Kapitel 3
Jess stolperte über einen Stoffpinguin in ihrer Küche und verlor dabei fast ihre wertvolle Fracht. Wenn sie nicht so außer Atem gewesen wäre, hätte sie über die absurde Situation gelacht, während sie ein halbes Dutzend Flaschen Muttermilch jonglierte.
Sollte es jetzt nicht einfacher sein, sich für die Arbeit fertigzumachen, als während der Schwangerschaft? Sie sah nicht mehr wie ein gestrandeter Wal aus, aber statt sich neu belebt zu fühlen, war sie so müde und erschöpft wie nie zuvor. Sogar in den schlimmsten Zeiten ihrer Assistenzarztausbildung hatte sie keinen solchen Schlafmangel erlebt.
Jedes Mal, wenn ihre Mutter sie zu Hause besucht hatte, war Jess beim Gespräch eingeschlafen. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie dankbar oder peinlich berührt sein sollte, dass ihre Mutter sie wie ein übermüdetes Kleinkind ins Bett geschickt hatte.
Und das hatte es undenkbar gemacht, Kayla einzuladen.
Zugegebenermaßen hatte die Elternzeit Jess’ Tag-Nacht-Rhythmus auch nicht verbessert. Genau wie in ihrer Assistenzarztausbildung wurde sie ständig geweckt, um sich um Notfälle zu kümmern. Jetzt hatten diese jedoch eine völlig andere Natur. Ihre Tochter schrie zu jeder Tag- und Nachtzeit, wenn sie hungrig oder einsam war. Und im Gegensatz zum Krankenhaus war keine Ablösung in Sicht. Jess’ Schicht war immer weitergegangen, ohne Ende für den ganzen Monat.
Als ihr Chef sie angerufen hatte, um zu fragen, ob sie die Elternzeit abkürzen konnte, war sie froh gewesen. Aus dem Haus zu kommen und Ella professioneller Versorgung zu überlassen, klang wie das perfekte Gegenmittel für ihre Erschöpfung. In den letzten Jahren hatte ihr die Arbeit als Fachärztin viel mehr Energie zurückgegeben, als sie ihr geraubt hatte. Trotz der langen Arbeitstage.
Ein großes Problem hatte sie jedoch noch: Professionelle Hilfe war nicht in Sicht. Die Kindertagesstätte ihrer Klinik hatte ihre Aufnahmebedingungen kurzfristig geändert und nahm nur noch Kinder an, die älter als ein Jahr waren. Die einzig halbwegs akzeptable Kita, von dem Dutzend, die sie in der Stadt besichtigt hatte, hatte keinen freien Platz, egal wie viel Jess bereit war zu zahlen. Wenn ihre Mutter nicht angeboten hätte zu helfen, hätte sie nicht wieder arbeiten gehen können. Und das war nur die Spitze des Eisberges. Sie hatte nicht genug Gewicht verloren. Sie hatte in der Zeit zu Hause keinen einzigen Fachartikel gelesen. Und sie hatte es noch nicht einmal geschafft, sich die Haare schneiden zu lassen.
Jess hob den Stoffpinguin auf und setzte ihn auf die Arbeitsfläche neben ihre halb leere Kaffeetasse. Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Lauwarm und bitter und sicher nicht dazu geeignet, ihren flauen Magen zu beruhigen. Sie hatte sich seit ihrer ersten Woche am College noch nie so unvorbereitet für einen Tag gefühlt wie jetzt.
Sie streichelte über das weiche Pinguinfell, während sie ihre Checkliste in Gedanken durchging. Milch. Abgehakt. Stofftier. Abgehakt. Babys Tasche mit Windeln, Feuchttüchern und Wechselkleidung. Abgehakt. Mamas Tasche mit Schlüsselkarte, Geld, Telefon und der neusten Auflage der Zeitschrift für Kardiologie,
falls sie lang genug wach blieb, um mehr als zwei Zeilen zu lesen. Abgehakt. Was fehlte? Geh einfach. Du bist schon zu spät dran. Hör mit deinen blöden Listen auf.
Am Aufzug ließ sie das vage Gefühl, etwas vergessen zu haben, nicht los. Was fehlte?
Als die Aufzugtüren mit einem Ping aufgingen, stieg sie ein und drückte den Knopf für die Tiefgarage.
Ella.
Jess sprang durch die sich schließenden Türen und wurde beinah von deren Metall zerquetscht. Scheiße, wie kannst du nur dein eigenes Kind vergessen?
Sie brauchte drei Versuche, bis sie es schaffte, den Code für ihre Wohnungstür einzugeben. Jess’ rasendes Herz wollte sich einfach nicht beruhigen, als sie ihr schlafendes Kind schließlich erreichte. Ihr wurde schwindlig vor Erleichterung. Ella hatte nichts davon bemerkt, dass sie allein zurückgelassen worden war.
