McCoy erreichte die Enterprise am nächsten Morgen, trat in den Turbolift und fand sich dort allein mit Kirk wieder. Jim schien kaum geschlafen zu haben – auch Leonard hatte keine Ruhe gefunden und stundenlang über die politische Bedeutung der bevorstehenden Mission nachgedacht –, aber er wirkte aufgeschlossener und nicht mehr ganz so verärgert wie am vergangenen Tag. Dennoch war dem Captain deutlich anzusehen, dass ihn etwas belastete.
Der Arzt erhob deshalb keine Vorwürfe gegen ihn. Während der langen schlaflosen Nacht war er zu dem Schluss gelangt, dass sowohl Jim als auch Spock recht hatten, jeder auf seine Weise. Frieden mit den Klingonen ergab durchaus einen Sinn, zumindest theoretisch, und hinzu kam Gorkons Bitte, ihm die Enterprise zu schicken. Es wäre sehr unfreundlich gewesen, nicht auf diesen Wunsch einzugehen.
Doch gleichzeitig spürte McCoy einen Zorn, der Spock im besonderen und Starfleet im allgemeinen galt. Warum nahm niemand Rücksicht auf Jims Gefühle? Kudao hatte ihn auf sehr schmerzhafte Weise an Davids Tod erinnert, und es spielte keine Rolle, wie viel Zeit seitdem vergangen war …
Seltsam: Leonard bemerkte erst jetzt, wie viele graue Strähnen sich inzwischen in Jims Haar gebildet hatten. Die traumatischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts haben ihn altern lassen. In einem Anflug von Niedergeschlagenheit erinnerte er sich daran, dass er nur noch einige wenige Male neben Kirk stehen würde, hier im Turbolift oder auf der Brücke …
Der Captain nickte dem Arzt zu und berührte eine Taste, woraufhin sich die Transportkapsel in Bewegung setzte. Nach so vielen Jahren waren keine Worte mehr notwendig – jeder kannte das Ziel des anderen.
McCoy gab der wachsenden Unruhe nach, als er Zeitpunkt und Umstände für geeignet hielt.
»Stopp«, wies er den Liftcomputer an. Die Kapsel wurde langsamer und verharrte. »Jim, dieser Einsatz zerrt an deinen Nerven. Möchtest du darüber reden?«
Kirk starrte auf den haarfeinen Saum zwischen den beiden Türhälften, atmete langsam aus und musterte den Arzt. »Ich dachte … Vielleicht hat dir niemand etwas gesagt. Carol befand sich während des Angriffs auf Themis.«
»Mein Gott!«, flüsterte McCoy bestürzt. »Ich hatte keine Ahnung …«
»Vermutlich hat Starfleet Command nichts darüber verlauten lassen, weil … ich die Mission leite.«
»Ist alles in Ordnung mit ihr?«
Kirk blickte zur Seite. »Das Gebäude stürzte ein, und Carol erlitt schwere Verletzungen am Hirnstamm. Sie liegt in der Intensivstation. In etwa einer Woche weiß man, ob die Behandlung etwas nützt.«
Leonard legte ihm die Hand auf die Schulter. »Oh, Jim, das tut mir leid. Wie können dich die verdammten Hurensöhne auch nur darum bitten, diesen Auftrag zu übernehmen? Warum hat Smillie nicht jemand anders gefragt, zum Beispiel Sulu?«
Jim zuckte mit den Achseln und sah McCoy an. »Ich muss die Befehle befolgen, Pille. Weißt du, ich sage mir immer wieder: Selbst wenn es mir möglich gewesen wäre, bei Carol zu bleiben – wie hätte ich ihr helfen sollen? Aus einem egoistischen Blickwinkel betrachtet … Auf diese Weise kann ich mich wenigstens ablenken, bis ich mehr erfahre. Die Mission dauert keine Woche, höchstens einige Tage. Anschließend bin ich wieder bei ihr.«
Und wenn Carol in der Zwischenzeit stirbt?, überlegte McCoy. Er wusste, dass dieser Gedanke auch Jim durch den Kopf ging, doch niemand von ihnen wagte es, ihn laut auszusprechen.
Kirk schüttelte langsam den Kopf. »Aber dieser besondere … Einsatz macht es nicht leichter für mich.«
»Natürlich nicht«, bestätigte Leonard. »Es ist mir ein Rätsel, woher Smillie die Frechheit nimmt …«
»Gestern bei meinem Gespräch mit Spock … Ich konnte kaum fassen, welche Worte mir von den Lippen kamen.« In Kirks Mundwinkeln zuckte es kurz. Er versuchte zu lächeln, doch es wurde eine Grimasse daraus. »Ich habe ihn wirklich schockiert, als ich ihm sagte, wir sollten die Klingonen sterben lassen – und dass sie Tiere wären.«
»Ich habe einige kennengelernt, die diese Bezeichnung verdienen«, entgegnete McCoy. Es klang scherzhaft und auch bitter.
