Kapitel 4
Lena fischte die Minzblätter aus ihrem Tee und rührte einen Löffel Honig unter. Dann hielt sie ihre Lieblingstasse gegen die Brust und atmete tief ein. Nichts war so gut wie frische Kräuter. An manchen Tagen konnte sie nicht glauben, wie viel Glück sie hatte, praktisch in Maggies Garten zu leben.
Die Tür schwang auf und schlug ihr fast ins Gesicht.
Lena sprang aus dem Weg. Der Tee spritzte über ihren Oberkörper und durchnässte ihr Trägershirt. Heißer, brennender Tee. Autsch. Sie zog die dünne Baumwolle von ihrer Haut weg und sah auf.
Die Frau mit der zerknitterten Kleidung und den dunklen Ringen unter den Augen kam ihr vage bekannt vor.
Sie starrte Lena durch ungekämmtes Haar, das ihr ins Gesicht fiel, an. »Was machen Sie in meinem Haus?«
Moment. Wieso ihr
Haus? »Sollte ich das nicht fragen?« Wer war diese Frau? Oh. War das Jess? Nichts von dem wunderschönen inneren Strahlen nach der Geburt war übrig geblieben.
Jess trat näher und schaute von oben auf Lena herab. »Ich muss hier nichts erklären. Das ist das Haus meiner Familie. Was machen Sie hier?«
»Ich lebe hier«, gab Lena im gleichen Tonfall zurück. Sie wollte Jess gerade hinausschmeißen, als es Klick machte. Jess hatte offensichtlich keine Ahnung, dass Lena bereits seit zehn Monaten im Gartenhaus lebte. Ihr Ärger verrauchte. »Du bist Jess, oder? Ich bin Lena. Maggie hat mir das Haus vermietet.« Sie streckte ihre Hand aus.
»Dr. Riley.« Jess ignorierte ihre Hand und trat an Lena vorbei. Sie schaute sich mit einem Stirnrunzeln im Raum um. »Mein Name ist Dr. Riley, genau wie der meiner Mutter.«
»Ähm, kommen Sie rein.« Lena wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Aber Höflichkeit hatte noch niemandem geschadet. Auch wenn Jess schon längst das Haus betreten hatte. »Selbstverständlich spreche ich Sie mit dem Nachnamen an, wenn Sie darauf bestehen, aber wie ich Maggie anrede, kläre ich mit ihr. Kann ich Ihnen helfen?« Die Haut auf Lenas Brust brannte und sie versuchte, sie mit wedelnden Bewegungen des Tops zu kühlen, aber es war zu eng, um ihr Erleichterung zu verschaffen.
»Ich kann mich nicht an die Möbel erinnern, also müssen sie Ihnen gehören. Es wird etwas dauern, alles auszuräumen, also haben Sie bis morgen Abend Zeit, um auszuziehen.«
Lena blinzelte. War das ein Witz? Aber der Tonfall enthielt nicht einen Hauch Humor. »Das scheint ein Missverständnis zu sein. Lassen Sie uns mit Maggie reden und alles klären. Ich wechsle nur schnell mein Oberteil und dann können wir zum Haupthaus gehen.«
Jess’ eisige blaue Augen bewegten sich auf und ab, als sie Lena musterte. »Was machen Sie mit Ihrem Oberteil?«
»Ich habe mich verbrannt, als Sie hereingestürmt sind.« Lena hielt die leere Tasse hoch.
»Oh, ähm, es tut mir leid.« Rote Flecken erschienen auf Jess’ Wangen. »Sie müssen nicht mitkommen. Sie können schon packen.« Ohne auf Lenas Antwort zu warten, stürmte Jess davon.
Lena folgte ihr zur Tür. »Hey, warten Sie!«
Entweder hörte Jess sie nicht oder es war ihr egal. Der Abgang verlor allerdings seine Dramatik dadurch, dass sie auf halbem Weg zum Haus stoppte, sich ihre Seite hielt und nach Luft schnappte.
Kopfschüttelnd schloss Lena die Tür und ging ins Badezimmer, um sich umzuziehen. Als sie ihren BH auszog, streifte die Baumwolle ihre Haut und sie zuckte zusammen. Ein Blick in den Spiegel bestätigte, was sie vermutet hatte. Ein roter Streifen lief zwischen ihren Brüsten entlang bis hinunter zum Bauchnabel, als hätte sie sich mit Himbeeren beschmiert. Glücklicherweise hatten sich keine Blasen ausgebildet. Sie spülte das Shirt mit kaltem Wasser aus und presste es auf die Verbrennung.
Die Linderung trat sofort ein und sie setzte sich auf die Toilette, als ihre Knie weich wurden. Übelkeit stieg auf oder war es Angst? Was passiert jetzt?
Maggie hatte ihr die Nutzung des Gartenhauses für mindestens ein Jahr versprochen, aber jetzt schien ihre Tochter hier einziehen zu wollen. Sie hatten keinen Vertrag gemacht, weil sie Maggie vertraut hatte, als sie sagte, dass ihr Wort mehr wert war als ein Blatt Papier. Genau wie Lenas Wort mehr wert war als eine Kreditauskunft. Vielleicht war das naiv gewesen. Wann würde sie endlich lernen, anderen nicht mehr so leichtfertig zu vertrauen?
