Kapitel 1
»Riley! Was zum Teufel erlauben Sie sich?«
Dr. Jess Riley riss ihren Fuß vom Pedal, um die Durchleuchtung und damit die Röntgenstrahlen zu stoppen. Sie blickte zu dem Eindringling auf.
Wie ein Pitbull in grüner OP-Kleidung stürmte Dr. Watts in das Herzkatheterlabor. Er kam nur wenige Zentimeter vor ihrem Patienten zum Stehen.
Ihr Team, von Kopf bis Fuß steril gekleidet, erstarrte.
Jess warf ihm einen Ist-es-nicht-offensichtlich-Blick zu und wies auf das große Schild, auf dem die Worte Röntgen aktiv leuchteten, das ihn eigentlich hätte aufhalten sollen. »Worum es auch immer geht, jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt.«
»Sie haben meinen Patienten gestohlen! Sind Sie so verzweifelt auf der Suche nach Eingriffen, dass Sie sich auf der chirurgischen Station rumtreiben und meine Patienten wildern? Sie Miststück!« Kleine Speicheltropfen flogen aus seinem Mund, da er nicht einmal den für alle verpflichtenden Mundschutz trug.
Jess straffte ihre Schultern und richtete sich zu ihren vollen eins achtundsiebzig auf. Keine einfache Sache, da die Bleischürze, die ihren ganzen Körper schützte, nach dem zweistündigen Eingriff gefühlt eine Tonne wog. Schweiß lief ihr zwischen den Schulterblättern hinab und wurde von ihrer OP-Kleidung aufgesogen. Sie ignorierte ihre Müdigkeit und die Unbequemlichkeiten und fixierte Watts mit ihrem eisigsten Blick. »Ich habe keine Ahnung, woher Ihre Vorwürfe kommen. Aber ich werde das nicht hier mit Ihnen diskutieren − vor einem Patienten und während einer Intervention.« Sie erinnerte ihn nicht daran, dass sie als Oberärztin in der Kardiologie weder ihm noch irgendeinem anderen Herzchirurgen Rechenschaft schuldete.
Er hielt ihrem Blick stand, ohne auch nur einen Millimeter nachzugeben. Schließlich schnaubte er. »Es gibt nichts zu diskutieren. Ihr Chef wird von mir hören. Er wird den Tag noch bereuen, an dem er der Verwaltung nachgegeben und eine Frau eingestellt hat, um Männerarbeit zu erledigen.« Er hämmerte auf den Türschalter ein, als ob sich damit die elektronische Tür seinem Willen beugen und sich schneller öffnen würde. Sobald der Spalt weit genug war, stürmte er hinaus.
Hing dieser Mann geistig im Mittelalter fest? Jess knirschte unter ihrem Mundschutz mit den Zähnen. Die Drohung, dass er mit dem Chefarzt der Kardiologie reden wollte, beeindruckte sie nicht im Geringsten. Sie vertraute ihrem Chef und würde auch mit ihm sprechen müssen − über Dr. Watts’ inakzeptables Verhalten.
Aber der Vorwurf schmerzte trotzdem. Dachten noch andere Kollegen, sie wäre wegen irgendeiner Frauenquote eingestellt worden? Hatte sie diesen Mist nicht vor Jahren hinter sich gelassen?
Sie schüttelte den Kopf, um die Gefühlsduselei zu vertreiben, bevor Tränen kamen. In der letzten Zeit waren ihre Schutzwälle hauchdünn wie eine Eisschicht im Frühjahr, jederzeit kurz vorm Zerspringen. Aber sie würde ihren Hormonen nicht die Vorherrschaft überlassen und den Idioten, die dachten, Frauen hätten nichts in der Medizin zu suchen, recht geben. Insbesondere nicht jetzt.
»Geht es dir nicht gut? Soll ich weitermachen?« Scotts Stimme triefte geradezu vor Freundlichkeit.
Natürlich war das Pfadfindergetue eine Fassade. Er war genauso ehrgeizig wie jeder andere kardiologische Assistenzarzt, jederzeit bereit, Jess aus ihrem Territorium zu vertreiben, sobald sie auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigte. Haie. Jeder Einzelne von ihnen.
Sich über ihren jüngeren Kollegen aufzuregen, half ihr, ihre Fassung wiederzugewinnen. »Nein.« Er war in seiner Ausbildung noch nicht so weit, als dass sie ihm einen Hochrisikopatienten anvertrauen würde.
