20
Catalina
Ich wachte an einen Stuhl gefesselt auf. Was mir das zweite Mal in meinem Leben passierte, und es war kein angenehmes Gefühl. Ich konnte diese Erfahrung wirklich niemandem empfehlen.
Kopfschüttelnd versuchte ich, den Nebel in meinem Kopf zu vertreiben, was die pochenden Kopfschmerzen leider nur verschlimmerte. Mein Mund fühlte sich an, als wäre er mit Watte ausgestopft, und meine Zunge schien meine gesamte Mundhöhle auszufüllen. Mir war kotzübel, und ich war mir sehr sicher, dass sich der Raum drehte.
»Das sind die Nachwirkungen des Betäubungsmittels. Es geht gleich vorbei.«
»Fick dich«, murmelte ich, aber ich vermutete, dass Daniel mich nicht verstanden hatte, denn mein Mund schien die Befehle meines Gehirns nicht fehlerlos umsetzen zu können.
»Tut mir leid, Prinzessin. Aber deine Sprache funktioniert noch nicht wirklich wieder. Du musst dir deine Liebesbekundungen also bis später aufbewahren.«
Liebesbekundungen. Ich würde diesem Dreckskerl den Arsch aufreißen. Wenn ich es könnte. Aber das konnte ich nicht, weil mein Plan grandios gescheitert war und ich Daniel García nicht getötet hatte. Ich hatte ein paar seiner Männer ausgeschaltet, nicht mehr und nicht weniger.
Fuck. Ich hatte die Sache doch endlich beenden wollen. Ich hatte endlich etwas richtig machen wollen. Ich hatte bei den Erwachsenen mitspielen wollen. Ich hatte Verantwortung übernehmen wollen. Und was war am Ende dabei herumgekommen? Ich hatte getötet. Ich hatte versagt. Ich war gefangen genommen worden. Wie ein kleines dummes Mädchen. Und jetzt war ich erneut ein Druckmittel.
Ich atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, versuchte, meine Übelkeit zu vertreiben. Ich brauchte jetzt einen klaren Kopf, musste etwas unternehmen. Ich durfte nicht schon wieder andere Menschen einer Gefahr aussetzen, nur weil sie mich retten mussten.
Es dauerte, bis die Drogen meinen Körper verließen. Ich konnte unmöglich sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber gefühlt war es eine Ewigkeit. Als Erstes verschwand die Übelkeit, danach das ekelerregende Gefühl in meinem Mund. Zum Schluss blieben nur die Kopfschmerzen, aber damit konnte ich immerhin arbeiten.
Ich hielt die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass es mir besser ging. Um mich herum hörte ich schleifende Geräusche, als die Leichen weggebracht wurden. Ich hatte keine Ahnung wohin, aber ich nahm an, dass sie alle in ein Zimmer gebracht wurden, damit sie nicht im Weg waren. Ich hörte Stimmen, die miteinander sprachen, konnte aber die Worte nicht ausmachen.
Ich öffnete die Augen ein wenig und versuchte, etwas zu erkennen. Ich hoffte, dass ich alleine in dem Raum war, aber in einer Ecke konnte ich ein paar dreckige Schuhe erkennen. Also wurde ich doch noch bewacht. Wirklich sehr unpraktisch.
Vorsichtig betastete ich meine Fesseln. Anscheinend hatte man nicht damit gerechnet, jemanden gefangen nehmen zu müssen, denn anstatt mich mit Handschellen oder Kabelbindern an den Stuhl zu fesseln, war es ein einfaches Seil. So unauffällig wie möglich bewegte ich meine Handgelenke, um das Seil an dem groben Holz des Stuhls aufzureiben. Da mir nicht sofort der Kopf abgerissen wurde, nahm ich einen leisen, ruhigen Atemzug und machte weiter.
Mir klopfte das Herz bis zum Hals, und meine Hände wurden mit jeder Sekunde feuchter. Eigentlich sollte man meinen, dass ich in solchen Situationen entspannter wäre. Schließlich war ich in einem Drogenkartell aufgewachsen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich jeden Moment in Ohnmacht fallen müsste.
»Prinzessin, bist du wach?«
Ich zuckte zusammen und verriet mich damit selbst, wie mir das darauffolgende leise Lachen mitteilte.
»Scheint, als hätte das Betäubungsmittel endlich nachgelassen.«
Langsam, weil ich sonst immer noch das Gefühl hatte, dass mein Schädel jeden Moment explodieren müsste, hob ich den Kopf. Zum ersten Mal blickte ich Daniel García in die Augen. In dem Container hatte ich ihn niemals deutlich erkannt, weil mir mit einer Lampe direkt ins Gesicht geleuchtet worden war, aber jetzt hatte ich klare Sicht.
