Catalina
Es fiel mir schwer,
wach zu bleiben. Dabei sollte man eigentlich meinen, dass die ganze Aufregung und das damit einhergehende Adrenalin mich tagelang wach halten würden. Aber die Erschöpfung schien stärker zu sein, und eingehüllt in den warmen Kokon von Santiagos Armen war der Schlaf sehr verführerisch. Die Aussicht darauf, dass ich den Schrecken der letzten Zeit entfliehen könnte, und wenn es nur für wenige kostbare Stunden war, tat sein Übriges.
Immer wieder drohten mir die Augen zuzufallen, aber was mich schlussendlich dann doch davon abhielt, in den Schlaf zu fallen, war die Aussicht, dass einmal ich es sein könnte, die Santiago rettete. Und nicht umgekehrt. Es war verrückt. Waghalsig. Ein Risiko. Und es war genau das, was Santiago tun würde.
Nachdem sich seine Atmung beruhigt hatte, zählte ich still bis tausend. Und danach noch einmal. Trotzdem raste mein Herz wie verrückt, als ich vorsichtig aus dem Bett stieg. Ich war mir sicher, dass Santiago jeden Moment aufwachen musste, weil mein Herzschlag so laut in meinen Ohren dröhnte. Meine Hände zitterten wie Espenlaub, als ich meine Kleidung vom Boden aufhob. Immer wieder warf ich hektische Blicke über meine Schulter, kontrollierte, ob Santiago auch weiter ruhig atmete. Bis ich mich endlich angezogen hatte, war ich schweißgebadet und sicher, dass ich jeden Moment einen Herzanfall erleiden würde. Und aus irgendeinem Grund, der wahrscheinlich in dem unglaublichen Maß an Stress zu finden war, dem Santiago in letzter Zeit ausgesetzt war, wachte er tatsächlich nicht auf.
Ich versuchte, meine Atmung ruhig, gleichmäßig und vor allem leise zu halten, während ich nach Santiagos Hose griff und sein Handy hervorholte. Mein Versuch einer unauffälligen Atmung resultierte aber eher darin, dass ich das Gefühl hatte, dass ich jeden Moment hyperventilieren würde.
Neben dem Bett blieb ich stehen und blickte auf Santiagos schlafende Gestalt hinab. Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Er war liebevoll, beschützend, aufopferungsvoll. Er war kämpferisch, tödlich, und wenn es um mich ging, war er zu allem bereit. Er war mein sicherer Hafen. Mein Rückzugsort.
»Ich liebe dich«, formte ich lautlos mit den Lippen, aus Angst, dass jedes noch so kleine Geräusch ihn aufwecken könnte.
In diesem Moment gab es beinahe nichts, was ich mehr wollte, als mich wieder neben ihn zu legen und zu vergessen. Aber alles, was in den letzten Wochen passiert war, war meine Schuld. Ich war die Schwachstelle. Ich war das Problem. Alle Enden führten zu mir. Und deswegen war es auch an mir, dieser ganzen Geschichte ein Ende zu bereiten.
Als die Tür hinter mir fast ohne jedes Geräusch ins Schloss fiel, atmete ich leise aus. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu zerspringen. Meine Angst und Nervosität zerfetzten jeden klaren Gedanken und machten es schwierig, logisch zu denken.
Auf wackeligen Beinen ging ich den Flur hinunter und warf einen Blick zurück in das Zimmer, in dem Santiago dankenswerterweise noch immer schlief. Ich umklammerte Santiagos Handy mit zittrigen Fingern und wischte über den Bildschirm, um es zu entsperren. Ich brauchte die Koordinaten aus seiner Navigations-App, damit ich wusste, wohin ich fahren musste. Damit ich wusste, wo sich Garcías Versteck befand. Ich gab meinen Geburtstag als Code ein und runzelte verwirrt die Stirn, als mir der Zugang verwehrt wurde. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass er damit sein Handy sperrte.
Erneut warf ich einen Blick zurück über die Schulter. Beinahe jeder Mensch wählte seine Passwörter und Codes nach Dingen, die ihn persönlich betrafen oder die ihm wichtig waren. Was also war Santiago wichtiger als meine Geburt? Meine Gedanken überschlugen sich, gingen jedes wichtige Detail unserer Beziehung durch. Ich lächelte. Natürlich. Ich gab das Datum des Tages ein, an dem wir uns unsere Liebe gestanden haben. Aber erneut wurde der Bildschirm rot. Was übersah ich hier? Was entging mir?
