Kapitel 6
Ausnahmsweise wurde Jess vom Klingeln des Weckers und nicht von Ellas Weinen aus dem Schlaf gerissen. Sie schaltete ihn schnell aus, um ihre Tochter nicht zu stören. Bislang hatte sie noch nicht herausgefunden, was Ella aufweckte. Meistens konnte nicht einmal ein Heavy-Metal-Konzert während eines Tornados zu ihr durchdringen. Jess blinzelte und rollte sich auf die Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen und fröhliche pinkfarbene Wölkchen waren vereinzelt am Himmel zu sehen. Sie stöhnte. Wessen geniale Idee war es gewesen, mit den Hühnern aufzustehen? Sie konnte nur sich selbst die Schuld geben.
Müdigkeit war ihr nicht neu. Willenskraft und Beharrlichkeit hatten sie durch das Medizinstudium, die Assistenzarztausbildung und die Subspezialisierungen bis fast an die Spitze ihrer Abteilung getrieben. Jetzt war sie entschlossen, ihr altes Fitnesslevel wieder zu erreichen, und der erste Schritt in diese Richtung war, den Tag mit einem Training zu beginnen.
Nun ja, der zweite Schritt. Erst mal musste sie ihre Medikamente nehmen. Jess schüttelte aus jeder der vier Flaschen eine Tablette, dann halbierte sie das Diuretikum. Sie brauchte nicht mehr so viel von diesem Wirkstoff wie vor einer Woche, als sie mit der Therapie begonnen hatte. Das war ein gutes Zeichen. Sie schluckte sie alle auf einmal, mit einem Rest aus der Wasserflasche, die auf ihrem Nachttisch stand. Igitt. Sie schüttelte sich. Eine bittere Pille schlucken hatte für sie eine ganz wörtliche Bedeutung angenommen.
Sie zog ihr Trainingsoutfit an, das sie vor der Schwangerschaft getragen hatte. Sowohl die Leggins als auch der Sport-BH schnitten tiefer ein, als sie zugeben wollte. »Autsch!«
Ella gluckste und bewegte ihre winzige Hand etwas zur Seite.
Ups. Jess presste die Lippen zusammen und wartete, ob Ella aufwachen würde. Sie hatte eigentlich nicht laut sprechen wollen.
Geräuschlos befestigte sie ihre Pulsuhr. Sie hatte schon seit Jahren keine mehr zum Training getragen, da sie ihren Körper gut kannte. Angesichts ihres Zustandes hatte sie aber doch eine neue bestellt.
Ellas Augenlider flatterten einmal, zweimal, dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck und sie schlief wieder tief.
Mit einem Seufzen, diesmal aber nur innerlich, warf sich Jess eines der übergroßen und verwaschenen T-Shirts aus ihrer Teenagerzeit über, die ihre Mutter für die Gartenarbeit aufbewahrt hatte. Sie schaltete das Babyphon an, das auf dem Nachttisch zwischen ihrem Bett und Ellas Wiege stand, und verließ den Raum, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen. Als sie die Treppe hinunterschlich, spielte sie mit dem Empfänger und setzte ihre im Teenageralter erworbenen Fähigkeiten ein, um die knarrenden Stufen zu vermeiden. Ihrer Mutter würde es nichts ausmachen, wenn sie klopfen und ihr das Babyphon geben würde. Aber dann musste sie sich ihren Fragen stellen oder, noch schlimmer, ihrer Ermunterung. Jess brauchte niemanden, der ihr an der Ziellinie zujubelte oder sie beim Versagen beobachtete.
Draußen enthielt die kühle Morgenluft noch einen Hauch Feuchtigkeit. Tautropfen funkelten auf den Blumen wie kleine Diamanten und Vögel sangen mit einer Begeisterung, die sie selbst nicht aufbringen konnte.
Sie benutzte die Stufen, die von der Terrasse in den Garten führten, um sich zu dehnen. Immerhin hatte sie nicht ihre ganze Beweglichkeit eingebüßt und konnte jetzt wieder ihre Fußzehen erreichen, nachdem der Großteil des Babybauchs verschwunden war.
Wegen des Babyphons würde sie ihr Training auf den Gartenbereich beschränken müssen. Sie fing mit einem entspannten Laufen an, aber bevor sie das andere Ende erreichte, musste sie schon schneller atmen.