»Ich möchte keinen Krieg, Pille.«
»Niemand von uns möchte ihn«, beruhigte McCoy den Captain.
»Aber ich will auch keine Klingonen an Bord meines Schiffes«, fuhr Kirk leise fort. »Gerade jetzt nicht. Es geht um mehr als nur um Carol. Der Grund dafür ist mir unbekannt, aber nach all den Jahren erfüllt mich Davids Tod wieder mit Kummer – ihr ging es ebenso, obgleich wir nicht darüber sprachen. Wahrscheinlich liegt es am Kudao-Massaker …«
»Eine der möglichen Ursachen, ja. Wie dem auch sei: Als David starb, hattest du keine Gelegenheit, um ihn zu trauern. Du warst zu sehr damit beschäftigt, deine Crew zu retten. Du bist ständig der Captain gewesen – immer so darauf konzentriert, die Verantwortung für das Leben anderer Personen zu übernehmen, dass dir gar keine Zeit für dein eigenes blieb.
Ist dir klar, dass du die Enterprise noch einmal aufgeben musst, Jim? Vielleicht hast du noch nicht bewusst daran gedacht, aber dein Unterbewusstsein erinnert sich. In drei Monaten gehen wir alle in Pension. Dann bist du nicht mehr Captain James T. Kirk, der sich dauernd bemüht, hohen Idealen gerecht zu werden. Dann musst du mit dem Menschen Jim Kirk fertig werden.« Weniger scharf fügte McCoy hinzu: »Vielleicht ist der Mensch nie in der Lage gewesen, den Klingonen Davids Tod zu verzeihen. Kruge stahl dir die einzige Familie, die du hattest, die einzige Chance, David besser kennenzulernen. Dein Sohn wartet nicht auf dich, wenn du dich aus dem aktiven Dienst zurückziehst.«
Und vielleicht nicht einmal Carol …
Kirk stand völlig still und mied so lange den Blick des Arztes, dass Leonard schon glaubte, zu weit gegangen zu sein. Dann berührte er die Kontrollen, und der Turbolift glitt weiter.
Als sich die Tür öffnete, drehte Jim schließlich den Kopf und richtete den Blick auf McCoy. »Vielleicht hast du recht, Pille. Aber Spock irrt sich, wenn er meint, den Klingonen vertrauen zu können. Ich bin nach wie vor sicher, dass die Verhandlungen ein Fehler sind.«
Leonard seufzte. »Soll ich dir was verraten? Tief in meinem Innern empfinde ich ebenso …«
Bis zum Mittag meldeten sich alle Besatzungsmitglieder an ihren Stationen – die Enterprise war startbereit.
Kirk hatte gründlich über McCoys Ausführungen nachgedacht und trotz seines Grams einen Kompromiss mit sich selbst geschlossen. Erstens: Er wollte nicht zulassen, dass seine persönlichen Gefühle den Erfolg dieser letzten Mission gefährdeten. Und zweitens: Er weigerte sich noch immer, den Klingonen zu vertrauen. Das überließ er dem Diplomaten Spock. Jims Sorge galt der Besatzung – und den Interessen der Föderation.
Außerdem blieb die Tatsache, dass er gar keine Wahl hatte. Sein Befehl lautete, Klingonen zu eskortieren und sie wie Ehrengäste an Bord seines Schiffes zu behandeln. An diese Order musste er sich halten.
Als der Turbolift Kirk und Spock zur Brücke trug, glaubte sich Jim in der Lage, das Thema ruhig anzusprechen.
»Spock … Ich bin noch immer nicht begeistert davon, dass Sie mich in diese Sache hineinmanövriert haben. Aber ich weiß, dass ich mich gestern von meinem Zorn zu einigen nicht sehr freundlichen Bemerkungen hinreißen ließ. Ich möchte Ihnen versichern, dass ich ebenso wenig einen Krieg wünsche wie Sie. Trotz der Ereignisse auf Themis werde ich die Klingonen höflich behandeln.«
Der Vulkanier hob ein wenig überrascht die Braue. »Daran habe ich nicht gezweifelt, Captain. Ich bedauere, dass Sie diese Pflicht gerade jetzt wahrnehmen müssen. Gibt es Neuigkeiten in Hinsicht auf Dr. Marcus' Zustand?«
Kirk schüttelte den Kopf. »Keiner von uns beiden braucht sich zu entschuldigen, Spock. Sie konnten nicht wissen, was geschehen würde. Sie trafen nur eine Entscheidung, die Sie für richtig hielten. Jetzt wartet eine Mission auf uns, und wir werden sie erfolgreich beenden.«
Spock nickte. »Vielleicht ist es ganz gut so, dass Sie bezüglich der Klingonen eine andere Meinung vertreten. Die Bekanntschaft mit Dr. McCoy hat mir gezeigt, wie nützlich ein Advocatus Diaboli sein kann.«
Daraufhin lächelte Jim. »Sie geben also zu, dass McCoy mehrmals recht behalten hat.«
Der Vulkanier runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht gesagt, Cap …«
Er unterbrach sich, als die Lifttür aufglitt.
