10
Santiago
Es dauerte zwei Tage.
Zwei Tage, in denen ich mir in einer endlosen Schleife das Video von Catalina ansah. Zwei Tage, in denen wir die Stadt auf der Suche nach Alarico Morrell oder einem anderen von Garcías Leuten auf den Kopf stellten. Zwei Tage, in denen ich immer näher am Abgrund stand und nicht mehr viel fehlte, bis ich wahllos mordend durch die Straßen ziehen würde.
Zwei Tage, in denen wir nicht einen Schritt näher an Catalina herangekommen waren, da es ganz danach aussah, als hätte García seine Leute vom Erdboden verschwinden lassen.
Zwei Tage, bis ein neues Video eintraf.
Wieder von einem Boten gebracht, dem nur ein Umschlag mit der DVD, Bargeld und unserer Adresse zugespielt worden war.
Ich stand neben Gonzales in seinem Büro. Raúl war auch da. Der Laptop stand vor uns auf dem Schreibtisch, und das Video war abspielbereit. Ich sah, wie Gonzales’ Hand zitterte, als er das Mousepad berührte, um die Wiedergabe zu starten.
Er war jetzt schon am Ende seiner Kräfte, und man sah es ihm an. Tiefe dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet. Er hatte selbst in dieser kurzen Zeit genug Gewicht verloren, dass sein Gesicht eingefallen und alt wirkte.
Ich hatte immer befürchtet, dass es so sein würde, wenn Catalina mal etwas zustoßen sollte. Sie war sein einziger Lebenssinn, und es war, als hätte man jegliches Licht aus Gonzales’ Leben entfernt. Er existierte nur noch, und allein die Hoffnung, dass er seine Tochter bald wieder in die Arme schließen könnte, hielt ihn noch aufrecht.
Der Bildschirm flackerte wenige Sekunden, dann wurde das Bild endlich scharf und man konnte etwas erkennen. Gonzales schnappte nach Luft. Mein Magen verknotete sich zu einem steinharten Ball.
Es war die gleiche Szene wie zuvor. Catalina, halb nackt, an einen Stuhl gefesselt. Nur sah man ihr jetzt deutlich die Folter an. Das Shirt war vorne in der Mitte auseinandergeschnitten worden, sodass ihr Oberkörper entblößt war. Und dort prangten überall üble Blutergüsse. Ihre ansonsten gebräunte Haut wirkte bleich und kränklich, während auf Brustkorb, Bauch und Rippen dunkle Flecken in Blau, Lila, Grün und Gelb schimmerten. Auf der rechten Seite ihres Kiefers zeichnete sich ebenfalls ein heftiges Hämatom ab, und ihre Unterlippe war dort, wo sie im letzten Video noch aufgeplatzt gewesen war, von getrocknetem Blut bedeckt. Und obwohl ich ihre Hand- und Fußgelenke nicht richtig sehen konnte, war ich mir sicher, dass sich ihre Fesseln inzwischen tief in die empfindliche Haut gegraben hatten. Mit Sicherheit war auch zumindest eine Rippe geprellt oder gebrochen, wenn ich die Male richtig deutete.
Sie musste höllische Schmerzen haben.
»Por dios! «, flüsterte Gonzales, und Schmerz färbte seine Stimme. »Was tun sie ihr nur an?« Ich vermied es zu erwähnen, dass sie jetzt seit mehreren Tagen in der Gewalt ihrer Peiniger war und wir noch von Glück sprechen konnten, dass sie nur ein paar blaue Flecken davongetragen hatte. Wenn ich es darauf anlegte, konnte ich einen Menschen bereits in deutlich kürzerer Zeit deutlich schlimmeren Schaden zufügen. Aber diese Information würde Gonzales im Moment nicht weiterhelfen. Allerdings wurde dadurch mein Verdacht bestätigt, dass Catalina in relativer Sicherheit war. García wollte etwas von uns, und im Moment versuchte er, uns mit den Videos von Catalina mürbezumachen. Er wollte, dass wir schwach und verzweifelt waren, damit er, wenn er schließlich mit seiner Forderung zu uns kam, leichtes Spiel hatte und wir sofort einknickten.
Aber davon konnte dieser Mistkerl lange träumen. Allein weil er Catalina entführt hatte, würde ich ihm seinen Schwanz abschneiden und ins Maul stopfen. Was ich zusätzlich noch mit ihm und denjenigen, die sie gefoltert hatten, tun würde? Oh, ich war mir noch nicht sicher, aber ich würde meiner sadistischen Kreativität mit großem Vergnügen freien Lauf lassen.