»Hey, ich habe ja nur gefragt.« Scott schmollte, was kein attraktiver Gesichtsausdruck für ihn war.
Es gab keinen Grund, so kurz angebunden zu sein, aber sie war wirklich nicht in der Stimmung, auf noch ein männliches Ego Rücksicht zu nehmen.
Jess lehnte sich über das sterile Abdecktuch, um nach ihrem Patienten zu sehen. Er schnarchte sanft vor sich hin, unverändert, seitdem er das Beruhigungsmittel erhalten hatte. Immerhin lief hier alles nach Plan.
Sie traf Kaylas Blick über dem Mundschutz. In den dunkelbraunen Augen der Krankenschwester spiegelte sich nur Unterstützung wider, keine Vorwürfe. »Lass uns das hier schnell beenden und dann einen Kaffee zusammen trinken.«
Kaffee klang himmlisch. Jess verbannte die Reste von Ärger, Frustration und Erschöpfung in die Tiefe ihres Unterbewusstseins und fuhr mit der Herzkatheteruntersuchung fort. Vor der Unterbrechung war der anspruchsvollste Teil bereits erledigt gewesen und den Rest konnte sie im Schlaf beenden.
Fünfzehn Minuten später schob Scott den Patienten in den Aufwachraum.
Jess schälte sich aus dem sterilen Papierkittel und den Handschuhen. Der Luftzug der Klimaanlage verursachte eine Gänsehaut auf ihren Armen. Sie öffnete die Bleischürze, um sich noch mehr abzukühlen, und streckte sich. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihre Füße hochzulegen.
Kayla sortierte die Instrumente vom Tisch und entsorgte die Nadeln und das Skalpell im Abwurfcontainer. »Kommst du am Samstag auch zur offenen Praxis?«
»Nein, ich habe die Schicht getauscht. Meine Mutter hat am Wochenende Geburtstag.« Und Jess durfte ihn nicht zum zweiten Mal in Folge verpassen. Davon abgesehen waren ein Besuch und ein Gespräch längst überfällig. Bei dem Gedanken an die Reaktion ihrer Mutter wurde ihr flau im Magen. Vielleicht sollte sie doch lieber in die offene Praxis gehen. Acht bis zehn Stunden ehrenamtliche Sprechstunde für Menschen ohne Krankenversicherung zu halten, klang geradezu erholsam im Vergleich zu einer ernsthaften Diskussion über ihre Zukunftspläne.
»Die Patienten werden dich vermissen, aber deine Mutter geht natürlich vor.« Kayla knüllte das sterile Abdecktuch zusammen und stopfte es in den Mülleimer. »Was meinte Watts, als er sagte, du hättest seinen Patienten gestohlen?«
Jess zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung. Sie sah jeden Monat hunderte Patienten und musste wirklich keine zusätzlichen rekrutieren.
Bevor sie antworten konnte, kam Scott zurück. Er wirbelte seinen Mundschutz um seinen Finger. »Wir haben ihn nicht gestohlen. Er wollte keine Operation. Wirklich nicht. Sheila hat das gesagt.«
»Was? Wer wollte keine OP?« Jess runzelte die Stirn. »Und wer zum Teufel ist Sheila?«
»Ähm, Sheila ist meine Freundin. Sie ist Schwester auf der herzchirurgischen Station.« Scott strahlte, als er ihren Namen nannte. »Ich denke, dass Dr. Watts unseren letzten Patienten eben gemeint hat. Bei ihm war eigentlich eine Bypassoperation geplant, aber er hatte Angst davor. Sein Sohn und die Chirurgen haben ihn dazu gedrängt und Sheila hat mir den Tipp gegeben, dass ich ihn mir ansehe. Und dann habe ich mit ihm geredet und …« Er verstummte und sah Kayla mit großen Augen an.
»Du meinst, du hast wirklich bei den Herzchirurgen gewildert? Und jetzt beschuldigt Dr. Watts Jess.« Kaylas Miene verhärtete sich und sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hey, ich hatte recht. Alles lief super. Wo kein Kläger, da kein Richter.« Scott versuchte es mit seinem charmantesten Kleiner-Junge-Grinsen.