Das letzte Mal, dachte Kirk, als er die Brücke betrat und zum Befehlsstand ging, wo McCoy bereits auf ihn wartete. Spock schritt zur wissenschaftlichen Station. Bringen wir das Schiff jetzt wirklich zum letzten Mal aus dem Raumdock?
Er blieb verblüfft stehen, als der Kommandosessel herumschwang; eine junge Vulkanierin saß darin.
»Captain auf der Brücke«, sagte sie und erhob sich. Ihr glattes schwarzes Haar, kurz und schlicht, umrahmte ein zartes, sehr attraktives Gesicht.
Die anwesenden Offiziere nahmen Haltung an.
»Rühren«, sagte Kirk. Verwirrungsfalten bildeten sich in seiner Stirn. »Haben wir uns schon kennengelernt, Lieutenant …?«
»Valeris, Sir. Man teilte uns mit, dass Sie einen Steuermann brauchen …« Während sie sprach, fiel ihr Spock auf, und ganz offensichtlich erkannte sie ihn. »Ich habe mich freiwillig gemeldet.« Sie musterte Spock mit einer so deutlichen Mischung aus Respekt und Bewunderung, dass Kirk beide Brauen wölbte und seinem Ersten Offizier einen neugierigen Blick zuwarf.
Der Vulkanier nickte knapp. »Lieutenant, es ist angenehm, Sie wiederzusehen.« Und zu Jim: »Valeris hat vor kurzer Zeit ihr Studium an der Starfleet-Akademie abgeschlossen, als Klassenbeste. Ich bin ihr Förderer gewesen.«
»Ah«, erwiderte Kirk. Valeris' Verhalten Spock gegenüber war vulkanisch korrekt, aber ein Instinkt teilte ihm mit, dass ihre Gefühle für ihn nicht nur platonischer Natur waren. Er konnte nicht feststellen, ob Spock diese Gefühle erwiderte oder überhaupt von ihnen wusste. »Herzlichen Glückwunsch, Lieutenant. Sicher sind Sie sehr stolz.«
Sie hob eine Braue und ahmte Spock damit so perfekt nach, dass Kirk schmunzelte. »Eigentlich nicht, Sir.«
»Durch und durch Vulkanierin«, kommentierte McCoy mit gutmütigem Spott.
Valeris setzte sich an ihre Konsole.
»Na schön, bringen wir es hinter uns«, sagte Kirk. »Alles für den Start vorbereiten.« Er drückte eine Taste in der Armlehne des Kommandosessels. »Scotty?«
»Aye, Sir.«
»Halten Sie sich in Bereitschaft. Uhura, öffnen Sie einen Kom-Kanal zum Kontrollzentrum des Raumdocks.«
»Kanal offen, Sir«, bestätigte Uhura hinter Jim.
Kirk holte tief Luft und dachte erneut daran, dass er jetzt zum letzten Mal den Befehl gab, das Schiff ins All zu steuern. »Hier ist die Enterprise. Wir bitten um Starterlaubnis.«
Uhura schaltete eine akustische Verbindung. »Hier Kontrollzentrum«, erklang die Stimme eines Mannes. »Erlaubnis erteilt, Enterprise. Dreißig Sekunden fürs Hangarschott.«
»Alle Gravitationsanker lösen«, sagte Valeris und betrachtete die Anzeigen ihres Pults.
»Hangarschott in dreißig Sekunden.« Kirk sah zu Spock und lächelte hintergründig – dies war die letzte Chance für einen kleinen Scherz, den sich der Vulkanier vor einigen Jahren in der gleichen Situation erlaubt hatte, wenn auch mit einem anderen Protegé.
Damals war Jim zu Tode erschrocken gewesen.
»Gravanker gelöst«, meldete der Dockmeister.
»Heckschub …«, begann Valeris, aber der Captain unterbrach sie.
»Danke«, sagte er laut und übertönte die Stimme der Vulkanierin. »Ein Viertel Impulskraft.«
Valeris drehte sich zu ihm um, und diesmal brachte ihr Gesicht Überraschung zum Ausdruck. Vielleicht hat es Spock zu seiner Lebensaufgabe gemacht, anderen dabei zu helfen, völlige emotionale Kontrolle zu erreichen, überlegte Jim. Diese Vulkanierin brauchte sicher noch Übung.