Mein Blick fokussierte sich wieder auf den Laptopbildschirm, und ich beobachtete, wie Catalina langsam den Kopf hob und direkt in die Kamera sah. Sie wusste also, dass sie gefilmt wurde.
»Sie weiß es«, murmelte ich leise.
»Was?«, fragte Gonzales.
»Dass sie gefilmt wird«, schaltete sich Raúl ein.
»Na und?«, fragte Gonzales aufgebracht. Der Anblick seiner gefolterten Tochter sorgte offenbar dafür, dass er nicht mehr klar denken konnte. Und niemand konnte oder würde ihm deswegen einen Vorwurf machen.
»Das könnte uns helfen. Sie wird wissen, dass die Videos an uns geschickt werden. Vielleicht kann sie uns irgendwelche Hinweise oder Botschaften geben. Wir sollten alles genau beobachten.«
Ich war mir sicher, dass Gonzales genau das tun wollte. Aber als Catalina das erste Mal ins Gesicht geschlagen wurde und ihre ganze Körpersprache deutlich machte, dass sie starke Schmerzen hatte, verließ er kommentarlos den Raum. Ich pausierte das Video und sah Raúl an, der ihm mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht hinterhersah.
»Folge ihm«, befahl ich leise. »Stell sicher, dass er etwas isst. Dann gib ihm ein mildes Schlafmittel und bring ihn in sein Zimmer. Ich kümmere mich hier um den Rest.«
Jetzt richtete Raúl seinen Blick auf mich. Die Narbe, die ich ihm zugefügt hatte und die sich einmal quer über sein Gesicht zog, verlieh seinem Gesicht immer etwas Bedrohliches. Aber jetzt konnte ich dort nur Sorge erkennen.
»Bist du sicher?«
Ich nickte. »Er ist der Boss. Er muss stark wirken, sonst machen wir uns noch angreifbarer. Und im Moment bietet er ein leichtes Ziel. Er kann sich ja nicht einmal vernünftig konzentrieren.«
»Und was ist mit dir?«, fragte er zweifelnd. Ich wusste genau, was er mir damit sagen wollte. Ich befand mich selbst nicht in bester Verfassung. Vergaß zu essen, zu trinken und schlief maximal zwei Stunden am Tag und die nicht einmal am Stück.
»Ich komme klar«, gab ich barsch zurück. Jedenfalls noch für eine kleine Weile. Catalina war wichtiger als meine Gesundheit. »Jetzt geh.« Ich nickte in Richtung Tür. Raúl zögerte nur ein paar kurze Sekunden, bevor er meinem Befehl endlich Folge leistete und durch die Tür verschwand, um sich um Gonzales zu kümmern.
Ich ließ einmal den Kopf kreisen, und mein Nacken knackte lautstark. Meine Muskeln waren so angespannt, dass die kleinsten Bewegungen inzwischen Schmerzen auslösten. Danach setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl und startete das Video erneut.
Beim ersten Mal konnte ich mich nur auf Catalina konzentrieren. Auf den Schmerz in ihrem Gesicht, die Tränen, die in ihren Augen glitzerten. Das verzweifelte Flehen, das sich klar und deutlich in ihrem Blick zeigte, mit dem sie in die Kamera sah.
Beim zweiten Mal fiel mir auf, dass die Kamera in einem anderen Winkel stand als zuvor. Und dass ich mehr von dem Mann sehen konnte, der sie diesem Video schlug und würgte.
Immer wieder startete ich das Video von Neuem, wenn der Bildschirm schwarz geworden war. Ich wusste nicht mehr, zum wievielten Male ich jetzt erneut auf Play drückte, aber in diesem Moment fiel mir etwas Neues auf. Und zwar wie Catalina immer wieder heftiger als normal blinzelte und dann auf einen bestimmten Punkt sah. Nur ganz kurz, aber sie wiederholte die Bewegung mehrmals, sodass es kein Zufall sein konnte.
Ich stützte die Unterarme auf der Schreibtischplatte ab und beugte mich nach vorne, näher an den Bildschirm.
»Was willst du mir sagen, mi vida ?«, flüsterte ich und pausierte das Video, als sie erneut zur Seite sah.
Und dann entdeckte ich es auch.
Das Arschloch, das sie schlug, trug eine Uhr. Eine Smartwatch. Die mit seinem Handy verbunden war. Und uns somit GPS-Koordinaten liefern konnte.