Mit zitternden Händen hob Jess ihre Tochter aus der Wiege und kuschelte sie an sich. Der Duft von Frische und Unschuld flutete ihre Sinne und entspannte sie fast magisch, besser als irgendeine Checkliste das konnte.
Beladen mit beiden Taschen und der Babyschale fürs Auto nahm sie ihren Weg zur Garage wieder auf. Auch als sie alles und jeden sicher in ihrem BMW X5 verstaut hatte, raste ihr Herz noch immer.
Ella krähte in der niedlichen Art und Weise, in der sie signalisierte, dass sie wach war.
Jess schaute in den Rückspiegel, konnte aber den Gesichtsausdruck ihrer Tochter nicht erkennen. Die halbstündige Fahrt nach Shoreline verging wie im Flug und Jess verpasste fast die Einfahrt ihrer Mutter, weil ein hässlicher Metallhaufen − den man vor fünfzehn Jahren vielleicht als Auto bezeichnet hätte − die Garage blockierte. Der winzige Prius ihrer Mutter passte noch daneben, aber ihr eigener SUV auf keinen Fall. Sie ging im Kopf die Freunde ihrer Mutter durch, die alle entweder berentete Akademiker oder Althippies waren. Zu niemandem passte so ein Schrotthaufen. Vielleicht waren Handwerker im Haus?
Sie parkte auf der Straße und blockierte die Ausfahrt. Sie hatte jetzt weder Zeit noch Lust, den Besitzer zu finden.
Bevor sie alles, was sie im Auto verstaut hatte, wieder ausgepackt hatte, kam ihre Mutter nach draußen.
»Jess, lass mich helfen.« Ihre Mutter nahm die Babyschale und sah ihre Enkelin mit einem Lächeln an. »Oh, Ella, schau dich an. Wie du gewachsen bist. Bist du nicht süß?«
»Wachsen ist das Einzige, was sie den ganzen Tag macht. Und Essen. Und in die Windel machen.« Jess hielt die Hand vor den Mund, um ihr Gähnen zu verbergen. »Aber ja, sie ist sehr süß.«
Ihre Mutter sah auf und musterte Jess, bis sie sich unter dem Blick wand. »Willst du reinkommen? Du siehst so müde aus. Willst du Kaffee? Frühstück? Du kannst Lena Hallo sagen.«
Wer war Lena noch gleich? Jess schaute auf ihre Uhr und seufzte. Egal. Auch wenn sie für einen Kaffee getötet hätte, musste sie los. Die Dichte des Morgenverkehrs war immer schwer vorauszusagen. »Ich fahre lieber. Vielen Dank noch mal für das kurzfristige Babysitten. Ich finde bestimmt bald eine zuverlässige Kita oder Tagesmutter.« Jess schluckte und starrte nach unten auf die übergroßen Turnschuhe, die als Einzige ihren schwangerschaftsgebeutelten Füßen genug Platz verschafften.
»Mach dir keinen Stress. Wir werden viel Spaß haben, Ella und ich. Oder?« Mit dem letzten Wort streckte sie ihren Kopf wieder über die Babyschale und sprach in der Stimmlage, die für Babys und Kätzchen reserviert war. Oder im Fall ihrer Mutter für seltene Pflanzen. »Bleibst du zum Abendessen?«, fragte sie in ihrem normalen Tonfall.
»Ich weiß noch nicht. Können wir abwarten, wie der Tag so läuft?« Jess freute sich nicht darauf, am Abend wieder zu ihrer Mutter fahren zu müssen, da sie nach ihrem Dienst eigentlich nur noch schlafen wollte. Aber sie hätte es mit ihrer Karriere nicht so weit gebracht, wenn sie dazu neigen würde, Schwäche zu zeigen. Noch nicht einmal der Person gegenüber, die sie am besten kennen sollte.
»Sicher. Sag Tschüss
zu Mami.« Ihre Mutter sprach mit Ella, als ob sie erwartete, dass sie genau das tun würde.
Albern, aber niedlich. »Tschüss.« Jess lächelte und winkte, bevor sie wieder ins Auto stieg. Es gab keinen Grund, ihre Tochter noch mal zu knuddeln, nachdem sie vier Wochen ohne Pause mit ihr verbracht hatte. Sie sollte froh sein, etwas Erwachsenenzeit zu haben. Warum schrie ihr Instinkt dann danach, zu weinen oder zurückzurennen und ihrer Mutter die Babyschale zu entreißen? Sie biss die Zähne zusammen und startete den Wagen, ohne zu zögern. Sie umklammerte das Lenkrad, bis ihre Knöchel blass wurden. Ihre Tochter zu vermissen, mochte vielleicht normal sein, aber dieser Schmerz, als ob sie sich dehnen und dehnen würde, bis etwas in ihr zerriss, war absurd.
Mit einem Kopfschütteln fuhr sie zur Arbeit, so schnell sie konnte.
