Die Zypressen von Béatrice

Béatrice kommt erneut ins Krankenhaus, es wird das letzte Mal sein. Wie eine moderne Karmeliterin lebt sie in einer Art durchsichtiger Plastikkugel. Um zu ihr zu kommen, muss ich durch eine erste Desinfektionskammer, mich von Kopf bis Fuß in keimfreies Weiß hüllen. Béa ist am anderen Ende des Gangs. Noch drei Türen. Ein desinfizierter Stuhl erwartet mich. So verbringen wir zwei Monate, ohne uns näherkommen zu können, durch das Plastik sehen wir uns beide nur verzerrt, verschwommen.

 

Béatrice bekommt eine Sepsis. Sie behält nichts mehr bei sich, nicht einmal mehr Wasser. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als den ständigen Schleim in ihrem Mund immerzu mit einem Mulltuch abzuwischen. In dieser schwierigen Zeit bin ich bei ihr, hinter dem Vorhang, der für Keimfreiheit sorgt.

 

Sie erzählt ihrem Vater: »Weißt du was, Papa? Ich habe Christus gesehen. ›Wisch dir den Mund an meinem Mantel ab‹, sagte er, ›er ist aus einem Stoff, der alle Befleckung tilgt‹«. Geduldig greift sie zu einem weiteren Mulltuch. Ich habe dich reingewaschen.

Hülle dich in meinen Mantel der Zärtlichkeit.

Ihre letzte Zeit auf Erden verbringt Béatrice im Licht dieser festen Hoffnung, in dieser aktiven Erwartungshaltung.

 

Drei Tage vor ihrem Tod darf sie aus ihrer Plastikkugel. Es ist zu spät. Ihre Augen sind geschlossen, es ist kaum noch Leben in ihr.

Unsere Kinder kommen, setzen sich nacheinander auf meinen Schoß. Ich erzähle ihnen von ihrer Mutter, sie schluchzen, dann gehen sie wieder hinaus in ihren Verkleidungen.

 

»Dein Wille geschehe«, sind Béatrice’ letzte Worte.

Sie sprach sie aus und versank noch ein wenig tiefer in ihrem Bett.

 

Ich darf sie mit nach Hause nehmen. Die Krankenschwestern ziehen Béa ihr erdfarbenes Kostüm an. Wir betten sie neben dem Kamin auf die Chaiselongue, auf der sie sich immer so gern ausgeruht hat. Abdel weint. Drei Tage bleibt sie inmitten ihrer Freunde und Familienangehörigen. Mit geröteten Augen sorgt Céline, das Au-pair-Mädchen, dafür, dass immer etwas zum Essen auf dem Tisch steht. Mein Vater kümmert sich um die Bestattung. In Tränen aufgelöst erzählt er mir, Béatrice habe ihn das Beten gelehrt. Abdel holt ihre Sachen aus dem Krankenhaus, darunter finden sich Aufzeichnungen und Briefe.

 

Sie hat Tagebuch geführt.

 

Aus all ihren Schilderungen sprechen ihre Sanftmut, ihre Liebe zu uns, ihr Gottvertrauen, der Glauben an ihre Heilung. Sie war fest entschlossen, am Leben zu bleiben, bis ihr kleiner Robert-Jean achtzehn würde. Als sie spürte, dass das Ende nahte, gab ihr dieselbe gelassene Zuversicht die Kraft, mir zu verzeihen, Laetitia ein paar Worte mit auf den Weg zu geben und Robert-Jean zu trösten.

Dann wandte sie sich Gott zu.

 

*

 

Ich habe den schönsten Sarg ausgewählt und ihn mit einem protestantischen Kreuz versehen lassen. Die Trauerfeier soll in der Kirche stattfinden und die Totenmesse in Dangu. Die Kinder sind großartig, sie lesen das Gebet des heiligen Augustinus, das Béa ihnen oft mit so sanfter Stimme vortrug, dass sie das Pathos gar nicht bemerkten. Sie sahen ihre Tränen nicht. Schlafend brachte ich sie zu Bett.

 

*

 

Bei der Beisetzung in der Kirche von Dangu stimmen unsere Freunde Nicolas und Sophie das Lied an, das Béatrice so liebte. Ich versinke tief in meinem Stuhl. Robert-Jean hält meine Hand, er weint. Laetitia hat ihm den Arm um die Schulter gelegt. Auf Béatrices Sarg liegen zarte, rosarote Stiefmütterchen, die ein Freund geschickt hat. Der Boden ist mit Tausenden weißer Blüten übersät. »Trockne deine Tränen und weine nicht, wenn du mich liebst.«

Béatrice, die du bist im Himmel …

 

*

 

Wir fahren in Dangu an dem Hügel vorbei, auf dessen Kuppe Béatrice begraben liegt. Ich komme nur mit Abdels Hilfe hinauf und habe immer das Gefühl, mich unter ihrem Grab zu befinden. Als könnte ich nur an sie heranreichen, wenn ich die Arme hochrecke.