Ich grinste breit. »Das ist mein Mädchen.«
Schnell holte ich mein Handy aus der Hosentasche und rief unseren IT-Spezialisten an, während ich ihm gleichzeitig das neue Video schickte.
»Santiago, ich habe noch nichts Neues für dich, und es hilft auch nicht, wenn du mich jede Stunde anrufst«, nahm er das Gespräch entgegen.
»Halt die Schnauze und hör mir zu«, fuhr ich ihn an. Mein Ton machte klar, dass mir nicht nach Spielchen zumute war und ich keinen Widerspruch duldete. »Ich habe dir gerade ein neues Video geschickt. Öffne es.«
»Okay, gib mir eine Sekunde.« Ich hörte, wie er auf der Tastatur herumtippte. »Hab es.«
»Stopp es bei drei Minuten und achtundzwanzig Sekunden. Linker unterer Bildschirmrand. Der Typ trägt eine Smartwatch. Kannst du mir darüber Koordinaten besorgen?«
Einen Moment herrschte Schweigen, und ich nahm an, dass er zu der entsprechenden Stelle vorspulte und sich dann das Bild ansah.
»Fuck, Santiago«, seufzte er. »Weißt du, wie viele von diesen Scheißuhren im Umlauf sind?«
»Nein, und es ist mir auch egal. Sag mir, was du brauchst, damit du die Koordinaten herausfinden kannst.«
Da war ein kratzendes Geräusch in der Leitung, weil sich unser Spezialist gerade über seinen Bart strich. »Eine Seriennummer. Nur darüber kann ich das Gerät eindeutig zuordnen.«
»Und wo kriegen wir die her?«
»Vom Hersteller? Wenn du herausfindest, wo und wann er die Uhr gekauft hat, kann ich den Kauf zurückverfolgen. Aber Santiago …«
Ich fluchte. Er brauchte es gar nicht auszusprechen. Catalinas Peiniger konnte die Uhr überall gekauft haben, und wir würden Wochen brauchen, bis wir vielleicht herausgefunden hätten, wo er die Uhr herhatte. Und so viel Zeit hatten wir nicht. Ich konnte bereits jetzt erkennen, dass Catalina die Kräfte ausgingen. Sie würde das vermutlich nicht mehr lange durchhalten. Und selbst wenn wir sie dann irgendwann befreien könnten, wäre sie nicht mehr die Frau, die sie einst gewesen war.
Und das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.
»Okay, gib mir eine Alternative. Was können wir tun? Es muss doch irgendetwas geben!« Ich wusste selbst, wie verzweifelt ich klang, aber so ging es mir auch. Ich wollte Catalina endlich da rausholen.
Eine Weile herrschte Schweigen, und ich konnte nur meinen eigenen Atemzügen lauschen, bevor unser IT-Spezialist geräuschvoll die Luft einsog.
»Vielleicht …«
Ich setzte mich gerade hin. »Vielleicht?«
»Okay, das ist eine verrückte Idee, und ich werde etwas Zeit brauchen, und ich kann nicht versprechen, dass ich damit brauchbare Daten kriege …«
»Sag mir endlich, was du vorhast!«, schnauzte ich ihn an. Ich hatte längst alle Geduld verloren.
»Ich werde die Videoqualität aufbessern, so gut es eben geht. Dann kann ich vielleicht die Marke der Uhr erkennen. Dann muss ich mich in einen Satelliten hacken und sämtliche Datenströme aufzeichnen. Aus der Videodatei kann ich Datum und Uhrzeit der Aufnahme herausfiltern. Danach werde ich die Daten abgleichen und auf einer Karte darstellen. Mit ein bisschen Glück können wir unsere Suche dann auf gewisse Orte beschränken.«
Ich hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was er mir gerade gesagt hatte, aber was ich verstanden hatte, war, dass wir eine Chance hatten.
»Wie lange brauchst du?«
»Ein paar Stunden?«
»Du hast zwei«, knurrte ich ins Handy und legte auf.
Mehr Zeit konnte ich ihm nicht geben, weil ich dann vermutlich durchdrehen würde. Meine Nervenenden kribbelten vor lauter Aufregung. Vielleicht könnte ich Catalina noch heute wieder in meine Arme schließen und das Blut derjenigen vergießen, die sie misshandelt hatten.
Ich klappte den Laptop zu und stand auf, um in mein Zimmer zu gehen. Ich hatte zwei Stunden, um mich auf einen Krieg vorzubereiten.