Anstatt langsamer zu werden, beschleunigte sie. Sie war keine Versagerin. Sie würde nicht aufgeben.
Hundertneunundsiebzig Schritte bis zum Gartenende. Hundertneunundsiebzig zurück. Vierzehn Schritte hoch zur Terrasse. Ihre Lunge brannte und ihr Herz raste so schnell, als würde sie kurz vor einer erneuten Rhythmusstörung stehen. Aber kein Schwindelgefühl erfasste sie. Sie sah auf ihre Pulsuhr. Die Herzfrequenz war noch akzeptabel. Sie rannte die Treppen wieder hinunter.
Das Zählen lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihrer Lunge ab, als diese versuchte, mehr Sauerstoff in ihren Kreislauf zu pumpen. Aber irgendetwas stimmte nicht. In der zweiten Runde durch den Garten brauchte sie schon zweihundertdrei Schritte. In der dritten musste sie bei zweihundertzweiundfünfzig anhalten.
Keuchend stützte sie die Arme auf ihre zitternden Beine. Sie wollte sich nicht hinsetzen. Jeden Moment würde sie wieder loslaufen. Ihre Lunge protestierte und schmerzte, als würden Glasscherben zwischen ihren Rippen stecken. Und ihr Herz. Sie wollte nicht über ihr Herz nachdenken, aber sie musste. Sie schaute auf die Pulsuhr.
Fuck. Vielleicht brauchte sie doch eine längere Pause.
»Alles in Ordnung?«
Jess zuckte zusammen, als hätte ihre Mutter sie beim Sport erwischt. Aber es war nur Lena. Wie hatte sie sich angeschlichen? Was zum Teufel machte die Mieterin ihrer Mutter so früh schon im Garten?
Für eine Sekunde war Jess versucht, einfach Nein zu sagen und sich ins Gras fallen zu lassen. Stattdessen richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und nutzte ihren Fünf-Zentimeter-Vorteil, um auf den Störenfried hinunterzublicken.
Lena trug lockere schwarze Yogahosen und ein knallpinkfarbenes Oberteil, das ihre Teilnahme an einem Spendenlauf verkündete. Ohne auf ihre Brüste zu starren, konnte Jess aber nicht sagen, für welche Wohltätigkeitsorganisation.
Sie riss ihren Blick nach oben, bevor Lena auf falsche Gedanken kam.
Jess musste das Thema wechseln und Lena loswerden, bevor diese merkte, wie erschöpft Jess wirklich war. Schnell. Sie benutzte ihren bedrohlichsten Gesichtsausdruck, den sie über Jahre der Assistenzarztbetreuung perfektioniert hatte. »Was machen Sie hier im Garten? Zu dieser Zeit?«
Das schien zu funktionieren. Lena trat einen Schritt zurück. »Ähm … Ich wohne hier. Wie Sie wissen.« Sie neigte ihren Kopf und die feinen Fältchen um ihre grünbraunen Augen vertieften sich. »Ich wollte gerade meine Morgenroutine anfangen: Tai-Chi im Garten. Brauchen Sie Hilfe? Geht es Ihnen gut?«
Sah sie etwa so schlimm aus, wie sie sich fühlte? Warum fragte Lena das immer wieder? Eine Hitze, die nichts mit ihrer Erschöpfung zu tun hatte, flutete ihre Wangen und Jess knirschte mit den Zähnen. Sie würde lieber flach auf die Nase fallen, als Hilfe anzunehmen. Eine weitere Lektion, die sie im Medizinstudium gelernt hatte, war, niemals Schwäche zu zeigen. Jess machte kehrt und ging zurück zum Haupthaus. Jeder Schritt war ein Kampf, als hätte sie ihre Bleischürze und einen schweren Rucksack beim Training getragen, aber sie schaffte es, ohne anzuhalten.
Lena konnte ihren Blick nicht von Jess losreißen, während diese sich zum Haupthaus schleppte. Sie schaute ihr nach, weil Jess erschöpft aussah, nicht weil ihre Laufhose ihr wie eine zweite Haut passte und sanfte Kurven offenbarte, die in direktem Kontrast zu ihrem streitbaren Verhalten standen. Lena wollte nur sichergehen, dass Jess nicht zusammenbrach. Sie sah aus, als hätte sie trotz der frühen Tageszeit schon seit Stunden trainiert. Vielleicht hatte sie das auch.