 

Seit sie uns verlassen hat – es ist nun schon über ein Jahr her –, fällt es mir schwer, sie mir zu vergegenwärtigen. Nachts rede ich nicht mit ihr, sondern monologisiere über sie. In meinen schlaflosen Nächten schließt sie mich nicht in ihre Arme. Ich spüre, wie sie direkt über mir schwebt. Ihr Paradies muss ganz nah sein. Wie der Rauch einer Zigarette strömt sie von mir aus und löst sich ganz dicht bei mir auf.

 

Sie hat noch nicht gesprochen. Sie erscheint mir noch immer so wie in ihren letzten Tagen, reglos und still, nur ihr Brustkorb hebt und senkt sich kaum merklich im Rhythmus ihres rauen Atems.

 

Wenn ich von ihr sprechen will, schnürt sich mir die Kehle zu. Ich bekomme keinen Ton heraus, da ist nur ein Brennen hinter den Augen …

Vielleicht ist sie ja zu traurig, um mit mir zu sprechen?

 

Manchmal bringt mich Abdel zum Friedhof hinauf. Er schiebt mich über das unwegsame Gelände. Die Namen auf den Grabsteinen verblassen allmählich. Goldgeprägte, glänzende Marmortafeln beherbergen die Neuankömmlinge. Béatrice ist die Erste in der Familie, die auf dem Festland begraben ist. Ich wollte sie bis zu meinem Tod in unserer Nähe haben, danach soll sie mit mir zusammen nach Korsika überführt werden. Dort, in der Kapelle, sind weniger Menschen, Geräusche beleben die Nacht, der Duft der Macchia liegt in der Luft, der Blick ist so schön.

 

Laetitia hat ein Familientreffen auf dem Friedhof organisiert, alle sind erschienen. Die Kinder haben sich um Béatrices Grab versammelt. Die zehnjährige Valentine ist die Einzige, die nicht weint. Unbeirrbar stellt sie immer wieder die Blumentöpfe auf, die der Wind umbläst.

 

Wenn ich komme und meinen Platz vor ihrem Grab bezogen habe, ist Béatrices Anwesenheit vage zu spüren. Ich nehme sie im sanften Rauschen der Zypressen wahr. Sie verschwindet, wenn ich den Hügel wieder hinunterrolle. In die neue Wohnung folgt sie mir nicht.

 

Ein einziges Mal habe ich sie seither lachen gehört: als eine junge Frau mich küsste. Wenn wir allein waren und uns aneinanderschmiegten, hatte sie ein fröhliches Kinderlachen. Dann vergaß sie ihren Körper und entfloh zusammen mit mir wie ein verhätscheltes kleines Mädchen. In der Anspannung der letzten Monate habe ich dieses Lachen ganz vergessen.

Ihr Blick hat sich gen Himmel gerichtet und ich bin ihr gefolgt.

Sie betete stundenlang. Ich versuche, in diesem Blick aufzugehen. Noch einmal erlebe ich diese unerhört heiteren Augenblicke. Sie betete, als würde es sie von all ihrem Leid befreien. Ihre Freude ist wie ein Gebet für uns. Sie zieht mich hinan. Es gibt Ihn, weil sie bei Ihm ist.

Meine Gefühle sind ein Schattenspiel: Es bleiben nur ihre Schmerzen, die ich zu meinen gemacht habe, und die Leerstellen, die sie hinterlassen hat.

Manchmal vergrabe ich mich wochenlang in meinem Bett, lasse die anderen im Stich – bis ich Robert-Jean neben mir höre; Laetitia, die versucht, mir etwas zu trinken einzuflößen; Abdel, der es sich in meinem Rollstuhl bequem gemacht hat und wartet. Sie holen mich auf die Erde zurück.

Mich überrascht die Leichtigkeit, mit der ich zurückkehre. Ich höre mich lachen, bin stolz auf meine Kinder. Doch ich werde mich ohne Angst, vielleicht sogar erleichtert zu Béatrice gesellen. Es gibt schreckliche Momente – dann will ich davonschweben, doch die anderen halten mich zurück. Ich weiß nicht mehr, welche Richtung ich einschlagen soll. Vielleicht sorgen ja mit der Zeit meine Kinder, die Kinder meiner Kinder, eine Frau … dafür, dass ich in diesem Schaukelstuhl zur Ruhe komme.

 

*

 

Béa ist gegangen. Laetitia und Robert-Jean sind noch da. Es ging uns gut, zu viert.