Catalina
Das Atmen war schmerzhaft, was mit Sicherheit gar kein gutes Zeichen war. Ich hoffte nur, dass keine meiner Rippen gebrochen war, aber sicher war ich mir da nicht. Inzwischen hatte ich endgültig jegliches Zeitgefühl verloren. Es konnten wenige Tage seit meiner Entführung vergangen sein oder aber auch Wochen. Ich wusste es schlichtweg nicht. Ich hatte keine Ahnung, ob es Tag war oder Nacht. Die einzigen Konstanten in meinem Leben waren die Kälte, die inzwischen tief in meine Knochen eingedrungen zu sein schien, der Schmerz, Durst und Hunger.
Meine letzte Foltereinheit schien jetzt schon ein bisschen her zu sein, und ich rechnete jeden Moment damit, dass wieder dieses typische Quietschen ertönte, wenn die Containertür geöffnet wurde und ich erneuten Besuch von meinen Peinigern bekam.
Ich versuchte, meine Atemzüge flach zu halten, weil alles andere sich anfühlte, als würde jemand ein Messer zwischen meine Rippen stoßen, und ich konnte getrost auf noch mehr Schmerzen verzichten. Ganz vorsichtig ließ ich die Luft durch den Mund entweichen und sog frischen Sauerstoff durch die Nase ein.
Als ich meinen Kopf in den Nacken legte, protestierten meine Muskeln, und ich verzog das Gesicht. Dadurch, dass ich an Händen und Füßen gefesselt war, war mein Bewegungsspielraum stark eingeschränkt, und ich konnte nicht viel mehr als meinen Kopf bewegen. Langsam drehte ich das Gesicht von links nach rechts und versuchte damit, wenigstens ein kleines bisschen der Anspannung in meinem Nacken zu lockern. Allerdings half es nicht wirklich, und ich war von dieser kleinen Anstrengung schon so erledigt, dass ich den Kopf einfach wieder nach vorne fallen ließ.
Außerdem sorgte jede noch so kleine Regung dafür, dass sich die Kabelbinder noch tiefer in meine Haut gruben. Mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass die verfluchten Drecksteile schon über den Knochen schabten.
Der absolut einzige Grund, warum ich noch nicht völlig am Ende war, war, dass ich auf Santiago vertraute. Er würde kommen und mich holen. Egal wie lange es dauerte.
Das typische, inzwischen vertraute Quietschen erfüllte die Stille des Containers. Ich schloss die Augen, als ich Schritte hörte.
Hoffentlich würde es nicht mehr lange dauern, bis er mich fand.
Santiago
Es dauerte eine Stunde und achtundfünfzig Minuten, bis mein Handy klingelte. Ich war mir sicher, dass ich noch nie in meinem Leben so schnell ein Gespräch entgegengenommen hatte.
»Hast du sie?«
»Möglicherweise.«
Kurz befürchtete ich, dass ich das Handy in meiner Hand zerdrücken würde, so fest hielt ich es umklammert. »Was soll das heißen?«
Ein langes müdes Seufzen drang durch die Leitung. »Okay, hör zu. Es war nicht einfach, aber ich konnte es auf ein bestimmtes Gebiet eingrenzen.«
»Drück dich klarer aus«, knurrte ich.
»Also, ich konnte die verschiedenen Signale orten und sortieren. Unser Glück ist, dass der Typ anscheinend nicht besonders viel Geld verdient, denn er hatte sich eine wenig gefragte Billigmarke ausgesucht. Von denen gab es in der Stadt und Umgebung nicht viele. Und davon befanden sich die meisten in Wohngebieten. Aber dort wird Catalina vermutlich nicht festgehalten, oder?«
»Unwahrscheinlich.« Wohngebiete bedeuteten Menschen. Und Menschen bedeuteten potenzielle Zeugen. Das konnte bei so einer Operation niemand gebrauchen.
»Dachte ich mir auch. Danach blieben nur noch wenige Signale. Und eines fand ich besonders interessant.«
»Ich schwöre, wenn du nicht gleich zum Punkt kommst, werde ich persönlich vorbeikommen und dir die Informationen herausschneiden. Verstanden?«
Angespanntes Schweigen. Ich konnte hören, wie er geräuschvoll schluckte. »Verstanden.« Ein Räuspern. »Okay, also eines der Signale führt zu einem verlassenen Industriegebiet außerhalb der Stadt. In der Umgebung gibt es so gut wie nichts. Keine Wohnungen, Geschäfte. Das Einzige, was ich finden konnte, war eine Tankstelle, und selbst die ist ein gutes Stück entfernt. Klingt perfekt, oder?«
Das tat es in der Tat. »Okay, schick mir die Adresse.«
»Kommt sofort.«
Ich beendete das Gespräch und starrte auf mein Handy, bis die Nachricht mit der Adresse einging. Sofort rief ich Raúl an.