Das half ihm so gar nicht. Jess knirschte mit den Zähnen und kämpfte gegen den Drang an, laut zu werden. »Ja, alles lief gut. Aber du hast keine verdammte Ahnung, was du angestellt hast. Du hast mich angelogen. Du hast mir nicht nur die Vorgeschichte verschwiegen, sondern mir eine glatte Lüge aufgetischt − nämlich, dass die Herzchirurgen den Fall an uns verwiesen haben.«
»Aber ich wollte nur –«
Jess hob ihre Hand. Sie war nicht in der Stimmung für Jammern und uneinsichtige Argumente. »Nein. Ich will nichts von deinem Mist hören. Denk darüber nach, was du getan hast, und dann entschuldigst du dich bei Dr. Watts.« Sie hielt den Blickkontakt, bis er den Kopf senkte.
Jess wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als eine Welle der Übelkeit sie erfasste. Oh, Scheiße. Nicht jetzt. Sie riss sich die Bleiweste und den einschneidenden Bleirock vom Körper und warf sie auf den Hocker in der Ecke. Aber das half auch nicht.
Als ob ein Bär hinter ihr her wäre, rannte sie zur Toilette. Jess schaffte es gerade noch rechtzeitig und verlor sowohl ihr Frühstück als auch den letzten Rest Würde.
Nachdem ihr Magen sich beruhigt hatte, kniete sie auf den kühlen Fliesen und versuchte, genügend Energie zu sammeln, um wieder aufzustehen.
»Jess?« Kaylas Stimme drang durch die geschlossene Toilettentür. »Alles okay?«
»Eine Minute.« Jess erhob sich auf wackeligen Beinen und bediente die Klospülung. Sie wollte sich in die Wangen kneifen und die Haare richten, musste sich aber auf jeden Fall vorher die Hände waschen. Igitt. Unbeabsichtigt hatte sie den ekligen Toilettensitz wie einen Rettungsring umklammert.
Jess hob ihr Kinn, öffnete die Tür und schob sich an Kayla vorbei. Sie wusch ihre Hände zweimal, desinfizierte sie und spülte sich dann auch noch den Mund aus. Schließlich fuhr sie mit den nassen Fingern durch die Haare und riskierte einen Blick in den Spiegel. Ja, sie sah aus wie der Tod und kein noch so frisches Wasser würde jetzt dagegen helfen.
Kaylas besorgter Blick traf sich mit ihrem im Spiegel. Ihre Haut wirkte neben Jess’ unnatürlicher Blässe noch dunkler als normalerweise.
Mit einem Seufzen drehte sich Jess um und lehnte sich an das Waschbecken. »Mir geht’s gut.«
»Oh, nein.« Kayla hob einen Mundwinkel zu einem Halblächeln. »Hast du deinem Welpen nicht gerade einen Vortrag über das Lügen gehalten?«
Jess musste gegen ihren Willen grinsen. »Er ist nicht mein Welpe, ich habe ihn heute nur Gassi geführt.«
»Darum geht es hier nicht. Was stimmt nicht? Bist du krank?« Sie musterte Jess von Kopf bis Fuß. »Ist dir der idiotische Herzchirurg mit seinen Kommentaren so nahegegangen?«
Sie könnte mit Ja antworten und es dabei belassen. Aber Kayla war eine der wenigen Freundinnen, die sie auf der Arbeit hatte, und sie hatte recht. Lügen kam nicht infrage. Jess hatte die Wahrheit allerdings noch niemandem gesagt, noch nicht einmal ihrer Mutter, und sie war sich nicht sicher, ob sie jetzt dazu bereit war.
»Wenn du irgendjemand anders wärst, würde ich dich ja fragen, ob du schwanger bist. Aber ich denke eher nicht.« Kayla lachte. »Du bist immer noch lesbisch, oder?«
»Ja, zumindest, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe. Aber das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun.« Die Worte entfuhren ihr, bevor Jess sie richtig überdacht hatte. Ups. Sie hielt den Atem an und wartete auf Kaylas Reaktion.
»Nein! Bist du …? Du kannst doch nicht …« Kaylas Augen weiteten sich, als sie Jess’ durchgeschwitztes Oberteil musterte, das an ihrem Oberkörper klebte und mehr Kurven als normalerweise betonte. »Du bist schwanger? Wie? Nein, streich das. Warum? War das geplant?« Sie schlug beide Hände vor dem Mund zusammen, konnte aber nicht ihr breites Grinsen dahinter verbergen.
»Ja. Ich bin in der dreizehnten Woche.« Es endlich laut auszusprechen, kam einem Outing gleich. Die Last hob sich von ihren Schultern und ihr wurde schwindelig. »Ich dachte, es wäre an der Zeit. Ich bin gerade siebenunddreißig geworden. Wenn ich auf die perfekte Beziehung warte, bin ich vielleicht irgendwann schon zu alt.« Zumindest war das ein Grund, den sie offen ansprechen wollte.