In den Momenten, in denen ich schrecklich leide, ist mir, als würden alle Dämme brechen, als würde mir der Kopf platzen: Die Augen haben sich bereits weggedreht, der Körper ist steif, ich habe schon lange aufgehört zu sprechen. In meiner Verzweiflung verschwinde ich im Unbewussten, nur noch von einem Gedanken besessen: unserer geliebten Kinder wegen dieses eine Mal noch durchzuhalten.

 

An dem Tag, an dem Béas Mutter mir mitteilte, dass nichts mehr zu machen sei, gar nichts, ganz egal, was die Ärzte sagten, fühlte ich mich in meinem Bett zum ersten Mal allein. Nichts ist mehr von Béatrices wunderbarer Präsenz übrig, nichts als ein ständiger Schmerz hinten in der Kehle. Nichts mehr übrig von dem Mann der Tat – er ist nicht an der Behinderung zerbrochen, sondern an Béatrices Abwesenheit. Nur die Sorge um unsere Kinder bleibt bestehen. Ich liege nur noch im Bett. Das Haus verkommt. Céline, das Au-Pair-Mädchen, rührt keinen Finger mehr, ich lasse mich gehen. Wir drei bekommen nur noch wenig Besuch. Die Schwiegereltern natürlich, meine Schwägerin Anne-Marie, ein paar alte Freundinnen, die sich unter der Last von so viel Trauer nur mühsam aufrecht halten.

Der Rest der Familie hält sich zurück, betäubt von unserem Schweigen und ihrer eigenen Scheu. Die einzigen Geräusche, die man hört, sind die der Kinder. Außerdem, um zehn nach neun, der tägliche Anruf von Tante Éliane, geistreich und voll Mitgefühl; Abdels Radau; die morgendliche Betriebsamkeit der Pflegerinnen – wobei ich bei manchen gar nicht erst die Augen aufmache – und Sabrya, natürlich.

 

Ich liebe Béatrice. Nach und nach lese ich ihren Leidensbericht. Mit Ausnahme einiger Entwürfe von Briefen, die sie mir schrieb, wenn ich lange im Ausland war, sind diese Aufzeichnungen ihres Leids die einzige Hinterlassenschaft. Beinahe fünfundzwanzig Jahre unseres Lebens haben wir zusammen verbracht, ein unglaubliches, unverschämtes Glück, das wir unschuldig und strahlend genossen. Und nun ist davon nichts mehr übrig als diese wenigen niederschmetternden Seiten voller Einsamkeit und Zweifel.

Als ihre Mutter starb, hat Laetitia diese Aufzeichnungen gelesen und war tief erschüttert. Ich fand die mühsam niedergeschriebenen Schreckensnotizen auf losen Blättern und in zwei dünnen Heften, einem grünen und einem roten. Wenn ich sie nur niemals gesehen hätte. Sie rahmen unser Glück schwarz ein.

 

*

 

Wenn ich eine ihrer »Trauernachrichten« lese, kann ich tagelang nicht aufstehen. Mein Stolz verblendete mich, ich hatte keine Ahnung. Nun kann ich kaum noch an etwas anderes denken. Tagsüber lasse ich mir ihre Notizen ans Tablett über meinem Bett kleben, nachts ist es mir unerträglich, sie auf dem kleinen Nachttisch neben mir zu wissen. Ich möchte mich auf die andere Seite drehen, dorthin, wo Béatrice schlief, doch nur mein Kopf rollt nach links, damit die Tränen abfließen können.

 

Ihre Aufzeichnungen sind nie genau datiert. Alles in allem füllen sie gerade mal zwanzig Seiten. Jedes einzelne Wort ist ein Schrei der Verzweiflung. Manche Passagen rufen mir Erlebnisse in Erinnerung, die mir entfallen waren. Sie geben die Zerrissenheit einer Frau wieder, deren Schönheit nur Fehlgeburten und Totgeburten hervorbringen konnte; die nagende Sorge einer von einem unsichtbaren Krebs gequälten Frau, die so schön war in den Augen aller, jedoch wusste, dass sie von innen zerfressen wird; die Erschöpfung eines Menschen, der so viel wollte, aber nicht konnte. Und dann, als sie schon am Ende ihrer Kräfte war, auch noch dieser ultimative Affront: Der Mann, den sie liebt, bricht sich das Genick. Sie hätte sich eine freundlichere Welt für ihre letzten Stunden gewünscht. Von einer schmerzerfüllten Liebenden wurde sie zu einer Pietà, in den Armen die Last eines zerstörten Körpers. Durch sie, die Gekreuzigte, bin ich wieder auferstanden. Was für eine Ironie. Sie liegt unter ihrem Lächeln begraben. Und ich flog in alle Richtungen davon, um ihren blutenden Beinen zu entkommen, ihrem kranken Blut, ihrer Anstrengung, die mich beschämte. Ich segelte auf unseren Leben dahin. Immer kehrte ich zurück und schloss sie auf ihrem riesigen Bett in die Arme. Bitteres Lächeln für eine Schönheit, die ihre Tränen so gut zu verbergen wusste, die seit Jahren tiefes Mitleid verdiente.