»Santiago«, begann er.
Ich steckte mir gerade meine Pistole in das Schulterholster, das ich bereits angelegt hatte. »Es gibt Neuigkeiten.«
»Konnte unser Spezialist etwas herausfinden?«
Meine frisch geschliffenen Messer folgten der Pistole an ihre vorherbestimmten Plätze, denn ich hatte so das Gefühl, dass ich heute eine eher persönlichere Form von Waffen bevorzugen würde.
»Wir haben eine Adresse. Ruf alle zusammen. Wir holen sie uns zurück.«
Catalina
Ich leckte mir das frische Blut von der mal wieder aufgeplatzten Unterlippe, bevor ich den Kopf zur Seite drehte und ausspuckte. Mittlerweile war ich an einem Punkt, an dem ich den Geschmack meines eigenen Blutes nicht mehr ertragen konnte. Und ich fragte mich, ob meine Lippe jemals wieder nicht verwundet sein würde.
Gerade war ein weiteres kleines Video fertiggestellt worden, das jetzt bestimmt den Weg zu meinem Vater und Santiago finden würde. Jetzt hieß es für mich wieder warten und hoffen, dass es möglichst lange dauern würde, bis sie zurückkehrten.
Die frisch geschlagenen Stellen auf meinem Körper pochten schmerzhaft. Allerdings konnten auch die nicht die Qualen verdrängen, die ich bei jedem Atemzug verspürte. Mit Sicherheit war eine meiner Rippen mindestens geprellt. Anders konnte ich mir diese Schmerzen nicht erklären.
Ich musste weggedämmert sein, denn als plötzlich ein lautes Scheppern ertönte, riss ich die Augen auf und den Kopf nach oben, wofür ich mich im nächsten Moment sofort verfluchte. Denn die abrupte Bewegung tat höllisch weh. Draußen ertönten Schüsse, Männerstimmen riefen wild durcheinander. Mein Puls stieg an.
Sollten sie mich gefunden haben?
Erneut erklang dieses scheppernde Geräusch, als würde ein Körper gegen die Metallwand des Containers geschleudert werden. Mehr Schüsse. Dann Stille. Die Tür zu meinem Gefängnis wurde geöffnet. Sonnenlicht strömte in den finsteren Raum und blendete mich genauso effektiv wie die Lampen zuvor. Es zwang mich dazu, die Augen zu schließen und den Kopf wegzudrehen.
Es ist also Tag , war mein erster, völlig irrationaler Gedanke.
Und dann, wie eine Brise frischer Luft an einem heißen Sommertag, war da sein Geruch. Noch bevor die Information wirklich in meinem Gehirn angekommen war, fing ich an zu weinen. Die Tränen strömten über meine Wangen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Hände strichen über meine Arme, meine Beine, lösten meine Fesseln. Auch ohne etwas zu sehen, wusste ich, dass er es war.
Ich begann, heftiger zu weinen.
»Sch, alles ist gut, mi vida. Ich bin bei dir.«
Ich wurde hochgehoben, in starke, vertraute Arme. Mit meiner letzten Kraft schlang ich die Arme um seinen Nacken und vergrub das Gesicht an seinem Hals. Zum ersten Mal waren mir die Schmerzen beim Atmen scheißegal, denn ich holte tief Luft, sog seinen Geruch so tief wie möglich in meine Lungen. Seine Wärme umhüllte mich und vertrieb die Kälte aus meinem Körper. Es war, als wäre ich monatelang in der Dunkelheit gewandelt, und jetzt fiel zum ersten Mal wieder Sonnenlicht auf mich. Seine Umarmung war ein warmer Kokon aus Schutz und Sicherheit.
»Ich habe dich. Jetzt wird alles wieder gut.«
Ich lächelte gegen seine Haut, bevor mich die Erschöpfung übermannte und sich Dunkelheit über mich senkte. Aber zum ersten Mal seit meiner Gefangennahme hatte ich keine Angst vor dem Aufwachen.