Hektisches Piepen signalisierte einen unnatürlich hohen Herzschlag. Einige ihrer Kollegen würden den Alarm ausstellen, um sich besser konzentrieren zu können, aber Jess blühte unter dieser Art von Druck auf. Der Monitor mit den Vitalzeichen der Patientin blinkte vermutlich mit allen möglichen Alarmen, als der Blutdruck abfiel. Jess musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie sich beeilen musste, die Koronarintervention abzuschließen und die Sauerstoffversorgung zum Herzen wiederherzustellen.
Sie hielt ihren Blick auf den Röntgenmonitor gerichtet, der ihre Versuche zeigte, den Katheter an die richtige Stelle zu positionieren. Nur noch einen Millimeter. Hier, genau.
Sie atmete aus und gab das Zeichen, den Ballon aufzublasen.
Scott drückte das Gerät und zählte langsam bis fünf. Er war ihr den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen. Jetzt, da er seine kardiologische Weiterbildung beendet hatte und die Zusatzbezeichnung interventionelle Kardiologie anstrebte, hätte Jess ihm den Eingriff überlassen sollen. Aber sie war einfach zu verdammt glücklich, wieder am Herzkathetertisch zu stehen.
Als er fertig war, hielt Jess ihre Hand auf.
Kommentarlos reichte ihr Kayla den richtigen Stent.
Mit einem dankbaren Lächeln beendete Jess den Eingriff. Sie hatte es vermisst, mit ihren Kollegen in perfekter Synchronität zu arbeiten.
Die Herzfrequenz der Patientin sank wieder auf ein normales Level und ihr Blutdruck stieg an, als das wichtigste Herzkranzgefäß wieder eröffnet wurde. Jess grinste. Egal wie oft sie dabei zusah oder die Prozedur selbst durchführte, dieser Teil enthielt immer noch etwas von dem magischen Gefühl, das sie beim ersten Mal gespürt hatte, als sie eine Herzkatheteruntersuchung als Studentin miterlebt hatte. Damals hatte sie beschlossen, dass diese Arbeit ihre Zukunft sein würde.
Der wichtigste Teil war getan, der Rest war Routine: die Punktionsstelle verschließen und einen Druckverband anlegen. Das war Scotts Aufgabe.
Mit der Gewissheit, ihre Sache gut gemacht zu haben, entspannte Jess sich und ihr Adrenalinspiegel fiel ab.
Auf einmal tanzten Sterne in ihrem Blickfeld. Sie blinzelte, um sie zu vertreiben. Jess brauchte keinen klaren Blick, um den Katheter herauszuziehen, aber ruhige Hände waren wichtig. Ihre zitterten wie die eines Studenten bei der ersten Blutabnahme. Sie versuchte, tief einzuatmen, saugte damit aber nur ihren Mundschutz gegen die Lippen.
»Alles okay? Jess?« Kaylas Stimme klang gedämpft wie durch einen Vorhang.
Jess nickte. Sie konnte nicht sprechen, da ihr die Zunge am Gaumen klebte. Sie trat vom Tisch ab und riss ihre Maske vom Gesicht, um nach Luft zu schnappen. Ihr Herz raste, als wäre sie die Patientin auf dem Tisch. Was zum Teufel war mit ihr los?
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dieselbe Bleischürze zu benutzen, die sie vor der Schwangerschaft getragen hatte. Die Weste war viel zu eng. Aber sie war zu stolz und eitel gewesen, um nach einer anderen Größe zu fragen, und jetzt bezahlte sie den Preis für all die viel zu flachen Atemzüge in den letzten Stunden. Ihre Brust schmerzte wie verrückt, besonders ihre viel zu empfindlichen Nippel.
Schweiß lief ihr über die Schläfen, den Hals entlang und unter die Bleischürze und den sterilen Papierkittel, der sie bedeckte. Er brannte in ihren Augen wie Säure. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt und ein unkontrollierbares Zittern lief durch den ganzen Körper. Sie atmete ein − immer noch zu flach, da ihre Bewegung gehemmt war, als hielte eine Würgeschlange sie im Griff.
Raus. Ich muss raus hier und raus aus der verdammten Bleischürze.
Unter Aufbietung all ihrer Professionalität gelang es ihr, immer noch Ruhe und Sicherheit auszustrahlen. »Scott, mach hier fertig. Ich fange mit dem Bericht an.«
Mit der letzten Kraftreserve streifte sie ihre Handschuhe und den Kittel vom Leib und öffnete die Bleischürze. Jeder Schritt war ein Kampf, aber sie hielt ihren Kopf hoch erhoben und den Blick auf ihr Ziel gerichtet, die Tür. Dort konnte sie endlich die beengende Schürze loswerden und sich hinsetzen.
Wieso schwankte die Tür hin und her, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand? »Nicht schon wieder«, murmelte sie, als der Boden nach oben raste, um sie aufzufangen.