Als Jess die Terrasse erreichte, wandte Lena sich der aufgehenden Sonne zu. Sie atmete tief ein und hob ihre Arme.
Ihr Körper folgte der Tai-Chi-Routine wie an jedem anderen Tag auch. Sie schloss die Augen, um ihre Gedanken zu leeren und Kraft für den Tag zu tanken.
Jess’ Gesicht drängte sich in Lenas Bewusstsein. Sie hatte so erschöpft ausgesehen, vielleicht sogar ängstlich für einen Moment, bis sie Lena wütend angegriffen hatte. Warum war sie wütend geworden? Wovor hatte sie Angst gehabt?
Hör auf. Lass los. Sie war nicht verantwortlich für Jess’ Emotionen oder Taten.
Lena seufzte. So wie der Tag anfing, würde sie extra viel Kraft brauchen.
Nach dem Tai-Chi duschte Lena und zog mehrere Lagen Kleidung an. Heute würde sie auf dem Wochenmarkt arbeiten und das Wetter versprach, wechselhaft zu werden.
Gerade als sie sich Obst zum Frühstück aufschneiden wollte, klopfte es.
Maggie stand mit einem Teller voller Scones auf ihrer Veranda. Sie waren noch warm und der Dampf trug den himmlischen Duft bis zu Lena.
»Hi, komm rein.« Lenas Magen knurrte. »Ich hoffe, du willst teilen, sonst wäre der Anblick nur grausame Folter.«
Maggie lachte. »Ich habe sie für uns gebacken. Hast du Zeit, mit mir zu frühstücken?«
»Ungefähr dreißig Minuten, bis ich losmuss. Ich habe Marmelade, die ich letzte Woche gemacht habe, und etwas Obst. Ist das in Ordnung?« Mehr konnte sie nicht anbieten, da heute erst ihr Einkaufstag war. Sie tauschte auf dem Wochenmarkt immer ihre Aufstriche gegen Gemüse und Käse von anderen Ständen. Die Verkäufer hielten zusammen wie eine eingeschworene Gemeinschaft.
»Das klingt perfekt.« Maggie trug den Teller zu dem kleinen, halbrunden Tisch unter dem Küchenfenster und setzte sich auf einen der beiden Stühle.
»Willst du Kaffee oder Tee?« Lena deckte den Tisch und kontrollierte dann den Wasserkocher. Er war noch heiß.
»Ist der Kaffee von Rachel? Ich kann ihren Röstungen einfach nicht widerstehen.«
»Was sonst?« Ihre Freundin gab Lena oft Reste und sie schätzte die Qualität, obwohl sie selten Kaffee trank.
»Bringst du mir heute welchen mit? Meiner ist fast leer.«
»Sicher.« Lena atmete den Duft des Kaffeepulvers ein, als sie eine großzügige Portion abmaß. »Soll ich noch etwas anderes mitbringen?« Sie trug die Kanne zum Tisch und setzte sich Maggie gegenüber.
»Nein, vielen Dank. Ich habe bei der Kooperative bestellt und sie liefern später. Jess hat nie kochen gelernt und lebt vom Lieferservice oder Käse mit Kräckern. Ich will das Mädchen wieder mit gesundem Essen vertraut machen, sodass sie ein paar Vitamine speichern kann, die nicht aus einer Pille stammen.«
Lena nahm sich einen noch warmen Scone und bestrich ihn mit Butter, bevor sie einen Löffel Erdbeere-Pfefferminz-Marmelade darauf verteilte. »Sie sieht für mich nicht ungesund aus, nur erschöpft. Heute Morgen habe ich sie Joggen gesehen.«
»Was? Wo?« Maggie erblasste und ihr Scone fiel auf den Teller. »Oh, entschuldige, aber … sie sollte nicht allein trainieren.«
»Warum? Ich sah sie im Garten, als ich mit Tai-Chi beginnen wollte.« Hier war die sicherste Gegend, in der Lena bislang gelebt hatte, und sie hatte noch nie jemanden sagen hören, dass man nicht allein joggen sollte.
»Sie hat … Bevor sie hierherkam … Ich sollte dir das nicht sagen, aber …« Maggies Lippen zitterten. Tränen glänzten in ihren Augen.