Mit einem Seufzen legte sie ihr Shirt zurück in das Waschbecken und stand auf. Es war an der Zeit, herauszufinden, ob sie ab morgen in ihrem Auto leben würde. Rasch rieb sie etwas Aloe-vera-Lotion auf die Haut und ging ins Schlafzimmer, um sich ein weites Hemd anzuziehen.
Als sie sich dem Haupthaus näherte, ging sie immer langsamer.
Jess’ Stimme driftete durch die halb geöffneten Flügeltüren und ihr Ton machte deutlich, dass sie nicht zufrieden mit dem war, was ihre Mutter erwiderte.
Anstatt die beiden zu unterbrechen, setzte sich Lena ans andere Ende der Terrasse. Die große Holzkonstruktion erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses und reichte mit ihrem geschwungenen Rand bis in den Garten. Terrakottakübel mit Pflanzen in allen erdenklichen Größen und Formen bildeten eine Begrenzung und verbanden gleichzeitig Garten und Terrasse miteinander. Von immergrünen Pflanzen über Kräuter bis hin zu exotischen Blüten war alles vertreten. Sie würde diese friedliche Oase vermissen, nicht nur wegen der beruhigenden Wirkung, sondern vor allem wegen ihres täglichen Kontaktes zu Maggie. Lena hatte gedacht, die ältere Frau wäre ihre Freundin geworden, nicht nur ihre Vermieterin. Aber vielleicht war das Wunschdenken. Ihre Brust fing wieder an zu brennen, diesmal aber nicht oberflächlich.
Ein schriller Schrei unterbrach den Streit. Das Baby schien die erhobenen Stimmen auch nicht zu mögen.
Die Terrassentür öffnete sich vollständig und Lena sprang auf. Sie fürchtete, nicht willkommen zu sein.
Maggie trat auf die Terrasse und ihr Stirnrunzeln grub tiefe Furchen in ihr Gesicht. Als sie aufsah und Lena erblickte, entspannten sich ihre Züge. Bis sie Lena erreichte, lächelte sie sogar.
Das Lächeln versprach, dass alles gut werden würde, aber Lena war schon zu oft enttäuscht worden, um dem zu trauen. »Willst du …?« Sie schluckte. »Willst du, dass ich ausziehe?«
»Nein, Liebes, ganz und gar nicht.« Maggie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was Jess gesagt hat, aber das ist ein Missverständnis. Du darfst so lange im Gartenhaus wohnen, wie du möchtest.«
»Danke.« Der nagende Schmerz, der Lena in dem Moment erfasst hatte, in dem sie befürchtete, wieder allein dazustehen, ließ langsam nach. »Bist du sicher? Sie ist schließlich deine Tochter.«
Maggie griff nach Lenas Hand. »Ich habe ihr gesagt, dass du jetzt hier lebst, und wenn sie bleiben will, kann sie gern im Haupthaus wohnen. Jess’ altes Zimmer habe ich ohnehin schon in ein Kinderzimmer für Ella umgebaut und sie kann im Gästezimmer daneben schlafen.« Sie sah zum Haus zurück. Das Baby hatte aufgehört zu weinen. »Ganz ehrlich, selbst wenn du nicht im Gartenhaus leben würdest, wäre es mir lieber, wenn meine Tochter in der Nähe bleibt. Sie hat …« Sie öffnete und schloss ihre Hand ein paarmal und ließ dabei Lena los. »Sie ist nicht so fit, wie sie sein sollte. Sie braucht Hilfe, egal ob sie das zugeben will oder nicht.«
Lena nickte. Jess hatte müde und blass ausgesehen. »Ist sie krank?«
»Ja. Das hat mich ziemlich erschreckt. Das ist alles noch sehr neu und …« Maggie ließ ihre Schultern hängen. »Aber sie ist optimistisch, dass es ihr bald wieder besser gehen wird.« Das Lächeln, das die letzten Worte begleitete, war nur schwach.
Das klang ernst. Lena wollte nicht neugierig erscheinen, aber es fiel ihr schwer, das halbe Dutzend Fragen zurückzuhalten, das in ihrem Kopf umherschwirrte. »Es tut mir leid, das zu hören. Kann ich irgendetwas für sie tun?«
»Sei bitte geduldig. Sie sollte sich nicht aufregen. Das ist schlecht in ihrem Zustand. Vielleicht gibst du ihr etwas Zeit, um sich auf die Situation einzustellen. Meine Tochter hatte schon immer Schwierigkeiten mit Spontanität.« Maggie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Sie wird dich mögen. Ich bin mir sicher, dass sie sich nächste Woche um diese Zeit bei dir entschuldigt haben wird, weil sie sich für ihr Verhalten schämt.«
Eine Krankheit war für Lena kein Grund zur Unfreundlichkeit, aber sie war willens, Jess eine zweite Chance zu geben − Maggie zuliebe. »Ich hoffe, du hast recht.« Lena stand auf. »Ich gehe zurück zum Gartenhaus, ich muss bald zur Arbeit.« Und sie wollte vorher noch ein Coolpack auf ihre Brust legen, aber Maggie musste das nicht wissen.
»Sag mir Bescheid, wenn Jess dir Sorgen bereitet. Ich rede dann mit ihr.« Maggie umarmte sie.
Lena schaffte es, nicht das Gesicht zu verziehen, als ihr Oberteil auf die verbrannte Haut gedrückt wurde. Jetzt, da sie wusste, dass Maggie sie nicht hinauswarf, machte ihr der physische Schmerz kaum noch etwas aus.