Er war etwa im Alter meines Vaters, vielleicht ein paar Jahre jünger. Dunkles glattes Haar, das im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengefasst war. Sonnengebräunte Haut, Lachfalten in den Augenwinkeln und ein freches Grinsen auf den schmalen Lippen. Er trug eine abgetragene Jeans und ein weißes Hemd, dessen oberste drei Knöpfe offen waren. Man könnte ihn für einen Urlauber halten, der den ganzen Tag am Strand verbracht hatte und jetzt einen Happen essen gehen wollte.
»Daniel García.« Na ja, wenigstens funktionierte meine Sprache wieder.
»Schön, dass wir uns wiedersehen.«
»Kann ich jetzt nicht behaupten.«
Er grinste mich an, lehnte dabei lässig mit der Schulter am Türrahmen. »So kratzbürstig.« Daniel taxierte mich mit seinem Blick. »Gefällt mir.«
Und schon wurde mir wieder übel.
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte ich, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln und damit von den Bewegungen meiner Handgelenke abzulenken. Ich hatte zwar das Gefühl, dass die Fesseln etwas lockerer wurden, aber frei war ich deswegen noch lange nicht.
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Tut mir leid, die Betäubungsmittel scheinen meinen Verstand noch ein bisschen zu vernebeln«, erwiderte ich sarkastisch.
Daniel lachte. »Also, Prinzessin, du bist erneut mein Druckmittel. Denn der gute alte Santiago wird kommen wie der Ritter in schillernder Rüstung, um dich zu retten. Und dann werde ich ihn töten.« Er zuckte mit den Schultern. »Danach werde ich ein hübsches kleines Video für deinen Vater machen, in dem ich dir die Kehle durchschneide, mit Santiagos Leiche zu deinen Füßen.« Er kam auf mich zu, beugte sich über mich und stützte die Hände auf den Armlehnen des Stuhls ab. »Klingt das nicht wunderbar?«
»Bezaubernd.«
Ich lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und verpasste Daniel eine Kopfnuss. Ich war mir sicher, dass mein Schädel jetzt explodieren würde, aber das wütende Grunzen, das Daniel von sich gab, war es mir wert.
»Miststück!«, fluchte er und starrte mich zornig an.
»Was ist denn aus ›Prinzessin‹ geworden, hm?«, fragte ich grinsend.
Daniel holte aus und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Mir wurde schwarz vor Augen, als die Schmerzen in meinem Kopf für einen Moment unerträglich wurden. Ich schmeckte Blut, weil meine Unterlippe durch die Wucht des Aufpralls aufgeplatzt war.
»Bastard«, zischte ich. Im Augenblick konnte ich nichts anderes tun, als mich auf meine Atmung zu konzentrieren, weil ich sonst befürchtete, dass ich mich augenblicklich übergeben müsste.
Daniel zwinkerte mir zu und wollte gerade etwas sagen, als einer seiner Männer von hinten an ihn herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was dafür sorgte, dass Daniel breit grinste.
»Wir bekommen Besuch, Prinzessin. Rate, wer es ist.«
Ich starrte ihn nur schweigend an.
Daniel zog eine Pistole aus seinem Hosenbund und entsicherte sie. »Lasst die Party beginnen.«
Damit ließ er mich allein mit meiner Wache in dem Zimmer zurück. Ich drehte den Kopf zur Seite, damit ich aus dem Fenster sehen konnte. Inzwischen war die Sonne längst aufgegangen. Ein klarer Nachteil für Santiago, wenn er sich jetzt dem Haus nähern wollte. Aber anscheinend hatte man ihn ja sowieso schon entdeckt. Ich konnte nur hoffen, dass er einen wirklich guten Plan hatte. Sonst würde das hier mit unseren beiden Leichen enden.
Vorsichtig testete ich meine Fesseln. Inzwischen hatte ich endlich ein wenig mehr Spielraum, weil ich meine nette Unterhaltung mit Daniel dazu genutzt hatte, um das Seil weiter aufzuscheuern. Ich versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, die inzwischen dem Pochen in meinem Kopf Konkurrenz machten, weil meine Fesseln die Haut aufgerieben hatten. Ich spürte das Blut, das langsam in meine Handflächen sickerte. Ich brauchte nur noch ein bisschen mehr Zeit, und dann würde ich mich befreien können.