»Captain«, sagte die junge Frau, »darf ich Sie daran erinnern, dass die Vorschriften im Raumdock nur Heckschub zulassen?«
»Äh, Jim …«, brummte ein nervöser McCoy, der links neben Valeris' Station stand.
Aber die anderen Offiziere schienen zu verstehen, unter ihnen auch Uhura, die leise murmelte: »Auf ein neues.«
Spock blieb ruhig und ließ sich nichts anmerken.
»Sie haben den Befehl gehört, Lieutenant«, wandte sich Kirk an die Vulkanierin.
Valeris wandte sich ernst ihrer Konsole zu und gehorchte.
Jim lächelte und lehnte sich im Kommandosessel zurück, als die Enterprise durch das seit wenigen Sekunden geöffnete Hangarschott in den Weltraum raste.
»Lieutenant …«, begann der Captain nach einer Weile.
Valeris sah ihn mit steinerner Miene an.
»Es ist mir völlig gleichgültig, ob ich senil bin. Solange ich in diesem Sessel sitze, führen Sie jede Order sofort aus.«
»Aye, Sir«, erwiderte die junge Frau.
»Berechnen Sie einen Kurs nach Kronos, Lieutenant.«
»Kronos, Sir?« Sie klang erstaunt. Nur die Senior-Offiziere hatten an der geheimen Besprechung teilgenommen und wussten von dem neuen Auftrag.
»Ich sitze noch immer im Kommandosessel«, erinnerte Kirk sanft.
»Aye, Sir.«
PERSÖNLICHES LOGBUCH DES CAPTAINS
STERNZEIT 9522.6
Es heißt, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. Vielleicht stimmt das. Ich halte unsere Mission, den Kanzler des klingonischen Hohen Rates zu eskortieren, zumindest für problematisch.
Ich habe den Klingonen nie getraut, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Wahrscheinlich hat McCoy recht: Ich sehe mich außerstande, ihnen den Tod meines Sohns zu verzeihen. Als Starfleet-Offizier ist es meine Pflicht, Befehle zu empfangen und sie zu befolgen. Auch diesmal nehme ich meine Verantwortung wahr – ich werde den Klingonen gegenüber volle diplomatische Höflichkeit an den Tag legen. Aber ich bin weiterhin davon überzeugt, dass die Verhandlungen mit ihnen zum Scheitern verurteilt sind. Unsere Kulturen unterscheiden sich zu sehr, und angesichts der Massaker von Kudao und Themis gibt es zuviel Hass in der Föderation. Die Klingonen haben bei uns zu viele verbitterte Überlebende hinterlassen. Spock hat von einer historischen Gelegenheit gesprochen, und ich würde ihm gern glauben. Aber wie kommt die Geschichte an Leuten wie mir vorbei?
Einige Stunden waren seit dem Raumdock-Manöver vergangen. Kirk saß am Schreibtisch in seiner Kabine, beendete den verbalen Eintrag in sein persönliches Logbuch und betrachtete ein Porträt Davids – Carol hatte es ihm vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt. Das holographische Bild zeigte ihn mit einem seltenen Lächeln und erlaubte es Jim, den Zorn des jungen Mannes zu vergessen.
Er hatte Carol einmal nach dem Grund dafür gefragt, und sie antwortete trocken: Erinnere dich an deine eigene Zeit als junger Erwachsener.
Das war natürlich lächerlich. Kirk entsann sich nicht daran, jemals eine so direkte und intensive Feindseligkeit empfunden zu haben wie David. Aber Carol blieb skeptisch.
Er vernahm ein diskretes Hüsteln und drehte sich um. Lieutenant Valeris stand in der offenen Tür. Hinter ihr erstreckte sich ein halbdunkler Korridor. Es herrschte ›Nacht‹ an Bord der Enterprise.
Plötzlicher Ärger über die Verletzung seiner Privatsphäre erfasste ihn, und Verlegenheit gesellte sich hinzu, als er daran dachte, dass sie vielleicht den Logbucheintrag gehört hatte. Er nahm sich vor, mit Spock zu reden und ihn aufzufordern, seinen Schützling auf die menschlichen Bräuche hinzuweisen, insbesondere auf Takt.
»Warum haben Sie nicht wenigstens angeklopft, Valeris?«
Ihr Gesicht wurde noch etwas grüner, aber sie wahrte die Fassung, als sie erwiderte. »Wir haben den Rendezvouspunkt fast erreicht, Captain. Ich vermutete, Sie wollten darüber informiert werden.«
»Ja.« Kirk griff nach seiner Jacke, streifte sie über und musterte die junge Frau aufmerksam. Er gewann den Eindruck, dass sie noch mehr sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte fand.