»Herzlichen Glückwunsch!« Kayla umarmte sie.
»Danke.« Jess genoss die Freude, die ihre Freundin ausstrahlte. Aber allzu schnell drängte sich die Realität in den Vordergrund. »Bitte sag es keinem.«
»Klar. Ich klatsche nicht. Aber früher oder später weiß es sowieso jeder.« Kayla deutete auf Jess’ Mitte.
Jess seufzte. »Ja, aber du kennst unsere Dienstanweisung: keine Schwangeren im Herzkatheterlabor. Studien und Empfehlungen sagen alle, dass es sicher ist, aber den Chefarzt der Kardiologie interessiert das nicht.«
»Meine Lippen sind versiegelt.« Kayla machte eine quer über den Mund gezogene Reißverschlussgeste. »Aber hoffentlich hat Scott keinen hellen Moment und zählt eins und eins zusammen. Du sahst ganz schön grün aus, als du rausgerannt bist.«
Jess sackte zusammen und stützte sich auf das Waschbecken. Die Zeit lief ihr davon, aber sie war entschlossen, ihre Fähigkeiten bestmöglich zu nutzen, so lange sie durfte.
Jess biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen, als eine erneute Wehe kam. Nein, keine richtige Wehe. Probewehe. Verdammt unpraktisch, aber nichts, mit dem sie nicht klarkam. Sie war schon den ganzen Tag damit fertiggeworden, genauso wie sie alle anderen Herausforderungen der letzten neun Monate gemeistert hatte.
»Und deswegen habe ich Sie angerufen.« Die Assistenzärztin der Notaufnahme hatte endlich aufgehört, über das EKG zu schwafeln, und zeigte ihr den Ausdruck. Sie strahlte wie ein Kindergartenkind, das seinen ersten Regenbogen gemalt hatte. Mit ihrem fröhlich hüpfenden, blonden Pferdeschwanz sah sie auch nicht viel älter oder schlauer aus.
Mit einem Blick erkannte Jess im EKG ein harmloses Vorhofflimmern ohne Hinweis auf einen akuten Herzinfarkt. Was für eine Zeitverschwendung. Sie hätte ihrem eigenen Assistenzarzt vertrauen sollen, den Fall eigenständig abzuschließen, aber sie hatte sich schon immer lieber auf ihr eigenes Urteil verlassen. Insbesondere jetzt, da sie für die letzten fünf Monate ihrer Schwangerschaft aus dem Herzkatheterlabor verbannt worden war − eine Ewigkeit für eine interventionelle Kardiologin. Schließlich hatte sie ihre Subspezialisierung nicht gewählt, um hinter einem Schreibtisch gefangen zu sein.
Jess wandte sich an die Patientin. »Hatten Sie schon einmal einen unregelmäßigen Puls?«
»Die ganze Zeit. Deswegen habe ich ja die kleinen weißen und gelben Pillen. Merke ich aber eigentlich gar nicht.« Die Falten im Gesicht der Patientin vertieften sich. »Was hat das mit meinen Schmerzen zu tun?«
»Schmerzen? Wo?« Vielleicht wurde es doch noch interessant.
Sie zeigte auf ihren Unterbauch. »Immer wenn ich pinkle. Brennt höllisch.«
Überhaupt nicht interessant für eine Kardiologin. »Ihr unregelmäßiger Puls hat damit nichts zu tun.« Jess lächelte die Patientin an, aber vermutlich wirkte es eher wie Zähnefletschen, weil genau in diesem Moment eine weitere Schmerzwelle durch ihren Körper jagte.
Die Assistenzärztin erblasste und eines ihrer Augenlider fing an zu zucken.
Jess konnte die Angst fast riechen. Gut. Diese Assistenzärztin würde es sich in Zukunft genau überlegen, bevor sie die Kardiologieabteilung wegen solch eines trivialen Quatsches rief, ohne das mit ihren Oberärzten zu klären. »Wollen Sie etwas hinzufügen?« Die Frage war rhetorisch, aber die Assistenzärztin schien das nicht zu erkennen.