Lena nahm die Hand der älteren Frau. »Ist es wegen ihrer Krankheit?«
Maggie schluckte und wischte sich mit der freien Hand über die Augen. »Es kam so unerwartet. Es ist nicht, dass ich dir nicht traue, aber Jess ist extrem reserviert und es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Sie braucht Ruhe und Abstand zu all dem Stress.«
»Lass mich wissen, wenn ich irgendwie helfen kann.« Lena war sicher nicht erpicht darauf, wieder von Jess angemault zu werden, aber sie wollte Maggie unterstützen. Und ihre Tochter brauchte offensichtlich Hilfe. Lena würde es nicht laut sagen, aber Dr. Jess Riley erschien ihr nicht wie jemand, der sich Ruhe und stressfreies Leben zu Herzen genommen hatte. Immer wenn sie sich begegneten, konnte sie spüren, wie Jess Wellen von Anspannung und Wut ausstrahlte.
»Danke. Ich denke, es reicht, ihr gegenüber offen zu bleiben. Ich weiß, dass sie manchmal sehr abrupt und ein wenig unfreundlich daherkommt, aber wenn du sie kennenlernst, wirst du merken, dass sie gar nicht so ist. Ich glaube, sie könnte eine Freundin gebrauchen.« Maggie nahm ihren Scone wieder in die Hand und biss herzhaft hinein.
Lena schloss schnell den Mund, als sie merkte, dass er offen stand. Sie schluckte ihre Antwort hinunter. Sich zwischen Mutter und Tochter zu stellen, insbesondere, wenn Maggie durch ihren Mutterinstinkt geblendet wurde, war keine gute Idee. Lena würde auf Distanz bleiben und wenn ein Wunder geschah und Pinguine fliegen lernten, würde sie sich mit Jess anfreunden.
»Ich bin nicht besser als eine Spionin. Oder eine Stalkerin.« Jess versteckte sich hinter den Vorhängen in Ellas Zimmer, als ihre Mutter und Lena Arm in Arm in der felsigen Ecke des Gartens spazieren gingen.
Ella rülpste. Das ließ sich vielleicht übersetzen mit »Ja, Mama, stimmt. Warum machst du so etwas?«
Eine berechtigte Frage. Sie hielt Ella gegen ihre linke Schulter und klopfte sanft auf ihren Rücken. »Ich weiß nicht, aber irgendetwas stimmt mit Lena nicht. Warum sollte sie sonst ihre Freizeit mit einer Frau verbringen, die doppelt so alt ist?«
Eigentlich ging es Jess auch nichts an. Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von den beiden lösen. Eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Jess war sich nicht sicher, wie sie ihre eigenen Gefühle interpretieren solle. Hatte sie ein schlechtes Gewissen oder war es berechtigtes Misstrauen? In den letzten Monaten hatten ihre Hormone sie irrationaler handeln lassen als in ihrer Pubertät und sie war mehr als einmal entsetzt und frustriert über den Verlust ihrer Impulskontrolle gewesen.
Jetzt zeigte ihre Mutter Lena mehrere Pflanzen. Grünzeug, noch nicht einmal Blumen. »Interessiert sie sich wirklich für den Garten oder ist das nur ein Spiel, um sich bei einer älteren, reichen Frau einzuschmeicheln?«
Ihre Mutter war alles andere als gebrechlich oder vergesslich, aber vielleicht wusste Lena das nicht.
Ohne Vorwarnung richtete sich ihre Mutter auf und sah zum Haus; es war, als würde ihr Blick Jess wie eine Pfeilspitze durchbohren.
Sie sprang einen Schritt zurück. »Ups, das war knapp. Denkst du, sie hat mich gesehen?«
Ella wand sich ein paar Sekunden lang an ihrer Schulter und weinte kurz.
»Okay, okay. Ich suche mir eine andere Beschäftigung.« Sie roch an Ellas Hintern. »Vielleicht sollte ich dich sauber machen?«
Jess trug ihre Tochter zu der Kommode am anderen Ende des Raumes. Auf der hölzernen Oberfläche hatte sie früher ihre Leichtathletik-Trophäen ausgestellt, aber jetzt diente sie als Wickeltisch. Sie hatte ein weiches Handtuch ausgebreitet und ihre Mutter hatte das Brett darüber mit einem Mobile dekoriert. Plüschtiere in überdimensionierten gestreiften Badeanzügen tanzten um eine breit grinsende Sonne. Dämlich. Wer dachte sich so etwas aus?