»Valeris«, murmelte er. »Das ist kein vulkanischer Name, oder? Er klingt fast … klingonisch.« Das war natürlich unmöglich. Nichts an ihr deutete auf eine klingonische Abstammung hin. Das äußere Erscheinungsbild entsprach ganz und gar dem einer Vulkanierin.
Dunkle Flecken entstanden auf ihren Wangen, und sie schüttelte kurz den Kopf. Kirk erinnerte sich an den anderen Protegé Spocks, Saavik. Hatte diese Frau den gleichen Hintergrund? Es mochte erklären, warum es ihr manchmal nicht gelang, die Gefühle unter Kontrolle zu halten.
»Darf ich ganz offen sprechen, Sir?«, fragte Valeris.
Jim sah sie erwartungsvoll an. Sie interpretierte seinen Gesichtsausdruck als stumme Erlaubnis und fuhr unbeholfen fort: »Ich nehme an, Sie sind von dieser Mission nicht sehr begeistert. Offenbar gilt das für viele Personen an Bord. Sir.«
Kirk richtete einen durchdringenden Blick auf Valeris und fragte sich, worauf sie hinauswollte. Als Vulkanierin und Spocks Protegé unterstützte sie zweifellos alle Bemühungen, friedliche Beziehungen zum Imperium herzustellen. Daher beunruhigten sie die starken anti-klingonischen Empfindungen, die sie bei der Crew spürte – und nun auch im Captain.
Jim war nicht in der richtigen Stimmung, sich einen Vortrag über Menschen, Klingonen und Vorurteile anzuhören, erst recht nicht von dieser unerfahrenen Frau, die gerade erst ihr Akademiestudium abgeschlossen hatte.
»Sie haben das Schiff geschickt aus dem Raumdock gebracht, Lieutenant«, sagte er gelassen.
Valeris lächelte fast. »Ich habe mir immer gewünscht, so etwas zu versuchen.«
Kirk trat an ihr vorbei. »Aber Sie sollten nicht versuchen, meine Gefühle zu analysieren.«
Valeris zögerte an der Tür von Spocks Quartier.
Einmal mehr fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, die Kabine des Captains zu betreten. Sie hätte sich von der Brücke aus mit Kirk in Verbindung setzen können, aber sie wollte ihm erklären, dass sie verstand, mit welchen besonderen Problemen ihn diese Mission konfrontierte. Sie wusste von Carol Marcus' Verletzungen und dem Tod seines Sohns, nicht von Dritten, sondern von einem Augenzeugen.
Außerdem: Sie musste einige Dinge auf diesem Deck erledigen und beabsichtigte, mit Spock zu sprechen.
Selbst jetzt fehlten ihr noch die Worte, um sich ihm gegenüber richtig auszudrücken. Valeris fürchtete, emotional und egoistisch zu klingen – ihr Versuch eines offenen Gesprächs mit dem Captain war fehlgeschlagen. Spock sollte auf keinen Fall glauben, dass er vergebliche Bemühungen in sie investiert hatte.
Sie erfuhr durch Zufall von seiner Funktion als Förderer, im Regierungsbüro von ShanaiKahr, wo sie die vulkanische Staatsbürgerschaft beantragte. Eine Vulkanierin in Starfleet-Uniform wartete in der Schlage. Schon als Kind hatte sich Valeris gewünscht, einmal einen Platz in der Flotte zu finden. Sie stellte der anderen Frau einige Fragen und hörte von Spocks Patronat.
Damit begann die Freundschaft zwischen ihr und Lieutenant Saavik.
Sie fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit ihr, obgleich Saavik zur einen Hälfte Vulkanierin und zur anderen Romulanerin war. In Valeris' Adern hingegen floss allein vulkanisches Blut. Trotz der unterschiedlichen Abstammung teilten sie eine gemeinsame Erfahrung: Niemand von ihnen war in der vulkanischen Tradition aufgewachsen; beide hatten sich erst später dafür entschieden. Und sie trugen keinen richtigen vulkanischen Namen.
Valeris plante zunächst, in ShanaiKahr ihren Namen ändern zu lassen, doch dann meinte Saavik: Spock hat mir gesagt, dass ich aufgrund meiner Herkunft einzigartig bin und daher einen eigenen Weg finden muss. Sie sind voll und ganz Vulkanierin, aber durch Ihre Vergangenheit werden Sie ebenfalls einzigartig. Sie erwiesen sich keinen guten Dienst, davon Abstand zu nehmen.