Es war schon fast komisch, mit anzusehen, wie sie all ihren Mut zusammenraffte. Sie richtete sich auf, hob ihr Kinn an und umklammerte das EKG, bis ihre Fingerknöchel blass wurden und das Papier knitterte. »Ähm, Diana hat gesagt, sie hat in einer Studie gelesen, dass Frauen unterdiagnostiziert werden, da sie atypische Schmerzen haben, und ich dachte …«
Okay. Das war ein guter Punkt, aber Jess war nicht in der Stimmung, sich einen Vortrag von jemandem anzuhören, der ein Dutzend Jahre jünger war und sich für zu schlau hielt, um sich an die Abläufe zu halten. Außerdem hatte sie sich das EKG angesehen. Ihr Ausflug in die Notaufnahme war völlig überflüssig gewesen. »Waren Sie überhaupt an der Uni? Was ist die wichtigste Regel? Pferde! Schlagen Sie es nach!« Eine neue Schmerzwelle raubte ihr den Atem. Jess biss die Zähne zusammen.
Die Oberlippe der Assistenzärztin zitterte und Jess bedauerte ihre Worte, insbesondere vor der Patientin.
Sie konnte nur hoffen, dass sich die nette alte Dame nicht über sie beschweren würde, obwohl Jess’ Verhalten das durchaus rechtfertigte.
Wann hatte sie sich in eine dieser schreienden Oberärztinnen verwandelt, die Assistenzärzte mit den immer gleichen alten Sprüchen einschüchterten? Wenn du Hufe hörst, sind es immer Pferde und nie Zebras. Das mochte vielleicht einen Kern Wahrheit enthalten, war aber kein Grund, die junge Kollegin derart anzugreifen. Jess hatte sich mehr als einmal in derselben Position befunden. Das Gefühl der Hilflosigkeit, während jemand ihre Autorität untergrub, war das Schlimmste.
Zusätzlich zu den Schmerzen konnte sie sich jetzt nicht auch noch um eine emotionale Assistenzärztin kümmern. Jess würde sich entschuldigen oder ihr etwas beibringen oder tun, was auch immer nötig war, um es wiedergutzumachen. Aber später. Viel später.
Jess drehte sich auf dem Absatz um, so schnell es mit der Eleganz eines gestrandeten Wals eben möglich war. Sie musste hier heraus und einen Ort finden, an dem sie runterkommen konnte und die Gelegenheit hatte, tief durchzuatmen. Sie riss die Tür zum Flur auf und stürmte los.
Und kollidierte prompt mit einem Hindernis. Ein lebendiges Hindernis, das ihren Bauch und Arm berührte.
»Finger weg! Was stehen Sie hier im Weg herum?« Jess starrte die dunkelhaarige Frau in OP-Kleidung an. Sie kam ihr vage bekannt vor.
Wer auch immer diese Person war, sie war klug genug, ihre Hände in einer beschwichtigenden Geste zu heben und aus dem Weg zu gehen.
Jess hastete an ihr vorbei, kam aber nicht weit, bis die nächsten Krämpfe sie stoppten. Sie drückte ihre Hände auf den Bauch, als ob das helfen würde, und hechelte, bis die Schmerzen vorbei waren.
»Dr. Riley, geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen helfen?« Die Frau war ihr gefolgt.
»Gut? Mir geht es seit neun verdammten Monaten nicht mehr gut.« Nicht seitdem sie die schlaue Idee gehabt hatte, ein Kind zu bekommen, bevor sie zu alt dafür wurde. Ihre Stimme zitterte und sie umklammerte ihren Bauch. »Ich habe heute keine Zeit für so was.«
»Wollen Sie sich hinlegen? Soll ich Ihren Gynäkologen anrufen?« Die Frau sah sich um, als würde sie erwarten, dass jemand von der Gynäkologie um die Ecke kam.
Jess zuckte mit den Schultern in der Hoffnung, unbekümmert zu wirken. »Das sind nur Vorwehen. Kein Grund, jemanden anzurufen. Ich habe noch Arbeit zu erledigen.« Sie kämpfte darum, die Kontrolle über ihre Stimme wiederzuerlangen. Keiner musste etwas von den Schmerzen erfahren. Sie hatte alles im Griff und wusste, was sie tat.