Alles, was sie brauchte, war in der obersten Schublade verstaut: Tücher, Creme, Windeln und Ellas Kleidung. Die Kommode war nicht so praktisch wie der funktionell designte Wickeltisch in ihrer eigenen Wohnung, aber sie hatte auch nicht vor, diese hier länger als notwendig zu benutzen.
Jess schubste das Mobile an, damit es sich drehte, und Ella versuchte, es mit ihrem Blick zu verfolgen. Die hellblauen Babyaugen waren so groß und voller Staunen, weil diese Tiere nur für sie tanzten. Vielleicht sind sie ja gar nicht so dämlich.
Nachdem sie Ellas Windel gewechselt hatte, nahm Jess ihre Runde im Zimmer wieder auf.
Acht Schritte von der Tür zum Fenster, zehn Schritte vom Bett zum Wandschrank. Wie oft war sie in ihren Teenagerjahren genau dieselbe Strecke gelaufen? Sie hatte sich wie ein gefangener Tiger gefühlt, bereit, dem Käfig zu entspringen und die Welt zu entdecken. Poster von Models und Schauspielerinnen hatten in ihr eine Sehnsucht nach etwas ausgelöst, das sie damals nicht hatte benennen können. Als Teenager hatte sie gedacht, sie wollte wie diese Berühmtheiten sein und so wie sie aussehen. Ein unerreichbares Ziel für eine schlaksige, dunkelhaarige Jugendliche, die mehr wie die androgynen Männer aussah, die einige der Frauen auf den Postern begleiteten.
Jetzt war ihr bewusst, dass sie die Begleiterin der Frauen hatte sein wollen.
Leider war dieser Wunsch bisher weniger in Erfüllung gegangen. Oder eher gar nicht. Sie hatte nie Schwierigkeiten, Frauen kennenzulernen oder auch zweite oder dritte Dates zu bekommen. Die Probleme hatten immer angefangen, wenn die Frauen mehr Zeit verlangten, als Jess ihnen geben konnte. Keine hatte verstanden, dass die Medizin immer an erster Stelle stand.
Nun ja, jetzt, da Ella die erste Stelle eingenommen hatte und die Medizin nur noch an zweiter Stelle kam, waren ihre Chancen, eine Ehefrau zu finden, nicht besser geworden. Jess würde allein bleiben. Wie ein Kind musste sie sich an ihre Mutter wenden, wenn sie Hilfe brauchte. Wann würde sie fit genug sein, um in ihre Wohnung zurückzukehren? Was, wenn ihre Herzinsuffizienz sich nicht bessern würde? Würde sie für immer auf Hilfe angewiesen bleiben?
Ihr stockte der Atem. Gefangen. Sie war in diesem schwachen Körper gefangen. Und in diesem winzigen Zimmer.
Ella wand sich in ihren Armen und weinte.
Jess atmete ein paarmal tief ein, um sich zu beruhigen. Die Chancen, dass sich ihr Herz vollständig erholen würde, standen gut. Natürlich konnte in der Medizin nichts zu hundert Prozent garantiert werden, aber sie war optimistisch. Sie musste nur einen Weg finden, sich zu entspannen, und zwar bald. Sie sollte ihren Stress nicht auf Ella übertragen.
Ihr Blick fiel auf das Fenster. Das Dach des Gartenhauses und ein Teil der Veranda waren sichtbar, aber Bäume und Büsche verbargen den Rest. Dieser unerreichbare Ort, an dem eine Fremde wohnte, war eine Oase mit mehr als einem Zimmer und genug Raum, um sich nicht eingesperrt zu fühlen. Jess würde es viel besser gehen, wenn sie dort wohnen könnte, statt in diesem kleinen Zimmer hier.
Alles führte zurück zu Lena. Jess teilte ganz und gar nicht das Vertrauen ihrer Mutter in diese Person. Sie brauchte mehr Informationen und der erste Schritt war ein Gespräch mit ihrer Mutter, um herauszufinden, was sie wusste. Wenn etwas nicht stimmte, würde Jess es beweisen. Sie war es ihrer Mutter schuldig, sie zu beschützen.
