Kapitel 5
Die Uhr in Lenas Auto hatte schon vor langer Zeit den Geist aufgegeben; ihre dauerhafte Fünf-vor-zwölf-Anzeige war vermutlich eher ein Kommentar zum allgemeinen Zustand des Fords. Vielleicht sogar zu Lenas gesamtem Leben. Der Drang, ihr Handy aus der Tasche zu holen, um die Uhrzeit zu checken, war stark, aber Lena widerstand. Sie konnte ohnehin nicht schneller fahren, ohne einen Strafzettel zu riskieren. Das war im Budget für diesen Monat nicht vorgesehen. Oder in irgendeinem anderen Monat.
Da sie nicht vorhatte, lange zu bleiben, parkte sie vor der Einfahrt von Maggies Haus auf der Straße, statt in ihre Parklücke zu manövrieren. Sie sprang aus dem Wagen, ihren Rucksack in einer Hand, die Autoschlüssel in der anderen. Ihre Gedanken waren schon drei Schritte weiter. Sie musste duschen und sich umziehen, bevor sie zum nächsten Job fuhr.
»Was tun Sie hier?« Die harsche Stimme unterbrach ihre Überlegungen.
Lena blieb stehen und blickte auf.
Jess stand vor dem Tor zum Garten. Mit beiden Händen auf die Hüften gestützt blockierte sie den Eingang. Sie starrte Lena finster an. Trotz des eisigen Blicks sahen ihre leuchtend blauen Augen irgendwie schön aus. In schwarzer Jeans und dunkelgrauem Rollkragenpullover wirkte sie einschüchternd neben ihrem schicken, grau-weißen Kinderwagen.
Die letzten vier Tage war Lena erfolgreich Jess aus dem Weg gegangen, aber heute hatte sie eine Pechsträhne. Zuerst hatte ein Besucher auf dem Wochenmarkt ihren Marmeladenstand umgeworfen. Es waren nur zwei Gläser zu Bruch gegangen, aber ihre Kleidung war mit Zucker und Früchten bedeckt. Dann musste sie jemandem falsches Wechselgeld gegeben haben, wodurch sie den Verkaufstag mit zehn Dollar zu wenig beendet hatte. Die Kasse dreimal zu zählen, hatte sie aus dem Zeitplan geworfen und jetzt hatte sie keinen Spielraum mehr, um auf Jess’ Launen einzugehen. »Ich parke hier nur kurz.«
»Sie können diesen Schrotthaufen hier nicht hinstellen.« Jess wies auf ihr Auto.
Schrotthaufen? Das war harsch. Na gut, ihr Auto hatte Türen in zwei verschiedenen Farben, die beide nicht zum ausgeblichenen Beige des restlichen Lacks passten, und die Rostflecken wirkten wie eine ansteckende Krankheit. Immerhin sprang ihr fahrbarer Untersatz meistens an. Darum ging es hier aber nicht.
»Müssen Sie jetzt losfahren?« Lena hielt die Hand mit dem Schlüssel in einer entschuldigenden Geste hoch. »Es tut mir leid, aber ich brauche nur zwanzig Minuten. Ich ziehe mich nur schnell für meinen anderen Job um und dann –«
»Mir sind die organisatorischen Defizite Ihrer Planung egal. Sie können hier nicht parken. Wenn Sie das Auto hier stehen lassen, rufe ich einen Abschleppdienst und lasse es entfernen.« Rote Flecken erschienen auf Jess’ Wangen und ein Schweißtropfen perlte auf ihrer Schläfe, aber ihr Blick blieb hart.
»Abschleppdienst?« Die Frau hat sie wohl nicht mehr alle!
Lena presste die Zähne aufeinander, bis sie knirschten, um sich davon abzuhalten, ihre Meinung laut auszusprechen. Jess machte es ihr nicht leicht, das Versprechen zu halten, das Lena Maggie gegeben hatte. Geduld zu zeigen, war eine ungeahnte Herausforderung. »Okay, wenn Sie darauf bestehen, parke ich auf der anderen Straßenseite.« Lena wollte nicht glauben, dass ihre Drohung ernst zu nehmen war, aber sie wollte es auch nicht austesten.
»Ich bestehe darauf.« Jess’ Lippen waren nur noch eine schmale Linie und ein Muskel in ihrer Wange zuckte.
Zurück im Auto schaute Lena auf ihr Handy. Sie hatte mehr Zeit verloren, als sie gedacht hatte. Ein Müsliriegel im Auto würde wohl reichen müssen, um sie durch die Nachmittagsschicht im Café zu bringen.
Sie hoffte wirklich, dass ihre Geduld Jess irgendwie half zu genesen. Je schneller sie wieder gesund wurde, desto schneller würde sie hoffentlich in ihr eigenes Zuhause zurückkehren.
»Tammy!« Lena wachte auf und fiel bei dem Versuch, aufzuspringen, fast aus dem Bett. In den wertvollen Sekunden, die sie brauchte, um ihre Beine aus der Bettdecke zu befreien, drängten die Schreie ihrer kleinen Schwester sie zur Eile und ihr Herz hämmerte wild.
Dann traf sie die Realität mit der Wucht eines Vorschlaghammers.