Die andere Frau musterte sie für einen Moment und setzte dann ein professionelles Lächeln auf. »Wir können Sie ganz kurz durchchecken, ohne Sie anzumelden. Wenn Sie recht haben, können Sie danach sofort wieder an die Arbeit gehen.«
Das Lächeln kitzelte ihr Gedächtnis. Kayla hatte ihr Bilder gezeigt, als sie Jess von dem Skandal in der Notaufnahme erzählt hatte. Eine der Assistenzärztinnen war ein ehemaliger Rockstar und als das bekannt geworden war, hatte es die Aufmerksamkeit der Medien erregt. »Du bist die Rockerbraut, oder?« Jess deutete mit ihrem Finger auf sie. »Was weißt du schon?«
Das brachte ihr Gegenüber zum Schweigen. Sie sah aus, als hätte sie eine Zitrone verschluckt.
Mist. Das war extrem unprofessionell und unfair. Jess schluckte eine Entschuldigung herunter und setzte sie auf die lange Liste von impulsiven Taten, die sie bereute und irgendwann wiedergutmachen musste. Immerhin schien ihre Beleidigung zu wirken.
Die Kollegin protestierte nicht, als Jess sie einfach stehen ließ.
Jess war sich bewusst, dass sie in ihre Abteilung zurückkehren, ihre Füße hochlegen und einen der schrecklichen Kräutertees ihrer Mutter trinken sollte. Aber sie brauchte zehn Minuten allein an der frischen Luft. Also wählte sie den Umweg über den Hinterausgang und den kleinen Garten.
Sie hatte die Bank fast erreicht, als sie hastige Schritte hinter sich hörte.
»Dr. Riley, es tut mir leid, dass ich Sie hier draußen störe, aber Sie sollten jetzt nicht allein sein.«
Jess runzelte die Stirn. Sie öffnete ihren Mund, um zu protestieren, aber kein Ton kam heraus. Ihr Puls hämmerte schneller und dröhnte in ihren Ohren. Sterne tanzten durch ihr Blickfeld. Sie wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Jess schwankte und streckte die Arme aus, als würde sie auf einem Stamm über einen Bach balancieren, dann fiel sie. Eine weiche und flauschige Dunkelheit umgab sie und endlich war der Schmerz in ihrem Bauch verflogen.
Und dann kam der Schmerz zurückgeschossen und verdrängte die Dunkelheit. Er war heftiger als jemals zuvor und ihr Rücken und ihre Brust taten nun ebenfalls weh.
»Dr. Riley?« Jemand schüttelte sie.
Als Jess die Augen öffnete, sah sie nur blau. Warum war der Himmel direkt über ihr?
»Was … was ist passiert? Warum liege ich auf dem Boden?« Sie umklammerte ihren Bauch und stöhnte. Nach einem Moment war der Schmerz wieder vorbei. Sie sah langsam von einer Seite zur anderen, um sich zu orientieren. Eine vertraute Figur beugte sich über sie. Warum konnte die Frau sie nicht allein lassen? Sie brauchte nur eine Minute, um richtig durchzuatmen, und alles würde sich wieder einrenken. »Hey, Rockerbraut! Ich habe gesagt, ich brauche keine Hilfe!«
Ein Muskel zuckte in der Wange der Assistenzärztin. »Das war, bevor Sie in Ohnmacht gefallen sind. Jetzt halten Sie die Klappe und lassen mich helfen. Außerdem heißt das für Sie bitte Dr. Rockerbraut .« Ihr Tonfall war ruhig, direkt und voller Autorität.
Bevor Jess wusste, wie ihr geschah, nickte sie. Vielleicht hatte sie sich vorhin ihren Kopf gestoßen.
»Können Sie sich aufsetzen?« Die Frau bot ihr ihre Hand an.
Jess’ Schwindel hatte sich gelegt. Sie wollte keine Hilfe von der hartnäckigen Assistenzärztin. »Ich bin nicht ohnmächtig geworden«, murmelte Jess, mehr zu sich selbst. Sie brauchte beide Hände, um sich in eine sitzende Position zu stemmen.
»Ohnmächtig, kollabiert, nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie hatten eine Synkope und eine Tachyarrhythmie. Jetzt lassen Sie mich schauen.« Die Rockerbraut spielte Doktor, zog Handschuhe und Stethoskop aus ihrer Tasche und führte eine schnelle körperliche Untersuchung durch, bevor Jess protestieren konnte. Vielleicht wusste sie ja doch, was sie tat. Sie hatte die letzten Male, als sie die Kardiologie um ein Konsil gebeten hatte, auch kompetent gewirkt. Wie war ihr Name noch mal? Diana oder so?
Als Diana ihren Bauch berührte, verhärtete er sich mit einer erneuten Wehe.