Das beruhigende Piep-piep-piep
des EKG-Monitors driftete durch ihr Bewusstsein. Etwas griff nach ihrer Schulter und schüttelte sie. Eine Hand.
»Dr. Riley, aufwachen!« Die Stimme der Frau war warm und leise, enthielt aber so viel Autorität, dass sie die Anweisung befolgen wollte.
Aber warum? Die Herzfrequenz war stabil. Es gab keinen Grund für sie, aufzustehen und sie sich anzuschauen. Sie war so müde, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.
Marathon? Nein, sie war auf der Arbeit gewesen. Im Herzkatheterlabor. Warum lag sie jetzt irgendwo im Krankenhaus herum? Jess blinzelte, schloss die Augen dann aber schnell wieder, als gleißendes Licht sie blendete. Doch der kurze Blick war ausreichend, um den Raum als Teil der Notaufnahme zu erkennen. Notaufnahme? Schon wieder? Ist das ein Scherz?
Sie versuchte, sich aufzusetzen, um die Umgebung besser zu sehen, aber ein fester Griff hielt sie davon ab.
»Hey, Dr. Riley. Gut, dass Sie wieder da sind. Bleiben Sie noch eine Sekunde liegen, okay?«
Diese Stimme. »Rockerbraut?« Sie öffnete erneut ihre Augen und diesmal war das Licht nicht ganz so unerträglich. Am Bett stand tatsächlich die Assistenzärztin, die bei Ellas Geburt geholfen hatte.
»Hatten wir das nicht schon längst geklärt?« Sie lachte. »Entweder Dr. Rockerbraut oder sogar Dr. Petrell, aber wie wäre es mit Diana? Wir haben uns immerhin schon gegenseitig halb nackt gesehen.«
Jess nickte. Sie würde das niemals laut zugeben, aber Dianas Anwesenheit beruhigte sie. Jess vertraute ihr, obwohl sie einander kaum kannten. »Was ist passiert, Dr. Petrell?«
»An was erinnern Sie sich?« Die Fröhlichkeit war aus Dianas Stimme verschwunden.
Jess dachte einen Moment über die Frage nach. »Ich hatte gerade eine Intervention beendet und mir war schwindelig. Ich schwitzte. Ich nehme an, ich war unter der Bleischürze dehydriert und bin dann in Ohnmacht gefallen.«
»Hm. Vielleicht. Aber Sie sind nicht nur in Ohnmacht gefallen.« Diana rollte einen Hocker von der anderen Seite des Raumes heran und setzte sich, sodass sie auf Augenhöhe waren. Eine feine Falte zwischen ihren Augenbrauen zeigte ihre Sorge.
»Was denn noch?« Hatte sie sich den Kopf angeschlagen? Etwas gebrochen? Aber nichts tat weh, außer einem leichten Ziehen in Brust- und Schultermuskeln, was offensichtlich eine Folge der vielen Stunden unter der schweren Schutzkleidung war.
Diana blickte zum anderen Ende des Raumes. »Madison, gib uns bitte eine Minute.«
Eine Krankenschwester, die Jess bis eben noch nicht bemerkt hatte, verließ mit einem letzten langen Blick auf Jess den Raum. Es war selten, dass ein Arzt zum Patienten im eigenen Krankenhaus wurde.
Jess verzog das Gesicht. In ihrem Fall stimmte das nicht. Sie hatte es geschafft, zweimal innerhalb von vier Wochen auf einer Trage in der Notaufnahme zu landen.
Nachdem Madison die Tür geschlossen hatte, drehte sich Diana wieder zu Jess um. Ihr Blick schien sich in Jess zu bohren, als wollte sie ihre Gedanken lesen. »Ihre Kollegen dachten genauso. Nur ein bisschen Flüssigkeitsmangel und niedriger Blutdruck. Sie haben Ihre Beine hochgehalten, aber als Sie bewusstlos blieben und sie Ihren Puls nicht finden konnten, hatten sie den richtigen Riecher und haben Sie an das EKG angeschlossen.« Diana machte eine Pause, als ob sie auf Jess’ Reaktion wartete.
Jess machte eine Erzählen-Sie-weiter-Geste. »Sagen Sie es einfach direkt. Mit Fachausdrücken, ohne herumzudrucksen.« Sie musste nicht wie ein Patient geschont werden; sie wollte alle Fakten wissen.
»Sie hatten eine VT und Ihre Kollegen haben Sie geschockt. Sie –«
»VT?« Jess war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. Vielleicht brauchte sie doch Klartext ohne Fachjargon.