 

*

 

Ich beschloss, nach Crest-Voland zurückzukehren, an den Ort, an dem ich abgestürzt war, und im Rollstuhl erneut zu fliegen, wie um den Unfall zu exorzieren. Eine Kinderei! Diese fliegenden Verrückten, die Béa nicht besonders schätzte, sind meine wahren Freunde. Sie haben Schuldgefühle, ich will sie davon befreien. Ich sehne mich danach, in der Thermik aufzusteigen, die mich auf fünf- oder sechstausend Meter Höhe bringt. Da oben möchte ich laut mit meiner Frau sprechen, wie ich es nachts gelegentlich tue. Vor der prachtvollen Kulisse der Berge werde ich den Eindruck haben, ihr näher zu sein. Manchmal habe ich das seltsame Gefühl, dass ich zu ihr möchte, genauso wie ich nach dem Unfall in Versuchung geraten bin, sie zu verlassen. Es ist irrational und kindisch.

Ich erfreue mich auch an der Vorstellung, Abdel im Tandem fliegen zu sehen, während er die ganze Zeit brüllt, dass er nie fliegen wollte.

 

*

 

Meine Freunde besorgen mir einen Spezialsitz, der sich aufbläst, wenn das Segel sich mit Luft füllt, das soll die Landung dämpfen. Yves, der im Gurtzeug hinter mir ist, steuert. Wir vereinbaren, dass er die Anweisungen befolgt, die ich ihm mittels Kopfbewegungen gebe. Kopf nach links – er dreht sich im angegebenen Winkel; Kopf nach unten – er bremst; Kopf nach oben – er lässt die Bremsleinen los. Wir fliegen dreimal. Beim Start trägt uns die ganze Mannschaft, so dass wir genügend Geschwindigkeit aufnehmen. Durch ein leichtes Senken des Kopfes gebe ich Yves zu verstehen, dass er an den Bremsleinen ziehen soll, um abzuheben.

 

Da ist es wieder, das Gefühl zu fliegen – es ist im Kopf konzentriert, im Rest spüre ich nichts. Wir fliegen unsere üblichen Strecken. Irgendwann brüllt Yves mir zu, es sei riskant, was ich da mache: Wir seien zu nah am Wald. Doch ich weiß, dass es dicht über den Baumwipfeln genügend kleine Thermikblasen gibt, um in der Luft zu bleiben. In wenigen Hundert Metern können wir wieder zum Gebirgskamm aufsteigen, von wo aus das ganze Tal von Albertville uns zu Füßen liegt. Yves zögert, aber ich gebe ihm zu verstehen, dass er meine Anweisungen befolgen muss. Plötzlich steigen wir steil auf, Hunderte von Metern in wenigen Sekunden. Über dem Gipfel ziehen wir unsere Kreise. Ein herrliches Schauspiel! Wir versuchen, an Höhe zu gewinnen, doch die Wetterbedingungen lassen es nicht zu. Also tauchen wir wieder in Richtung Wald ab, folgen den Vögeln, verfolgen andere Gleitschirmflieger. Wir könnten eine Ewigkeit oben bleiben, doch Yves sagt, es sei Zeit zu landen. Wir fliegen schon über anderthalb Stunden. Ich verspüre keinerlei Müdigkeit. Eine Wiedergeburt. Wir sausen an der letzten Felsspitze vorbei und auf die Almhütte zu. Um der alten Zeiten willen lenke ich Yves zum Hügel über der Hütte und bitte ihn, im Tiefflug zu fliegen. Knapp drei Meter über dem Boden fliegen wir Schlangenlinien. Herrlich! Yves fliegt den Landeplatz an, wir haben Gegenwind. Als wir aufsetzen, dreht der Wind plötzlich. Bei über vierzig Stundenkilometern wirft es uns um. Ich habe keine Beine, mit denen ich ihm helfen könnte, und wir krachen zu Boden. Mein Gesicht fungiert dabei als Bremse. Nach mehreren Dutzend Metern, in denen wir den Boden umpflügen, kommen wir endlich zum Stehen und brechen in Gelächter aus. Alle Freunde, die gekommen sind, um sich das Schauspiel anzusehen, lachen mit.

Mein Gesicht ist blutüberströmt, mehrere Wochen lang trägt es die Spuren dieser Landung, doch ich bin unendlich froh!

Zurück in Paris, behaupte ich, es sei ein Rollstuhlunfall gewesen. Außer Laetitia ahnt niemand etwas von meiner Verantwortungslosigkeit.