Ich sah mir meine Wache näher an. Er war jung, vielleicht in meinem Alter. Er stand neben der Tür und blickte nervös zwischen mir, dem Fenster und der Tür hin und her. Die Hand, mit der er die Pistole hielt, zitterte. Alles an ihm schrie förmlich danach, dass er ein Frischling war, und ich fragte mich unwillkürlich, warum García ihn mit in das Versteck gebracht hatte. Und ihn dann auch noch ausgerechnet für meine Bewachung abstellte. Entweder ging Daniel davon aus, dass ich keine wirkliche Bedrohung darstellte, oder ihm waren schlicht und ergreifend die Männer ausgegangen.
Wenn ich mich tatsächlich befreien konnte, musste ich ihn also überwältigen und die Waffe abnehmen, bevor er mich erschießen konnte. Ich brauchte einfach nur ein bisschen mehr Zeit, damit ich meine Hände endlich freibekam. Nur ein bisschen mehr Zeit …
Der erste Schuss ließ mich zusammenzucken. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit sich für einen Augenblick verlangsamte. Meine Wache sah mich an, unsere Blicke kreuzten sich für wenige Sekunden. Danach begann der Kugelhagel. Ich hörte die Rufe der Männer hier im Haus, hörte die Schüsse, die in Wände und Fleisch einschlugen. Holz splitterte, als eine Tür oder ein Fenster eingetreten oder vielleicht eingeworfen wurde. Schritte donnerten über den Fußboden.
Ich riss härter an meinen Fesseln. Es gab jetzt keine Zeit mehr für unauffällig. Ich musste mich beeilen. Ich musste hier raus und versuchen zu helfen. Ich hatte schließlich schon genug Schaden angerichtet.
»Hey, was machst du da?« Meine Wache kam auf mich zu, als er meine ruckartigen Bewegungen bemerkte. »Lass das! Hör auf!«
Ich starrte ihm direkt ins Gesicht und machte einfach weiter. »Fick dich.«
Er richtete seine Waffe auf mich, als eine Stimme durch die Flure hallte: »Granate!« Eine Explosion erschütterte das Haus, und ich nutzte den Moment der Überraschung, um mich endlich loszureißen. Ich stürzte nach vorne und rammte meinen Angreifer. Gemeinsam gingen wir zu Boden. Ich griff nach der Pistole, aber meine blutigen Hände rutschten auf dem glatten Metall ab. Meine Wache starrte mir überrascht ins Gesicht, als ich stattdessen ausholte und ihr meine Faust ins Gesicht schlug. In diesem Moment wurde die Tür zu dem Raum eingetreten. Ich wirbelte herum und blickte direkt in Raúls vernarbtes Gesicht.
Meine Wache hob den Kopf, und Raúl schoss ihr direkt in die Stirn. Blut und Knochensplitter spritzten mir ins Gesicht.
Bevor ich reagieren konnte, war Raúl schon bei mir und griff nach meinem Arm, zog mich auf die Beine.
»Geht es dir gut? Bist du verletzt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, alles okay.«
Sein Blick fiel auf meine Handgelenke. »Und was ist damit?«
»Ich war gefesselt.«
»Santiago wird mich töten«, murmelte er leise.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nein. Es war alles meine Schuld.« Ich starrte auf meine Füße. »Schon wieder.«
»Für Schuldzuweisungen ist später noch genug Zeit. Jetzt müssen wir erst einmal von hier verschwinden.«
Raúl zog eine weitere Pistole hervor. »Wisch dir das Blut von den Händen.« Schnell rieb ich mit den Handflächen über meine Hose und nahm dann die Waffe entgegen. »Bleib hinter mir. Schieß auf alles, was sich bewegt und nicht zu uns gehört.«
Ich verließ hinter Raúl das Zimmer. Blutspritzer bedeckten die Wände, Explosionsrauch von der Granate füllte meine Lungen. Ich hörte noch immer Schüsse. Leichen lagen zu unseren Füßen. Ich spürte den Rückstoß der Pistole durch meine Hand, die ich auf Raúls Rücken gelegt hatte, als er einen Schuss abfeuerte. Wir bewegten uns langsam in Richtung der Tür, durch die ich das Haus betreten hatte.
Plötzlich öffnete sich hinter mir eine Tür. Ich sah instinktiv über meine Schulter und blickte direkt in Daniel Garcías Gesicht. Blutspritzer befleckten seine Haut. Ein durch und durch mordlustiges Funkeln lag in seinen Augen.