Meine Verzweiflung nahm mit einem Blick auf die Uhr zu. Bald würde die Sonne aufgehen, und dann würde Santiago aufwachen. Wenn er nicht bereits vorher aufwachte und mein ganzer Plan sich in Nichts auflöste.
»Was bedeutet dir am meisten auf dieser Welt?«, flüsterte ich.
Plötzlich blitzte eine Erinnerung in meinen Gedanken auf. Das Gespräch mit meinem Vater in seinem Büro, nach meiner Entführung. Als er mir von dem Gespräch mit Santiago erzählt hatte. Der Tag, an dem Santiago beschlossen hatte, dass er mich heiraten wollte. Nur wann war das verflucht noch mal gewesen?
Das Jahr wusste ich, da mein Vater etwas von drei Jahren erzählt hatte. Aber der Rest?
»Denk nach, denk nach. Was war an diesem Tag so besonders?«
Und dann fiel es mir endlich ein. Natürlich. Das jährliche Familiengrillen war am nächsten Abend gewesen. Das Grillen, dass jedes Jahr am gleichen Tag stattfand. Pünktlich wie ein Uhrwerk.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, schickte ein schnelles Stoßgebet gen Himmel und tippte dann das Datum in das Zahlenfeld ein. Nur einen Augenblick später starrte ich ein Foto von mir an, wie ich schlafend in dem Bett in Santiagos Wohnung lag.
Santiago.
Eine Welle der Zuneigung durchlief mich, und beinahe gab ich dem Impuls nach, wieder zurück in das Zimmer zu rennen und mich in seine Arme zu werfen.
Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf die Aufgabe, die vor mir lag. Daniel García aus dem Weg räumen. Die Bedrohung auslöschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei dem Versuch selbst starb, war nicht gerade gering. Aber sollte das mein Ende sein, so würde wenigstens die Schwachstelle aus dem Weg geräumt werden. Und dann könnten Santiago und mein Vater mit aller Macht zurückschlagen, weil es keinen wunden Punkt mehr gab.
»Und vielleicht bist du ein klein wenig wahnsinnig geworden«, flüsterte ich zu mir selbst, als ich die Navigations-App öffnete und die letzte eingegebene Adresse checkte. Bingo. Mit meinem Ziel vor Augen ging ich hinunter in die Waffenkammer. Ich konnte schließlich nicht einfach mit bloßen Händen in das Versteck von García laufen.
Ich gab den Sicherheitscode ein, welcher die Tür entriegelte, und ging hinein. In den Wandregalen lagen sicher verwahrt genug Waffen, um eine kleine Armee auszustatten. So viel brauchte ich natürlich nicht. Stattdessen schnappte ich mir ein Beinholster und schob ein Messer hinein, danach folgte noch ein Schulterhalfter für die zwei Pistolen, die ich mir nahm. Und ein Fernglas konnte vielleicht auch nicht schaden, entschied ich im letzten Moment.
»Was machst du hier?«
Ich zuckte zusammen, wirbelte herum und blickte direkt in Raúls vernarbtes Gesicht. »Raúl! Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt!«
»Beantworte meine Frage.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und blockierte damit wirkungsvoll den einzigen Ausgang.
»Du musst mich gehen lassen.«
Er grinste. »Genau. Und danach schneide ich mir direkt selbst die Eier ab und stopfe sie mir in den Mund, um Santiago die Arbeit zu ersparen.«
»Raúl, du verstehst das nicht.«
»Dann erklär es mir.«
Ich sah von links nach rechts und wieder zurück, fuhr mir mit einer Hand durch die Haare. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich hätte vielleicht gegen Raúl ankommen können, wenn die Überraschung auf meiner Seite gewesen wäre. Aber so, von Angesicht zu Angesicht, hatte ich nicht die geringste Chance. Außer ich würde ihn über den Haufen schießen. Aber das war nicht wirklich eine Option.