»Ja, eine ventrikuläre Tachykardie. Ich habe selbst den EKG-Ausdruck gesehen. Sie hatten eine Herzfrequenz um hundertachtzig mit breiten QRS-Komplexen und …«
Der Rest von Dianas Erklärung wurde durch das Dröhnen in Jess’ Ohren übertönt. Warum? Sie war immer gesund und noch nie ernsthaft krank gewesen, noch nicht einmal als Kind. Warum sollte sie plötzlich eine gefährliche Herzrhythmusstörung entwickeln? So gefährlich, dass sie geschockt werden musste. Das ergab keinen Sinn. Vielleicht hatten sie sich geirrt. Vielleicht hatten Kayla und Scott den Rhythmus falsch beurteilt. Vielleicht war das Kabel defekt gewesen und hatte zusätzliche Signale übertragen. Vielleicht –
»Dr. Riley?« Diana drückte ihren Unterarm und riss sie damit aus ihren Gedanken.
»Nenn mich Jess.« Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf die Hierarchie zu pochen.
»Gern. Ich bin Diana.« Sie drückte erneut Jess’ Arm, dann ließ sie los. »Ich vermute, es ist ein Schock für dich, aber das EKG lässt keinen Zweifel. Du hattest eine VT und elektrische Kardioversion war die richtige Behandlung. Jetzt müssen wir die Ursache herausfinden. Ist so etwas schon einmal passiert? Hast du Vorerkrankungen? Gibt es irgendeinen Hinweis in deiner Krankengeschichte?«
»Okay. Das klingt nach einer guten Idee.« Jess legte sich entspannt zurück, insofern man bei der harten Trage ohne Kissen von Entspannung sprechen konnte. Wenn sie jemandem auf der Arbeit vertrauen musste, dann war Diana eine gute Wahl. Sie hatte schon bewiesen, dass man sich auf sie verlassen konnte. »Mir fällt nichts ein. Ich war immer gesund und ich hatte mehr als nur ein paar EKGs und Echos während meiner Assistenzarztzeit, als wir aneinander geübt haben. Ich hatte nie ein Problem mit Ausdauertraining, ich bin Langstreckenläuferin.« Sie schnaubte und rollte mit den Augen. »Nicht mehr im letzten Jahr. Und seit Ellas Geburt war ich auch nicht mehr so fit, wie ich es gern hätte. Aber vielleicht habe ich unrealistische Erwartungen.«
»Vielleicht. Aber VTs sind keine übliche Komplikation nach einer Geburt. Und …« Diana fuhr sich mit der Hand durch ihr schulterlanges Haar und zerzauste es damit noch mehr. »Vor der Geburt, im Garten, bist du auch in Ohnmacht gefallen. Dein Puls raste. Ich hatte keine Möglichkeit ihn zu messen, er war aber auf jeden Fall viel zu hoch. Als du dich sekundenschnell erholt hast, habe ich es auf den Stress und die Schmerzen geschoben. Aber vielleicht hattest du da auch schon eine VT, nur selbstlimitierend.«
Jess erster Impuls war, es zu verneinen und Diana eine zu lebhafte Fantasie vorzuwerfen. Dazu noch ein sarkastischer Kommentar oder auch zwei, dann würde sie aufspringen und hinausmarschieren. Aber ihre Knochen fühlten sich so schwer an wie zuvor die Bleischürze und sie war müder als jemals zuvor. Realistisch gesehen war es gut möglich, dass sie auf der Nase landen würde, wenn sie jetzt versuchte, aufzustehen.
Jess rieb die Stelle über der rechten Brust, die nach dem elektrischen Schock immer noch ziepte. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war es schon länger so. Aber trotzdem, eine VT? Sie konnte es nicht glauben.
Ding! Ding! Ding! Der Kreislaufmonitor erwachte zum Leben mit dem vertrauten Alarm, der alle anderen Geräusche in den Hintergrund drängte. Ihr Atem stockte. Piep-piep-piep. Der Klang ihres Herzrhythmus war nicht mehr stabil und beruhigend. Sie reckte den Hals, um einen Blick auf den Monitor hinter ihrer linken Schulter zu erhaschen.
Die EKG-Zacken kamen viel zu schnell und waren viel zu breit. Sie konnte nicht leugnen, was sie mit eigenen Augen sah. Noch eine VT. Mit jeder Zacke stachen rasiermesserscharfe Eiszapfen in ihr Herz und steigerten ihre Panik.
Die Linien wackelten, als ihr Blick verschwamm. Schwindel und Übelkeit stiegen auf, als wäre sie zu lange Achterbahn gefahren. »Scheiße.« Ihr Kopf fiel zurück auf die Trage und sie schloss die Augen, um auf die Bewusstlosigkeit zu warten.
Aber sie kam nicht.
Als ob jemand einen magischen Knopf gedrückt hätte, fiel ihre viel zu hohe Herzfrequenz auf ein normales Niveau zurück und der schrille Monitoralarm stoppte. Ihr Puls pochte in ihren Ohren, ein Echo der leisen Piepstöne, die das medizinische Personal wieder beruhigten und zeigten, dass alles in Ordnung war.
Aber das war es nicht. Nachdem sie es mit ihren eigenen Augen gesehen hatte, konnte Jess es nicht mehr leugnen. Irgendetwas war ernsthaft nicht in Ordnung.
Sie hätte sterben können.