Tammy war nicht hier. Tammy würde nie wieder hier sein. Tammy brauchte sie nicht mehr. Denk nicht darüber nach!
Nachdem sie sich aus der Decke befreit hatte, ließ sich Lena zurück auf die Matratze fallen. »Nur ein Albtraum.« Ihre Stimme war rau. Und warum flüsterte sie? Sie war allein, genau wie sie es die letzten zehn Jahren gewesen war.
Sie wälzte sich hin und her, konnte aber keine gute Position zum Einschlafen finden. Das Bett war weicher und breiter, als es die Liege in Tammys Zimmer gewesen war, aber Lena würde jede Bequemlichkeit sofort eintauschen, um wieder das sanfte Atmen ihrer kleinen Schwester zu hören.
Auf keinen Fall würde sie so einschlafen können, mit der Erinnerung an Tammy, die wie ein Schwarm Bienen in ihrem Kopf herumschwirrte.
Sie schaute auf ihren Wecker. Erst drei. Viel zu früh, um den Tag anzufangen. Vielleicht würde ihr ein Tee beim Entspannen helfen. Das Licht des Vollmonds war so hell, dass es für den Weg zur Küche reichte. Das glatte Parkett unter ihren nackten Füßen war solide und angenehm kühl, genau wie damals im Haus ihrer Großmutter.
Als sie den Wasserkocher füllte, durchbrach ein weiterer Schrei die Stille. Kein Traum, sondern echtes Babygeschrei hatte sie geweckt.
Oh, klar. Jess’ Tochter. Aber warum konnte sie Ella hier am anderen Ende des Gartens hören? Während der letzten Woche hatte sie die Anwesenheit eines Neugeborenen im Haupthaus kaum bemerkt.
Sie ließ den halb vollen Wasserkocher in der Spüle stehen und trat ans Küchenfenster. Eine kühle Brise hatte die Abendwärme ersetzt und trug den Duft von Sommerblumen durch das offene Fenster.
Der Vollmond warf lange Schatten zwischen Bäume und Blumenbeete und verwandelte die Nacht in eine magische Schwarz-Weiß-Welt. In der Richtung, aus der das Weinen kam, bewegte sich jemand auf der anderen Seite des Gartens.
Als sich die unförmige Gestalt näherte, konnte Lena Jess ausmachen, die ihre Tochter vorn in einem Tragegestell trug. Barfuß, in Schlafanzughose und mit ausgeleiertem T-Shirt sah Jess viel jünger und weniger einschüchternd aus.
Ella weinte, nur von Schluckauf unterbrochen, weiter.
»Ich weiß, Süße, ich weiß. Ich hasse Blähungen auch. Das ist verdammt nervig.« Jess’ Stimme war tief und sanft und ihr Tonfall klang wie ein beruhigender Singsang, der so gar nicht dem Inhalt entsprach. Sie redete weiter, aber die meisten ihrer Wörter blieben unverständlich.
Die Intimität zwischen Mutter und Tochter fesselte Lena mit unsichtbaren Stricken an ihren Beobachtungsposten. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie verschwinden und Jess’ Privatsphäre respektieren sollte, aber das sanfte Murmeln war hypnotisierend.
»Es tut mir leid, dass meine Milch durch die blöde Flaschennahrung ersetzt werden musste, aber ich habe heute Nacht nichts anderes. Ich vermisse das Stillen auch, aber du willst wirklich nichts von meinen Medikamenten abbekommen. Schreckliches Zeug. Ich hätte nie gedacht, dass ich das vermissen würde. Ich verstehe jetzt erst, warum das so besonders ist.« Mondlicht schien auf ihr Gesicht, als sie auf dem Rasen hin und her wanderte. Etwas glitzerte auf ihren Wangen. Tränen? Aber ihr Gesichtsausdruck war voller Liebe, als sie nach unten sah.
Lena hätte nie erwartet, dass die furchteinflößende und nervenraubende Dr. Riley auch eine verletzliche und sensible Seite hatte. Warum konnte sie dann nicht wenigstens die einfachste Grundlage der Höflichkeit im Kontakt mit Lena aufbringen? Sie schüttelte sich, als könnte sie die negativen Gedanken auf diese Weise loswerden. Es half jedoch, sich auf das einschläfernde Gemurmel zu konzentrieren. Die Worte der Liebe und des Trosts vertrieben die Einsamkeit, die der Albtraum in ihr geweckt hatte.
Nach einer Weile beruhigte sich Ella und Jess’ Stimme driftete in Richtung Haupthaus ab.
Erinnerungen an ihre Zeit mit Tammy stiegen auf, gute Erinnerungen. Die besondere Kuschelzeit am Morgen, wenn Tammy langsam aufwachte, die Freude, sie beim Füttern im Arm zu halten, Tammys Begeisterung für einfache Dinge wie bunte Schals.
Lena starrte in die Sommernacht, bis ihre Beine schwer wurden und sie Schwierigkeiten hatte, die Augen offen zu halten. Als sie in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, hatte sie die Erinnerungen wieder in den tiefsten Winkeln ihres Gedächtnisses verstaut, wo sie ihren Alltag nicht weiter stören würden.