Scheiße, sollten Vorwehen wirklich so schmerzen? Wie viel schlimmer würden dann die echten Wehen werden? Aus purem Instinkt griff Jess nach der Hand auf ihrem Bauch und ignorierte Dianas stöhnenden Protest. Das geschah ihr recht. Sie hatte sich schließlich aufgedrängt.
Sobald die Vorwehe vorbei war, zog das Weichei ihre Finger zurück und schüttelte sie aus.
Wenn Jess nicht so wütend auf alles gewesen wäre, hätte sie über den gepeinigten Gesichtsausdruck gelacht.
Diana presste die Lippen zusammen und schlang sich das Stethoskop um den Hals. »Schaffen Sie es bis zur Bank, wenn ich helfe?«
Als Jess sich bewegte, musste sie zwei Dinge feststellen: Ihre Hose war nass und ihre Knie hatten sich in Wackelpudding verwandelt. War sie ausgerutscht und in einer Pfütze gelandet? Das würde ihren Sturz erklären. Eine weitere Erklärung blitzte in ihrem Bewusstsein auf, aber das war nichts, mit dem sie sich jetzt befassen wollte.
Erst einmal musste sie hochkommen und Abstand zu der nervigen Assistenzärztin gewinnen. Da sie das Letztere nicht ohne das Erstere erreichen konnte, akzeptierte sie Dianas Hilfe. Es war nicht einfach und beide schnappten nach Luft, als Jess sich endlich auf die Bank sinken ließ.
Diana stand über ihr, viel zu nah, und rollte auf den Fußsohlen vor und zurück, als würde sie sich auf ein Tennismatch vorbereiten. Ihr konzentrierter Blick wirkte wie der einer Profiathletin. »Sie können auf keinen Fall wieder reingehen.«
Na, vielen Dank. Das war ja offensichtlich. Aber Jess wollte Diana nicht die Genugtuung bereiten, ihr zuzustimmen. »Lass mir zehn Minuten Zeit, Rockerbraut, und mir geht’s gut.« Sie legte sich hin, um sich auszuruhen, und strich ihr schweißnasses Haar aus der Stirn. Sie würde sich eine kurze Erholung erlauben und dann wieder aufstehen und sich dem Rest ihres Arbeitstages stellen.
»Was soll das werden? Hören Sie auf, die Realität zu verdrängen. Sie stecken mitten in der Geburt und ich weiß nicht, ob wir zehn Minuten haben.«
Geburt? War das wirklich schon die Geburt ihres Kindes? Das ist viel zu früh. Ich bin noch nicht bereit! Das erste Kind kam nie zu früh. Sie war ziemlich sicher, dass sie das irgendwo gehört hatte. Sie hatte die medizinischen Aspekte des Geburtsvorgangs nachlesen wollen, hatte aber geglaubt, noch genug Zeit zu haben. Der Kaiserschnitt war erst in zehn Tagen geplant.
»Können Sie Ihr Telefon entsperren, damit ich Bescheid sagen kann und jemand eine Trage bringt? Ich habe meines nicht dabei.« Diana hielt ihr ein Handy hin.
Ihre Stimme drang kaum durch die Gedanken, die in Jess’ Kopf polterten und klapperten wie eine kaputte Waschmaschine.
Woher hatte sie Jess’ Handy? Egal. Grummelnd entsperrte Jess es und gab es Diana zurück.
Wie konnte sie wissen, ob sie die Realität wirklich verdrängte, wenn doch der ganze Sinn und Zweck von Verdrängung war, ihren Verstand vor Dingen zu beschützen, die sie nicht wissen musste? Und warum dachte sie über psychologische Abwehrmechanismen nach, während ihr Körper von einer Schmerzwelle nach der anderen zerrissen wurde? Jess biss die Zähne zusammen.
Was auch immer Diana am Telefon sagte, Jess hörte kein Wort.
Sie umklammerte ihren Bauch und versuchte, den Schmerz wegzuatmen. Als ob das plötzlich funktionieren würde, nachdem es ihr stundenlang nichts genutzt hatte.
Hitze schoss in ihre Wangen. Oh, verdammt! Sie war zu dickköpfig gewesen, um die Wahrheit zu akzeptieren. Schmerzwellen. Stundenlang. Dr. Rockerbraut hatte recht. Es passierte jetzt. Sie war mitten in der Geburt und ihre Fruchtblase war geplatzt. Jess wusste nicht, ob sie lachen, weinen oder sich selbst in den Hintern treten sollte.