Ella! Ihre Tochter ohne Mutter zurückzulassen, war unvorstellbar.
Galle stieg auf. Jess schluckte sie hinunter und verdrängte ihre Ängste in die hinterste Ecke ihres Verstandes. Sie musste jetzt funktionieren, nicht fühlen.
Sie fing Dianas Blick ein und versuchte, die Art von Autorität auszustrahlen, die sie gerade nicht spürte. »Ich will, dass du ein Echo machst.«
Diana nickte. »Ich habe schon eins angefordert. Es sollte jeden Moment jemand kommen und dann können wir –«
»Nein, ich will nicht, dass irgendjemand aus meiner Abteilung etwas mitbekommt.« Jess wies auf das fahrbare Ultraschallgerät in der Ecke des Raumes. »Ich will, dass du es machst, während ich die Bilder auswerte. Und ich will, dass was auch immer wir auf diesem Bildschirm sehen, unter uns bleibt.« Es war schlimm genug, dass ihre Kollegen ihre Arrhythmie im Herzkatheterlabor behandeln mussten. Auf gar keinen Fall würde sie sich weiter bloßstellen lassen.
Diana betrachtete sie für einen Moment mit einem neutralen Gesichtsausdruck.
Jahrelanges Training im Widerstehen der hitzigsten Blicke hatte Jess in der hierarchischen Welt der Medizin nicht nur überleben, sondern sogar aufblühen lassen. Aber niemals hatte sie so sehr ihren Instinkt unterdrücken müssen, um sich nicht deutlich sichtbar zu winden.
Nach wenigen Sekunden, die sich wie eine Stunde anfühlten, stand Diana auf, um das Ultraschallgerät zu holen. Sie rollte ihren Hocker näher an die Trage, während der Computer des Ultraschallgerätes hochfuhr. »Du solltest wissen, dass ich damit keine Erfahrung habe. Aber ich bin willens, es zu versuchen.«
»Zum Glück bin ich Kardiologin und habe genug Erfahrung für uns beide. Ich erkläre dir alles.« Jess zog das dünne Bettlaken herunter. Ihr war fast schwindelig vor Erleichterung, dass sie sich nicht ihren Kollegen stellen musste.
Sie war nackt und wollte gar nicht wissen, wann und wie das passiert war. Jess rollte sich halb auf die linke Seite und klebte eine EKG-Elektrode um, die sich in ihre Haut bohrte, als die linke Brust auf der Trage auflag. Sie unterdrückte ein Seufzen. Noch vor einem halben Jahr waren ihre Brüste die straffen Beinahe-B-Körbchen gewesen, die sie seit ihrer Schulzeit hatte. Während der Schwangerschaft hatten sie sich in übervolle Milchtüten verwandelt.
Jess richtete ihren Blick auf das Ultraschallgerät. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um über den Preis nachzudenken, den ihr Körper für Ella bezahlt hatte. Es war auch egal. Ihre Tochter war jedes Extrakilo wert.
Diana schüttelte die Flasche mit dem Ultraschallgel mit geübter Leichtigkeit. Entweder hatte sie mehr als nur ein paar Ultraschalluntersuchungen durchgeführt oder sie liebte Ketchup. Das Gel glitzerte auf der kleinen Echosonde, als Diana einen großzügigen Klecks darauf verteilte. »Das wird jetzt kalt.«
Jess rollte mit den Augen. Wie oft hatte sie genau denselben Satz gesagt?
»Sorry, das habe ich im Autopilot gesagt. Wo soll ich anfangen? Ich weiß, wie man eine Perikardtamponade ausschließt, aber wir suchen hier ja nicht nach einem Erguss, oder?« Diana ließ die Sonde über dem Ansatz von Jess’ linker Brust schweben.
Es war offensichtlich, dass Diana mehr wusste, als sie zugab, aber Jess schätzte ihren Versuch, Jess zumindest ein wenig Kontrolle über die Situation zu lassen. »Links parasternal, dritter Interkostalraum, die Markierung auf meine rechte Schulter gerichtet.«
Als die Sonde in Kontakt mit ihrer Haut kam, zuckte Jess kurz zusammen und hielt den Atem an. Hoffentlich dachte Diana, dass Kälte die Reaktion verursacht hatte und nicht die Angst, die Jess verspürte.
Aber ihre Sorge war unbegründet. Dianas Blick blieb auf den Bildschirm gerichtet, als sie die Sonde drehte und anwinkelte. Es war nicht schwer, den exakten Moment zu erraten, in dem Diana ein klares Bild produzierte. Ein stolzes Lächeln erstrahlte. Genauso schnell erlosch es wieder und wurde durch ein Stirnrunzeln ersetzt. »Oh.« Dieser Ton war das Letzte, was ein Patient in dieser Situation hören wollte.