Beide Frauen bemühten sich sehr, die Lücken in ihrer Bildung zu schließen. Valeris ließ sich privat von einem vulkanischen Lehrer unterrichten, um jene emotionale Kontrolle zu erreichen, die fast alle Vulkanier schon als Kinder lernten.
Doch sie stieß noch immer auf Schwierigkeiten. Manche Außenweltler glaubten, Vulkanier hätten überhaupt keine Gefühle; sie hielten die Beherrschung aller Empfindungen für mühelos. Valeris wusste, dass man sie erst nach langen Jahren eines schwierigen Studiums erreichte.
Aus diesem Grund bewunderte sie Spock so sehr. Auch mit ihm fühlte sie sich verwandt: Sie hatten beide hart an sich gearbeitet, um etwas zu überwinden, das Außenstehende als ein Abstammungshandikap bezeichnen mochten. Sie fürchtete, ihn zu enttäuschen. Spock war zur einen Hälfte Mensch, und doch zeigte er eine weitaus bessere emotionale Kontrolle als sie.
Ab und zu hatte Valeris subtile Hinweise auf Gefühle in seinem Gesicht gesehen, aber sie vermutete, dass es sich dabei um Ergebnisse einer bewussten Entscheidung handelte.
Alles in ihr drängte danach, sich als würdig zu erweisen.
Sie betätigte den Türmelder und hörte die Stimme des Ersten Offiziers.
»Herein.«
Die Tür glitt beiseite, und hinter Valeris schloss sie sich wieder.
Das Quartier des Vulkaniers faszinierte sie. Er hatte sie nur zweimal in der Akademie besucht, und nun sah sie zum ersten Mal seine persönlichen Dinge. Die Kabine war funktionell, aber keineswegs kühl eingerichtet, spiegelte Spocks spezielle Persönlichkeit wider. Valeris bemerkte eine flackernde Statue, den Meditationsstein und einige antike Gegenstände von der Erde, darunter ein Chagall-Gemälde an der Wand.
Spock trug einen weiten Umhang und streckte die Hand aus, um eine Votivkerze zu entzünden.
»Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass wir den Rendezvouspunkt erreicht haben«, sagte Valeris.
Er nickte, schien es jedoch nicht so eilig zu haben wie der Captain. Seine Präsenz auf der Brücke wurde erst erforderlich, wenn das klingonische Raumschiff eintraf.
Spock drehte sich um und musterte sie. Allem Anschein nach spürte er, dass sie noch mehr sagen wollte. »Ihre Leistungen sind lobenswert, Valeris. Als Ihr Förderer an der Akademie habe ich Ihre Karriere mit … Zufriedenheit verfolgt. Und als Vulkanier stelle ich fest, dass Sie meine Erwartungen übertrafen.«
Vielleicht ahnte er auch ihre Besorgnis. Seine Worte weckten tiefe Dankbarkeit in der jungen Vulkanierin – und auch unlogische Verlegenheit. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und sie konnte kaum etwas dagegen unternehmen. Valeris hatte Biokontrolle erst spät in ihrem Leben gelernt und sah darin noch immer eine der größten Herausforderungen ihrer Studien. Sie drehte sich um und betrachtete das Chagall-Gemälde. Es entsprach einem alten irdischen Stil, mit dem sie nichts anzufangen wusste.
»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Spock, als sie den Blick weiterhin auf das Kunstwerk gerichtet hielt. Er deutete auf ein niedriges Sofa.
Valeris holte tief Luft und setzte sich. Es gab viele Dinge, die sie mit dem Ersten Offizier zu besprechen wünschte, und sie begann mit dem unwichtigsten Punkt. »Es lag heute nicht in meiner Absicht, dem Captain gegenüber respektlos zu sein …«
»Sie haben sich korrekt verhalten. Es war Ihre Pflicht, ihn an die Vorschriften zu erinnern. Blinder Gehorsam ist unlogisch.«
»Aber wenn ich mich nicht irre, hat Captain Kirk ihn von mir verlangt.«
»Er forderte Sie auf, ihm zu vertrauen. Ein großer Unterschied.«
Valeris runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht …«
»Er ging von der richtigen Annahme aus, dass sich das Hangarschott rechtzeitig genug für die Enterprise öffnen würde. In drei Monaten zieht er sich in den Ruhestand zurück, und er wollte zeigen, dass seine Fähigkeiten als kommandierender Offizier unbeeinträchtigt sind.« Spocks Züge offenbarten nun eine gewisse Wärme, wie von einem inneren Lächeln. »Außerdem übte er … Vergeltung an einem anderen Mitglied der Brückencrew. Ich glaube, der terranische Ausdruck lautet: den Spieß umdrehen.«
Valeris trachtete vergeblich danach, den Bedeutungsinhalt dieser Bemerkung zu erfassen. Nach einigen Sekunden des verwirrten Schweigens entschied sie, nicht um eine Erklärung zu bitten.