»Zeit zu sterben, Prinzessin.«
Die Pistole war direkt auf mein Gesicht gerichtet. Ich wollte gerade meine eigene Waffe auf ihn richten, als ich nach hinten gerissen wurde. Im selben Moment löste sich ein Schuss, und Schwarz blockierte mein Blickfeld. Ich starrte direkt auf Raúls Rücken, der sich vor mich geschoben hatte. Ich sah, wie sein Körper zuckte. Hörte Daniel García fluchen. Ein weiterer Schuss fiel. Dann noch einer. Als es schließlich ruhig wurde, war die Stille ohrenbetäubend. Raúl sackte in sich zusammen, fiel erst auf die Knie und kippte dann nach vorne. Ich sah von ihm zu Daniel, der noch immer eine Waffe auf mich gerichtet hielt.
»Alle sind tot, weißt du?«, sagte er ganz ruhig. »Es ist vorbei. Und jetzt werde ich dich erschießen, Prinzessin. Wenigstens diesen Teil des Plans werde ich noch in die Tat umsetzen.«
Ein Zischen erfüllte die Stille. Ich spürte einen Luftzug, der direkt an meinem Gesicht vorbeistrich. Ich blinzelte, und in der nächsten Sekunde steckte ein Messer in Daniel Garcías Kehle.
»Nein, wirst du nicht, Arschloch.«
Ich spürte den exakten Moment, als Santiago hinter mich trat. Seine Schulter streifte meine, als er an mir vorbei zu Daniel ging. Er zog ihm das Messer aus der Kehle, Blut spritzte hervor. Den Rest musste ich mir nicht mehr mit ansehen. Ich konnte hören, wie Santiago ihm die Kehle durchschnitt, während ich neben Raúl in die Knie ging. Ich packte ihn an der Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Der erste Schuss hatte seine Schulter getroffen, die anderen beiden seinen Bauch. Das dunkle Oberteil klebte blutdurchtränkt an seinem Oberkörper.
Ich legte ihm eine Hand auf die Brust. »Es tut mir so leid, Raúl. So leid. Es ist alles meine Schuld.«
Wasser tropfte auf meine Handfläche, und ich wischte mir überrascht übers Gesicht, als ich die Tränen bemerkte. Ich war mit ihm aufgewachsen. Er hatte mit mir gespielt, als ich klein war, und für Prüfungen gelernt, als ich älter geworden war. Er hatte meine Geburtstage mit mir gefeiert. Nach Santiago hatte er wohl am meisten Zeit mit mir verbracht.
Und jetzt lag er tot vor mir, weil er mich beschützt hatte. Weil er mich gerettet hatte.
»Nein … Ist es … nicht.«
Ich zuckte zusammen, als ich seine Stimme hörte. Sie war kaum wahrnehmbar, weniger als ein Flüstern, wirklich. Aber sie war da.
»Raúl?«
Er drehte den Kopf und sah mich an. »Es … tut mir leid.« Er hustete, Blut lief über seine Lippen.
Dann kniete Santiago auf einmal neben mir. Allein seine Gegenwart sorgte dafür, dass mein Herzschlag sich wieder halbwegs normalisierte und sich das Chaos in meinem Kopf legte.
»Du bist ein Idiot«, fluchte Santiago. »Du hättest ihn einfach erschießen sollen.«
Raúl sah Santiago an. »Vergib … mir …«
Flatternd schlossen sich seine Lider, und ein sanfter Atemzug kam über seine Lippen.
Ich sah Santiago an, und er erwiderte meinen Blick.
»Verschwinden wir von hier«, murmelte er und steckte sein Messer weg.
»Wo sind die anderen?«
»Es sind nur Raúl und ich. Mehr Personen wären sofort entdeckt worden, und er hätte dich vielleicht sofort erschossen. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Du gibst uns Feuerschutz. Das Auto steht vorne an der Straße. Bevor wir das Haus verlassen, rufst du deinen Vater an und erzählst ihm alles. Zeit für Verstärkung.«
»Santiago …«
Er legte eine Hand in meinen Nacken, zog mich zu sich heran und verschloss meinen Mund mit einem Kuss. Es war Erlösung und Bestrafung gleichzeitig. Ohne Rücksicht drang er mit der Zunge in meinen Mund ein. Er eroberte mich, als wäre es das erste Mal, bevor er sich zurückzog und mich zornig anfunkelte.
»Ich bin verdammt wütend auf dich«, zischte er. »Darüber reden wir noch.«
Damit griff er nach Raúls leblosem Körper und stand gemeinsam mit ihm auf. Ich starrte zu ihm nach oben, nahm einen tiefen Atemzug und stand auf. Santiago hatte recht. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.