Der Bildschirm war mit weißen Linien auf schwarzem Hintergrund gefüllt, die sich kaum bewegten. Für jeden anderen Patienten wäre der Anblick bedeutungslos. Jess hatte aber mehr als genug Jahre auf ähnliche Bilder geschaut und die Diagnose sprang sofort in ihr Bewusstsein: akute Herzinsuffizienz. Oh, Scheiße.
Das konnte nicht wahr sein. Das war nicht ihr Herz. Nein, nein, nein.
Aber das kühlende Gel auf ihrer Haut und die Linien auf dem Bildschirm, die sich synchron zu ihrem klopfenden Herzschlag bewegten, ließen keinen Raum für Zweifel. Eiskalte Wellen brachen über ihr zusammen und sie musste kämpfen, um nicht in der Panik zu ertrinken.
Sie krallte ihre Hände in das dünne Bettlaken. Ella, denk an Ella. Kämpf dagegen an!
»Ich bin keine Kardiologin, aber …« Diana sah sie besorgt an. »Das ist nicht normal. Das Herz bewegt sich kaum.«
»Ja. Frier das Bild ein.« Jess richtete sich auf und wischte Dianas Hände beiseite, um an die Bedienkonsole zu kommen. »Lass mich die EF messen.« Mit geübten Handgriffen bestätigte sie, was ihr trainierter Blick schon vermutet hatte. Eine absurd niedrige Zahl lachte ihr ins Gesicht. Sie zögerte mit dem Finger über dem Speicherknopf, drückte ihn aber schließlich. Das war zu ernst, um so zu tun, als ob es von allein wieder weggehen würde.
Mit einem Seufzen ließ Jess sich auf die Trage zurückfallen. Was hatte dieses Herzversagen verursacht? Sie versuchte, mental einen Schritt zurückzutreten und so zu tun, als ob die Linien und Zahlen auf dem Bildschirm zu einem anderen Patienten gehörten. »Myokarditis? KHK? Beides ist unwahrscheinlich.« Was gab es sonst noch? Etwas lag ihr auf der Zunge, aber sie war zu müde. Ihre Gedanken waren verschwommen, als ob sie von dickem Winternebel verborgen wären.
Diana musterte sie für einen Moment. »Ich weiß, es ist selten, aber …«
»Wenn es selten ist, kannst du es gleich vergessen. Alle Assistenzärzte wollen das exotische Zebra einfangen, aber wir sehen immer nur normale Pferde.« Jess schüttelte den Kopf. Wenn sie einen Dollar für jeden Vorschlag einer seltenen Erkrankung von einem Studenten oder Assistenten hätte, der dann doch ein Routinefall gewesen war, müsste sie nie wieder arbeiten.
»Zeig etwas Geduld, so wie ich hier deine heimliche Untersuchung geduldig mitmache.« Dianas Tonfall war leicht neckend, was Jess auf der Arbeit sonst nie erlebte.
Jess konnte keine Energie aufbringen, um ihr zu widersprechen. Sie nickte und winkte mit der Hand, damit Diana weitersprach.
»Ich habe kürzlich einen Artikel über peripartale Kardiomyopathie gelesen. Es ist eine dramatisch unterdiagnostizierte Krankheit, da die meisten Frauen nur eine leichte Ausprägung haben. Die Symptome sind ähnlich wie normale Erschöpfung und Schlafmangel, aber einige entwickeln ein akutes Herzversagen. Was denkst du?«
»PPCM?« Die Idee durchdrang den Nebel in ihrem Gehirn wie ein Leuchtfeuer. Es war selten, aber alles passte zusammen. Sie war eine gesunde Frau ohne kardiale Krankengeschichte, die ein Kind bekommen hatte. Vielleicht war Diana mit ihrer seltenen Krankheit doch auf der richtigen Spur. »Wir können es nicht in Tests bestätigen, es ist eine Ausschlussdiagnose. Lass uns einen Kollegen von mir anrufen und du stellst die Fakten vor. Wenn er deiner Schlussfolgerung zustimmt, bin ich bereit, mich mit dem Gedanken zu beschäftigen.«
»Wen soll ich anrufen?« Diana fischte ihr Telefon aus der Tasche ihres OP-Oberteils.
Jess ging kurz ihre Optionen durch. Egal, wen sie anrief, die Neuigkeit würde sich schneller als ein Waldbrand ausbreiten. Wenn sie sich ihrer Abteilung stellen musste, dann konnte sie genauso gut mit der Spitze anfangen und ihren Chef beteiligen. »Ruf Dr. Huong an.«
Die hektische Vibration ihres Handys riss Jess aus dem ersten tiefen Schlaf, den sie in den vergangenen Wochen gehabt hatte. Sie griff danach, mehr nach Gefühl und weniger nach Sicht in der Dunkelheit des fremden Krankenhauszimmers. Nur der Monitor hinter ihrem Kopf leuchtete.