»Ich bin sicher, dass der Captain mit Ihrer Leistung zufrieden war«, fuhr Spock fort. »Sie haben das Schiff mit großem Geschick gesteuert und Ihr Wissen in Bezug auf Raumdock-Manöver unter Beweis gestellt.« Er zögerte und schien das Gespräch für beendet zu halten. Vermutlich rechnete er jetzt damit, dass die junge Frau sein Quartier verließ.
Valeris starrte noch immer auf den Chagall und überlegte, wie sie das nächste Thema anschneiden sollte.
»Gefällt Ihnen das Gemälde, Lieutenant?«
»Sein Sinn bleibt mir leider verborgen«, gestand sie ein.
»Es handelt sich um eine Darstellung aus der irdischen Mythologie. Die Verbannung aus dem Paradies.«
Erneut runzelte Valeris die Stirn. »Warum befindet sich das Bild in Ihrer Kabine?«
Spock gab nicht sofort Antwort. Als er schließlich sprach, erklang ein seltsamer Unterton in seiner Stimme.
»Es erinnert mich daran, dass irgendwann alles ein Ende findet.«
»Sir …« Valeris stand auf. »Gerade darüber möchte ich mit Ihnen sprechen. Ich wende mich als gleichgesinnter Intellekt an Sie. Sind Sie nicht ebenfalls der Meinung, dass die Föderation einen Wendepunkt erreicht hat?«
»Die Geschichte ist voller Wendepunkte«, erwiderte Spock, unbeeindruckt von der Intensität in Valeris' Worten. Als er ihre Verwunderung bemerkte, fügte er hinzu: »Haben Sie Vertrauen.«
»Vertrauen …?«
»Dass sich der Kosmos auf die richtige Weise entwickeln wird.«
»Ist das logisch?«, fragte Valeris. Dieser Rat ihres Mentors überraschte sie. Sie war ihm nur einige Male begegnet, glaubte jedoch, ihn gut zu kennen. In ihrer Vorstellung verkörperte er den Inbegriff der Logik und symbolisierte all das, was sie zu erreichen hoffte. Sie bewunderte Spocks Intelligenz und Selbstbeherrschung, doch jetzt gewann sie den Eindruck, keinem Vulkanier gegenüberzustehen, sondern einem Menschen. »Zweifellos sollten wir …«
»Klingonischer Schlachtkreuzer backbord voraus«, drang eine Stimme aus den Lautsprechern der internen Kommunikation. »Alle Besatzungsmitglieder zu ihren Stationen. Ich wiederhole …«
Mit einer geschmeidigen, routinierten Bewegung legte Spock den Meditationsumhang ab und streifte die Uniformjacke über.
»Logik ist der Beginn von Weisheit, Lieutenant, nicht ihr Ende«, sagte er, als sie beide zur Tür gingen. Bevor sich das Schott öffnete, blieb er noch einmal stehen und sah die junge Frau an. »Dies wird meine letzte Reise als Erster Offizier der Enterprise sein. Einer Vulkanierin mit Ihren Fähigkeiten sollte es nicht schwerfallen, eine solche Gelegenheit zu nutzen. Ihnen dürfte klar sein, dass die Natur ein Vakuum verabscheut. Ich möchte, dass Sie mich ersetzen.«
Valeris bemühte sich, eine Flut unvulkanischer Empfindungen zurückzudrängen. »Ich könnte nur Ihre Nachfolge antreten, Sir. Es ist unmöglich, Sie zu ersetzen.«
Sie schwiegen auf dem Weg zur Brücke. In Valeris' Gedanken warteten noch immer einige Dinge darauf, in ein verbales Gewand gekleidet zu werden, aber vielleicht war es besser, sie unausgesprochen zu lassen.
Kirk erreichte den Kontrollraum wenige Sekunden vor Spock und Valeris. Die drei Offiziere blickten zum Wandschirm und erstarrten förmlich.
Ein klingonischer Schlachtkreuzer schwebte besorgniserregend nahe auf der Backbordseite. Die Besatzungsmitglieder auf der Brücke versuchten, gelassen zu wirken, doch Chekovs Stimme verriet Anspannung, als er fragte: »Sollen wir die Deflektoren aktivieren, Captain?«
Valeris ging zu ihrer Konsole und nahm neben Chekov Platz.
Kirk warf seinem Ersten Offizier einen kurzen Blick zu und las die stumme Botschaft in Spocks Gesicht: Vertrauen Sie mir.
Er vertraute dem Vulkanier, doch nicht den Klingonen. Jim schnitt eine finstere Miene: Die Aktivierung der Schilde war alles andere als eine geeignete diplomatische Maßnahme. Trotzdem fühlte sich Kirk versucht, eine entsprechende Anweisung zu geben.