Seitdem sie beschlossen hatte, schwanger zu werden, war alles in die Binsen gegangen. Ihre Arbeit, die Beziehung zu ihrer Mutter, ihr Körper. Es war daher nur passend, dass ihr Körper sie verriet und sich entschlossen hatte, die Wehen einzuleiten, anstatt sich an den Masterplan zu halten − ein schöner schmerzfreier Kaiserschnitt mit all der professionellen medizinischen Unterstützung, die man sich nur wünschen konnte.
Stattdessen bekam Jess eine schmutzige Parkbank und einen ehemaligen Rockstar als Hebamme. Einfach perfekt.
»Dr. Riley, ich muss Sie ausziehen und nachsehen, wie weit Sie sind.«
Jess ließ ihren Kopf nach hinten fallen und nickte. Was blieb ihr sonst übrig?
Obwohl Diana vorsichtig arbeitete, verfing sich Jess’ feuchte Hose an den hässlichen geschwollenen Knöcheln und klebte an ihren Beinen wie eine zweite Haut.
Jess biss sich auf die Lippe und schaute weg, während Diana die Hose abschälte. Als eine erneute, weitaus schmerzhaftere Wehe begann, konnte sie nicht anders, als ihre Beine anzuziehen und zu stöhnen.
Diana blickte zum Krankenhausausgang, als ob sie lieber fliehen statt helfen würde.
Ihr ging es genauso. Wenn Jess eine Wahl hätte, wäre sie schneller von hier verschwunden, als dass sie Geburt sagen konnte. Die Realität der Situation traf sie wie ein Schlag in den Solarplexus und raubte ihr den letzten Atem. Sie war hier mit einer Assistenzärztin, die noch nicht einmal in der Gynäkologie arbeitete. Allein. Mitten in der Geburt ihrer Tochter. Was, wenn ihrem Baby etwas passierte?
Denk nach, Jess. Du bist Ärztin. Was ist der beste Plan, um dein Kind zu beschützen? Ohne Zweifel war der sicherste Ort für ihr Baby in ihrer Gebärmutter. Sie musste alles tun, um ihre Tochter so lange wie möglich drinnen zu lassen. Verzögere alles, bis Hilfe kommt. Kein sehr ausgefeilter Plan, aber das Beste, was ihr im Moment einfiel.
Diana nickte entschlossen. Aber als sie ihren Blick zwischen Jess’ Beine senkte, erblasste sie. »Sie müssen pressen.«
War sie wahnsinnig? »Ich kann nicht. Nicht jetzt. Das ist nicht der Plan.« Jess’ Augen brannten vor Tränen.
»Wollen Sie mich verarschen? Scheiß auf den Plan. Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Der Kopf kommt schon und Sie müssen pressen − jetzt!« Trotz ihrer harschen Worte waren Dianas Hände sanft, als sie Jess’ Beine auseinanderzog. Sie hielt die ganze Zeit Blickkontakt.
Jess war nicht überzeugt, dass Pressen die beste Option war. Warum hatte sie sich nicht auf so etwas vorbereitet? Sie plante doch immer alle verdammten Details.
»Hören Sie mir zu.« Diana senkte ihre Stimme und drückte ermutigend Jess’ Knie. »Es tut mir leid, dass die Geburt nicht so abläuft, wie Sie geplant haben, aber Ihr Kind scheint genauso stur zu sein wie Sie. Wir schaffen das, aber nur, wenn Sie mitarbeiten. Also, wenn die nächste Wehe kommt, pressen Sie. Okay?« Ihr Gesichtsausdruck war so selbstbewusst, als hätte sie das schon tausendmal gemacht.
Eine weitere Wehe kam und Jess’ Zeit war abgelaufen. »Scheiße!« Sie brüllte das Wort wie einen Kriegsschrei und presste.
»Oh, ja, Scheiße!« Die Assistenzärztin schrie zurück, als würden sie gemeinsam in die Schlacht stürmen.
Jess’ Welt reduzierte sich auf einen blutigen Kampf voller Schmerzen, Flüche und Stöhnen. Sie nahm keine Einzelheiten mehr wahr. Ihr einziger klarer Gedanke war Pressen und das tat sie, bis ein neuer Schrei durch den Nebel in ihrem Verstand drang.
Ein schriller Schrei voller Ärger auf die unfaire Welt, voller Bedürfnis, dazuzugehören, voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Und als das schreiende Bündel in ihre Arme gelegt wurde, verschwand Jess’ Schmerz unter einem Schwall von Hormonen und purer Liebe.