Zwei nach neun. Mist. Sie hatte nur vorgehabt, ihre Augen für eine halbe Stunde zu schließen, bevor sie ihre Mutter anrief, um ihr mitzuteilen, dass sie über Nacht im Krankenhaus bleiben musste. Das war vor vier Stunden gewesen.
Sie wischte über das Display, um den Anruf anzunehmen. »Hi, Mom.«
»Bist du immer noch auf der Arbeit? Ich weiß nicht, ob ich verärgert oder besorgt sein sollte.« Ihre Mutter klang nicht wütend; vielleicht hatte Jess es nicht allzu sehr verbockt.
»Ja, aber …« Wie konnte sie ihrer Mutter am Telefon sagen, dass sich an diesem Nachmittag alles verändert hatte und ihr bisheriges Leben wie ein Kartenhaus über ihr zusammengebrochen war? »Es ist etwas passiert.«
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Die Sorge in der Stimme ihrer Mutter nagte an Jess’ Selbstbeherrschung.
Jess schluckte und ballte die Hände zu Fäusten. Der Schmerz der Nägel, die in die weiche Haut drückten, hielt ihre Tränen zurück. Gerade so. »Ja. Nein. Eigentlich nicht. Aber es wird schon wieder. Es hat sich herausgestellt, dass ich PPCM habe und heute Nacht hierbleiben muss. Kannst du auf Ella aufpassen?«
»Natürlich kümmere ich mich um sie, mach dir keine Sorgen. Aber was ist PPCM? Ist das eine besondere Art von Nachtschicht?«
O ja, richtig. Ihre Mutter hatte ihren eigenen Doktortitel und war über vierzig Jahre mit einem Kardiologen verheiratet gewesen, aber woher sollte sie wissen, was diese Abkürzung bedeutete? »Nein, es ist eine Erkrankung. Peripartale Kardiomyopathie. Es bedeutet, dass mein Herz vorübergehend beeinträchtigt ist und ich die nächsten Wochen vorsichtig sein muss.« Oder Monate.
Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken und schon gar nicht sprechen. »Die Erfolgsaussicht auf eine vollständige Genesung ist hoch. Das wird sich schon geben, wenn ich Medikamente nehme.« Oder nicht, aber auch darüber wollte sie nicht nachdenken.
»O mein Gott, Jessi. Was ist passiert? Soll ich ins Krankenhaus kommen?«
Ja.
Ihr inneres Kind, von dem sie dachte, sie hätte es vor über zwanzig Jahren hinter sich gelassen, wollte, dass ihre Mom kam und sie hielt, während sie zusammen weinten. Aber das wäre egoistisch. Ihre Mutter sollte nicht mitten in der Nacht hierherfahren und auch noch Ella durch die Gegend schleppen. Sie brauchten beide ihren Schlaf. »Nein, es geht mir gut. Wenn du dich um Ella kümmerst, kann ich mich ausruhen und hole sie morgen früh ab.« Jess brauchte ihre ganze Schauspielerfahrung, die sie in der Medizinerausbildung gesammelt hatte, um die Bedürftigkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Bist du sicher? Aber lass mich dich zumindest abholen. Und dich verwöhnen. Ich kann mit dir in deiner Wohnung bleiben oder du kommst mit mir nach Hause.«
Die Hartnäckigkeit ihrer Mutter hätte sie sonst als nervig empfunden. Sie erinnerte Jess daran, wie schwach und hilflos sie war, genau wie Ella. Sie seufzte. »Können wir morgen darüber reden? Ich bin zu müde zum Denken.«
»Oh, Jessi, es tut mir so leid. Was brauchst du jetzt?« Das Mitleid war noch schlimmer als die Sorge und Jess war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.
Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht in einem verdammten Krankenhausbett heulen. In meiner eigenen verdammten Abteilung. Wo jeder kommen und mich sehen kann und sich dann das ganze verdammte Personal das Maul zerreißt.
»Nur … nichts. Bitte.« Sie erstickte fast an dem letzten Wort.
»In Ordnung. Wir klären die Details später. Morgen früh hole ich dich ab und wir planen die nächsten Schritte zusammen. Wann soll ich kommen?« Das war die Mutter, die sie jetzt brauchte. Keine Theatralik, kein Getue, nur praktische Unterstützung.
»Danke.« Die Entlassungspapiere sollten früh fertig werden, selbst wenn Jess sie selbst ausfüllen musste. Wenn sie ihren Wecker auf sechs stellte, hätte sie sogar noch ein paar Stunden Zeit, um zu arbeiten. »Kannst du um acht kommen?«
»Ich werde da sein. Schlaf gut. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.« Jess’ Stimme zitterte. Wann hatte sie das zum letzten Mal zu ihrer Mutter gesagt?
Sie rieb ihre Augen. Schlaf. Sie musste weiterschlafen.
Als ob das wahrscheinlich wäre angesichts der Probleme, die sich vor ihr wie ein Berg aufgetürmt hatten. Sie musste den Aufstieg sorgfältig planen, damit sie nicht abstürzte.