Er rang mit sich selbst – und verzichtete auf den Befehl.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Chekov ihn musterte. Als der Captain auch weiterhin schwieg, wandte er sich wieder dem Wandschirm zu.
»So nahe sind sie uns noch nie zuvor gewesen«, murmelte Kirk. Er hatte Klingonen an Bord empfangen, zuletzt Captain Klaa und die Crew des imperialen Schiffes Okrona. Aber selbst Klaa hatte einen respektvollen Abstand zur Enterprise gewahrt.
Hinzu kam: Im Vergleich zu dem riesigen Schiff, das sich nun im Projektionsfeld zeigte, war Klaas Kreuzer geradezu winzig gewesen.
Zum ersten Mal standen die Föderation und das klingonische Imperium davor, einen echten Frieden zu vereinbaren. Der von den Organianern erzwungene Vertrag hatte bestenfalls einen unsicheren Waffenstillstand geschaffen. Aber jetzt sind die Organianer verschwunden, dachte Kirk. Wären die Klingonen auch ohne die Explosion von Praxis zu uns gekommen?
»Der Kanzler wartet sicher auf unser Signal«, sagte Spock ruhig.
Jim atmete tief durch und bedachte den Vulkanier mit einem ›Ich hoffe, Ihr Vertrauen ist gerechtfertigt‹-Blick, bevor er im Kommandosessel Platz nahm. »Uhura, öffnen Sie die Grußfrequenzen. Steuermann, Rendezvousmanöver. Bringen Sie uns neben den Kreuzer.«
»Rendezvousmanöver«, bestätigte Lieutenant Valeris. »Z plus fünf Grad.«
»Kanal geöffnet, Captain«, meldete Uhura.
Jim fasste sich. »Hier spricht Captain James T. Kirk, Kommandant des Föderationsschiffes Enterprise.«
Auf dem Wandschirm wich das Bild des Schlachtkreuzers der Darstellung eines würdevollen Klingonen, gekleidet in roten und schwarzen Ornat – Zeichen der imperialen Aristokratie. Silbergraue Strähnen glänzten im gepflegten Bart des Mannes.
»Hier ist die Kronos Eins«, erwiderte er. »Ich bin Kanzler Gorkon.« Er sprach kultiviert und nicht in dem heiseren, rauen Tonfall anderer Klingonen.
Kirk nickte höflich, doch ein Teil von ihm erinnerte sich an Carol, David und das Kudao-Massaker, als er sagte: »Kanzler … Wir sind angewiesen, Sie durchs Raumgebiet der Föderation zu eskortieren und zur Konferenz auf der Erde zu bringen.«
»Danke, Captain«, entgegnete Gorkon mit entwaffnender Freundlichkeit.
»Darf ich Sie bitten, heute Abend an Bord der Enterprise mit mir und meinen Offizieren zu speisen, als Gäste der Vereinten Föderation der Planeten?«
Kirk spürte die erstaunten Blicke der Brückencrew.
Wenn dem klingonischen Kanzler etwas auffiel, so ließ er sich nichts anmerken. »Wir nehmen Ihre Einladung gern an«, sagte Gorkon glatt.
Kirk verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Wir treffen Vorbereitungen dafür, Ihren Transfer um neunzehn Uhr dreißig einzuleiten.«
Gorkon nickte förmlich. »Ich freue mich schon darauf.«
Der Schirm wurde ganz plötzlich dunkel.
Kirk drehte sich zu Spock um und murmelte: »Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden.«
»Captain …« Valeris stand auf.
Kirk sah sie an und befürchtete die Mitteilung, dass sich der klingonische Schlachtkreuzer in Deflektoren gehüllt und seine Waffensysteme mit Energie beschickt hatte.
Die junge Frau näherte sich dem Befehlsstand und senkte die Stimme, so dass nur der Captain sie hörte. »Wir haben romulanisches Bier an Bord. Vielleicht kann es für einen … reibungslosen Abend sorgen.«
Kirk starrte sie verblüfft an und erlaubte sich ein zurückhaltendes Grinsen. Ganz offensichtlich war Lieutenant Valeris keine typische Vulkanierin. Sie zeichnete sich durch eine Verwegenheit aus, die Jim gefiel, und sie hatte einen subtilen Sinn für Humor. Er beschloss, später mit Spock zu reden, um mehr über sie herauszufinden. »Eine ausgezeichnete Idee, Lieutenant.«
Doch als er mit Spock und McCoy zum Turbolift ging, wurde er das Gefühl nicht los, dass er eine Katastrophe heraufbeschwor, indem er Klingonen an Bord der Enterprise empfing.