»Ich muss das in Ordnung bringen.«
»Was denn?«
»Das alles!«, rief ich verzweifelt und warf die Hände in die Luft. »Siehst du das nicht? Das hier ist alles meine Schuld. Die Entführung, die Anspannung. Ein möglicher Plan, der so viele Menschen das Leben kosten wird, wenn wir gegen die Garcías in den Krieg ziehen. Und wir wissen beide, dass es dazu kommen wird. Meine Entführung hat den Stein ins Rollen gebracht.« Ich versuchte, mich mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen. »Und ich bin es so leid, dass ich immer nur von der Seitenlinie aus zusehen muss. Ich erfahre immer nur Halbwahrheiten. Niemand redet wirklich mit mir. Es reicht einfach. Ich muss … Ich muss …«
»Etwas tun«, beendete Raúl meinen Satz.
Ich nickte. »Ja.«
»Was hast du vor, Lina?«
»Ich will das Problem beseitigen.« Ich sah ihm direkt in die Augen. »Ich will Daniel García töten.«
»Alleine?«, fragte er zweifelnd.
»Wenn es sein muss. Santiago hat gesagt, dass das Haus versteckt in einem Viertel gelegen ist. Und zwar so, dass man einen direkten Angriff mit mehreren Personen sofort entdecken würde.«
»Also willst du da alleine reinmarschieren und wild um dich schießen?«, fragte er und deutete dabei auf die Waffen an meinem Körper.
»Hast du einen besseren Plan?«
Er runzelte die Stirn. »Das ist waghalsig. Riskant. Geradezu verrückt.«
Ich ging auf Raúl zu und blieb direkt vor ihm stehen, den Blick fest auf ihn gerichtet.
»Es ist das, was Santiago tun würde.«
»Aber du bist nicht Santiago.«
Ich warf ihm einen, wie ich hoffte, vernichtenden Blick zu. »Das weiß ich auch.«
»Lina, du weißt sehr genau, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Dein Plan ist zum Scheitern verurteilt.«
Meine Gedanken rasten wie wild durcheinander. Ich konnte Raúl nicht überwältigen, und sein stoischer Blick sagte mir, dass ich ihn niemals davon würde überzeugen können, mich zu begleiten. Also was sollte ich jetzt tun? War mein Plan wirklich jetzt schon zum Scheitern verurteilt?
»Komm jetzt.« Raúl machte die Tür frei und nickte Richtung Treppenaufgang. »Zeit zu gehen.«
Mein Blick huschte von links nach rechts. Ich suchte nach einer Möglichkeit, meinen, zugegebenermaßen riskanten, Plan doch noch in die Tat umzusetzen.
»Ich …« Mein Blick fiel auf etwas auf dem Tisch neben der Tür, und ich ließ die Schultern hängen. » … komme mit.«
Die Erleichterung zeichnete sich deutlich auf Raúls Gesicht ab, und eine Welle von Schuldgefühlen überrollte mich.
»Nach dir.«
Auf dem Weg nach draußen griff ich schnell nach dem eckigen Gegenstand.
»Es tut mir leid«, murmelte ich.
»Was?«, fragte Raúl, während er die Tür hinter uns beiden wieder verschloss.
»Das.«
Ich wirbelte auf dem Absatz herum, aktivierte den Taser und drückte ihn gegen Raúls Rippen. Der Stromstoß ließ seinen Körper zucken, und er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Es dauerte nur wenige kurze Sekunden, bevor er in sich zusammensackte. Ich ließ den Taser fallen und kniete mich neben Raúl, um seinen Puls zu fühlen. Er schlug langsam, aber beständig. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihn zurück in den Raum zu ziehen, zu fesseln und zu knebeln. Aber Raúl war rund dreißig Zentimeter größer und beinahe doppelt so schwer wie ich. Und anders als in den meisten Actionfilmen dargestellt wurde, war es beinahe unmöglich, einen leblosen Körper einfach mal so durch die Gegend zu ziehen. Und ich hatte vermutlich nicht mehr viel Zeit, bis Santiago, und jetzt auch Raúl, wieder aufwachten.
Ich legte Raúl eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir wirklich leid. Ich hab dich eigentlich gern. Hoffentlich tötet dich Santiago nicht.«
Jetzt, wo Raúl hier schon so herumlag, schnappte ich mir seine Autoschlüssel. Dann rannte ich los.