Einen Plan zu haben, war beruhigend.
Nachdem Lena verschwunden war, würde Jess das Gartenhaus dekorieren und es würde sich wie ein Zuhause anfühlen, etwas, nach dem sie seit dem Medizinstudium vergeblich gesucht hatte.
»Eine perfekte Lösung.« Jess grinste. »Bist du nicht auch der Meinung, Süße?«
Ella gähnte nur. Aber was wusste sie schon?
Als ihre Mutter aus dem Garten zurück ins Haus kam, ging Jess nach unten. Zimtduft hing in der Luft. Hatte ihre Mutter schon wieder gebacken? Scones hatten Jess erst gestern in Versuchung geführt. Ihr Magen knurrte. Aber was auch immer es war, sie würde sich ganz weit davon fernhalten. Kohlenhydrate waren im Moment nicht ihre Freunde.
Unglücklicherweise fand sie ihre Mutter in der Küche, wo sie Zimtschnecken in einen Behälter stapelte. Zwei passten nicht mehr hinein und sie legte sie auf einen Teller. »Guten Morgen. Hast du schon gefrühstückt?«
»Noch nicht. Ich hole mir einen Joghurt.« Beim Anblick der frischen Zimtschnecken lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber sie öffnete den Kühlschrank und nahm einen Becher Naturjoghurt heraus. Langweiliges Zeug, aber sie würde ihre Figur nicht wiederbekommen, wenn sie jedes Mal nachgab, nur weil etwas köstlich duftete.
»Willst du Tee? Ich habe frische Minze gepflückt.«
»Danke.« Wenn ihre Mutter in der Stimmung war, sie zu verwöhnen, konnte das ihrem Plan nur helfen. Auch wenn Jess für eine Tasse anständigen Kaffee getötet hätte, sollte ein koffeinfreies Leben ja gut für ihr Herz sein. Zumindest wenn sie das glaubte, was sie ihren Patienten immer erzählte.
Während ihre Mutter den Tee zubereitete, setzte sich Jess an den Holztisch am Fenster und schob sich einen Löffel Joghurt in den Mund. Bäh. Vielleicht würde ein wenig Honig helfen? Honig war besser als Zucker, oder?
Sie rollte ihre Augen und legte den Löffel zur Seite. Kohlenhydrate waren Kohlenhydrate. Vielleicht war sie noch nicht hungrig genug, wenn sie so mäkelig war. Sie war schließlich auch nicht wegen des Frühstücks in die Küche gekommen. »Mom, ich habe gestern deine Mieterin getroffen. Sie war früh auf.«
Ihre Mutter hob ihre Augenbrauen. »Warum nennst du sie nicht Lena? Mieterin klingt so unpersönlich.« Sie stellte eine dampfende Tasse Tee vor Jess und setzte sich mit ihrer eigenen Jess gegenüber an den Tisch. Dann gab sie einen Löffel Honig in ihren Tee und schob das Glas zu Jess.
Seufzend schüttelte sie den Kopf. Hatte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen? Konzentrier dich auf die Unterhaltung, Jess. »Ja, okay, Lena. Findest du es nicht merkwürdig, dass sie so früh auf ist?«
»Du warst doch auch früh auf. Sie hat mir von eurem Treffen erzählt und dass du trainiert hast. Solltest du das allein tun?« Sie schaffte es, nicht vorwurfsvoll zu klingen, nur besorgt. Trotzdem verursachten ihre Worte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Solch ein Talent besaßen nur Mütter.
Jess verzog das Gesicht. Diese Fähigkeit musste sie unbedingt selbst erwerben, bevor Ella in die Pubertät kam. »Ich habe nichts Anstrengendes gemacht.« Keine komplette Lüge – die Bewegung wäre nicht anstrengend gewesen, wenn sie auch nur ein Fünftel ihres vorherigen Fitnesslevels behalten hätte. Es war besser, dieses Thema zu vermeiden und einen anderen Weg zu finden, um mehr über Lena zu erfahren. »Lebt sie schon lange hier?«
»Fast ein Jahr, vielleicht seit zehn Monaten oder so. Seit ich das Gartenhaus renoviert habe.« Ihre Mutter blies über den Tee und nahm einen kleinen Schluck.
