wissen beide, dass es verdammt viele Möglichkeiten zwischen unversehrt sein und Tod gibt.«
Ich ballte meine verletzte Hand zur Faust. Der Schmerz half, meine Wut im Zaum zu halten. Das wusste ich.
Denn es war mein verdammter Job, jede einzelne dieser Möglichkeiten zu kennen.
Auf dem Weg zurück in mein Zimmer hatte ich Raúl angerufen und ihm den Auftrag erteilt, jedes noch so kleine Detail über Alarico Morrell herauszufinden. Ich wollte absolut alles über diesen Mann wissen. Gleichzeitig sollte er dafür sorgen, dass unsere Informationen über die Infrastruktur der Garcías auf dem neuesten Stand waren, damit alles bereit war, wenn wir zuschlagen wollten.
Nach meiner Dusche saß ich jetzt auf der Couch und sah mir zum wiederholten Male an, wie Catalina geschlagen wurde. Es fühlte sich an, als würden diese Schläge mich treffen und nicht sie. Und ich hätte absolut alles dafür getan, jedes Versprechen gegeben und jeden Gefallen eingefordert, um mit ihr tauschen zu können. Sie war so zart. So zerbrechlich. So unschuldig. Sie sollte sich nicht in dieser Situation befinden.
So in meinen Gedanken und eigenen Emotionen versunken, bekam ich kaum etwas von dem Video mit. Als es endete, startete ich es erneut.
Und dann noch einmal.
Und noch einmal.
Und erneut.
Immer und immer wieder. Bis sich jede Sekunde, jede Bewegung, jedes Geräusch in mein Gehirn eingebrannt hatte und meine Augen vom Starren auf den Bildschirm schmerzten. Aber ich konnte nichts Hilfreiches erkennen. Keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort, auf die Männer, die sie gefangen hielten. Ich sah keine Lücke, keine Hintertür, keinen Fehler, der mich zu Catalina führen würde.
Stattdessen sah ich ihr Blut. Die aufgeplatzten Lippen. Den Schmerz auf ihrem Gesicht, als sich die Faust wieder und wieder in ihren Magen bohrte. Und ich sah ihr Grinsen, als sie ihren Angreifer auch noch provozierte.
Denn meine Catalina war stark. Eine Kämpferin. Sie vertraute darauf, dass ich sie retten würde.
Und ich war ein verfluchter Versager, weil ich das noch nicht geschafft hatte.
Catalina
Ich war noch immer an den Stuhl gefesselt. Das gleißende Licht war noch auf mich gerichtet. Und mir war noch immer kalt. Meine Muskeln schmerzten konstant, meine Gelenke fühlten sich steif an, weil ich mich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr bewegt hatte.
Immer wieder wurde die Tür zu meinem Container geöffnet und geschlossen. Männer kamen und gingen. Allerdings sprachen sie mich nie direkt an und unterhielten sich auch nicht untereinander.
Gerade eben waren sie wieder zurückgekehrt, und ich hörte ein Geräusch, als würde etwas aufgestellt werden. Vorsichtig blinzelte ich gegen das Licht an, versuchte, etwas zu erkennen. Und tatsächlich schienen sich meine Augen ein wenig an die beschissenen Lichtverhältnisse gewöhnt zu haben. Denn ich meinte, ein kleines, blinkendes rotes Licht in einer Ecke gegenüber von mir erkennen zu können.
Anscheinend wurde ich gefilmt. Und das Geräusch, das ich gerade gehört hatte, stammte dann vermutlich von einem Stativ, das aufgestellt worden war. Die Erkenntnis sickerte langsam in meinen Verstand. Ich wurde gefilmt. Und das Video würde bestimmt an meinen Vater, und damit auch an Santiago, geschickt werden. Und er würde diese Informationsquelle dazu nutzen, meinen Standort zu finden. Denn Santiago würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mich zu finden.
Ich leckte mir über die staubtrockenen Lippen.
»Seid ihr Arschlöcher für die nächste Runde zurückgekehrt?«, fragte ich und bemühte mich um einen selbstbewussten Tonfall, obwohl ich mich alles andere als selbstbewusst fühlte. Eigentlich wollte ich mich eher in einer dunklen Ecke verstecken und nie wieder hervorkommen. Aber das mussten meine Angreifer ja nicht wissen.
Ich hatte meine Frage noch nicht ganz ausgesprochen, als ich schon geschlagen wurde. Dieses Mal begannen sie an meinem Unterleib. Ich wollte mich zusammenkrümmen, kam wegen meiner Fesseln aber nicht weit. Noch ein Schlag. Eine Faust, die auf meinen Brustkorb hämmerte. Die Luft verließ meine Lungen in einem schmerzhaften Keuchen.
Ich biss die Zähne zusammen, bis ich das Gefühl hatte, dass mein Kiefer jeden Moment unter dem Druck nachgeben müsste. Aber ich wollte ihnen nicht die Genugtuung geben, dass ich schrie. Sie würden mich nicht brechen. Niemals. Denn ich war Catalina Adriana Ramírez. Tochter von Gonzales Ramírez. Und ich war kein verfluchter Schwächling!
Ich war stärker als diese Arschlöcher. Ich würde durchhalten. Und dann würde ich mit Vergnügen zusehen, wie Santiago ihre Eingeweide über dem Boden verteilte, wenn er mich gefunden hatte.
Immer und immer wieder wiederholte ich die Sätze wie mein persönliches Mantra, während auf mich eingeschlagen wurde. Immer und immer wieder. Bis die Schmerzen zu stark wurden und ich Gott sei Dank endlich in Ohnmacht fiel.