Jetzt, da sie es erwähnte, erinnerte sich Jess, dass ihre Mutter die Renovierung und Vermietung des Gartenhauses erwähnt hatte. Aber Jess’ Gedanken hatten sich damals um ihre Midlife-Crisis gedreht und um die Idee, dass es Zeit für ein Baby war, eine eigene Familie, jemanden zum Lieben und Verwöhnen. Sie hatte tiefere Gespräche mit ihrer Mutter vermieden, weil sie befürchtete, sie würde Jess’ Wunsch nicht verstehen oder unterstützen. Kein Wunder, dass sie die Neuigkeit verpasst hatte, dass jemand hier lebte.
Das schlechte Gewissen klopfte wieder leise an die Tür, aber Jess weigerte sich, es hereinzulassen. Es ging hier nicht um ihre Schwäche als Tochter. Der Zweck dieses Gespräches war, Informationen zu sammeln, um ihre Mutter vor Lena zu beschützen.
Jess lehnte sich im Stuhl zurück. »Wie hast du Lena gefunden?«
»Ich kaufe immer an ihrem Stand auf dem Wochenmarkt ein und sie hatte ein Schild aufgestellt, dass sie dringend eine neue Bleibe sucht. Sie hat mir erzählt, dass sie nicht mehr länger in ihrer alten Wohnung bleiben konnte.«
Jetzt kamen sie zu den interessanten Dingen. »Was war denn mit ihrer letzten Wohnung? Warum musste sie ausziehen?«
»Oh, das war schlimm. Ihre Mitbewohnerin wollte, dass sie mehr zahlte, weil sie Lenas Arbeit nicht mochte. Sie konnte sich das Zimmer nicht mehr leisten.«
Die Geschichte klang höchst verdächtig. Jess starrte in ihren Tee, während sie über die nächste Frage nachdachte. Ihre Mutter hatte die Blätter am Stängel gelassen und die Minze glich nun welken Meeresalgen. Nicht sehr appetitlich. Jess bevorzugte ihre Getränke aus einer zuverlässigen industriellen Quelle, nicht hausgemacht. Der Tee roch allerdings erfrischend. Sie nippte daran. Gar nicht so schlecht. »Warum mochte die Mitbewohnerin den Job auf dem Wochenmarkt nicht? Verkauft Lena Fisch?«
»Oh, nein. Nicht diese Arbeit. Sie unterrichtet auch noch Entspannungstechniken. Sie hat mehrere Abende die Woche Klienten zu Hause. Ihre Mitbewohnerin wusste das vorher, aber sie hat später ihre Meinung geändert. Jetzt, da Lena allein im Gartenhaus lebt, ist das kein Problem mehr.«
Entspannungstechniken? Was bedeutete das? Und Fremde kamen und gingen abends durch den Garten? Das klang nicht nach einer guten Idee. Jess konnte fast spüren, wie ihr Blutdruck anstieg. Ihre Mutter war viel zu vertrauensselig. »Warum hat sie zwei Jobs?« War die Arbeit auf dem Wochenmarkt nur eine Tarnung für die zwielichtigen Abendaktivitäten?
»Sie hat sogar drei.« Sie hielt ihre Hand hoch, um an den Fingern abzuzählen. »Wochenmarkt am Donnerstag und Samstag, Unterricht an mehreren Abenden und sie kellnert fast jeden Tag in einem süßen, kleinen Bio-Café.«
Ihre Mutter zählte all die Vorzüge des Cafés auf, aber Jess hörte nicht mehr zu. Es klang, als hätte ein Haufen Hippies einen Platz zum Abhängen eröffnet, also kein Ort, den sie besuchen wollte.
Was mit Lena nicht stimmte, war offensichtlich. Geld musste ein schwerwiegendes Problem sein. Hatte ihre Mutter eine Kaution verlangt? Hatte sie den Kreditstatus der Frau überprüft? Vermutlich nicht. Sie hatte ein freundliches Gesicht gesehen und jemanden, der Hilfe brauchte, und hatte reagiert. Bevor Jess sichs versah, würde ihre Mutter vermutlich Lenas Rechnungen bezahlen und Schecks für irgendwelche dubiosen Projekte ausstellen.
Jess musste mehr über die Aktivitäten im Gartenhaus und Lenas finanzielle Situation herausfinden, bevor ihre Mutter zu tief in was auch immer hineingezogen wurde.