Kapitel 8
Lena saß auf einem der gut platzierten Gartenstühle zwischen den Blumenbeeten. Sie wünschte, sie hätte öfter Gelegenheit, die vielen Entspannungsmöglichkeiten zu nutzen, die Maggies parkähnlicher Garten bot. Das Zeichenbuch auf dem Schoß balancierend, skizzierte sie den Fingerhut vor ihr mit seinen vielen dunkelrosa Blüten und violetten Farbtupfern. Wenn sie Glück hatte, würde sie es schaffen, die Zeichnung zu kolorieren, bevor ihre Schicht im Cashew Cult anfing. Sie summte, während ihr extrafeiner Stift über das Papier flog. Es war schon über eine Woche her, seit sie das letzte Mal zu Hause und wach genug gewesen war, um zu zeichnen.
Das Klingeln ihres Handys ließ sie innehalten. Sie wollte es ignorieren, aber vielleicht war es ein neuer Kunde. Sie zog das Telefon aus der Tasche.
Unbekannte Nummer. Ihr Stift glitt ihr aus den Fingern und fiel auf den Boden. Hatte ihre Mutter irgendwie ihre neue Nummer herausgefunden? »Lena Walker.«
»Hi, Lena, hier ist Rachel.«
»Oh, hi.« Lena atmete zitternd aus. »Wie geht’s dir?«
»Mir geht’s gut.« Aber ihr Tonfall entsprach nicht ihren Worten; ihre Freundin klang nicht so sorglos wie sonst. »Ich rufe von meiner Mutter aus an. Sie hatte einen Unfall. Ein Auto hat sie angefahren, als sie die Straße überquerte. Sie hat sich Hüfte und Handgelenk gebrochen. Der idiotische Fahrer ist abgehauen und hat sie einfach liegen lassen.«
»O nein, wie geht es ihr?« Lena schloss ihr Zeichenbuch und presste es an die Brust.
»Ganz okay, aber sie musste operiert werden und es steht noch eine Menge Physiotherapie an.« Rachel seufzte. »Ihre Versicherung deckt das nicht mal ansatzweise ab. Jetzt stapeln sich die Rechnungen zu Hause.«
»Das tut mir so leid für euch.« Lena konnte gut nachvollziehen, wie Rachel sich fühlte. Ihre eigene Mutter hatte sich beide Handgelenke gebrochen, als sie betrunken die Treppe hinuntergefallen war. Ohne Versicherung. Lena zahlte die Schulden immer noch ab. Schulden. Ein eiskalter Schauer lief Lena den Rücken hinunter. »Du rufst wegen des Darlehens an, oder?«
»Ähm, ja. Es tut mir leid. Ich weiß, dass wir die Raten und alles schriftlich festgelegt haben, aber ich muss meiner Mutter helfen und …« Ihr schien es aufrichtig leidzutun. Nicht, dass das Lena irgendwie weiterhalf.
»Schon okay.« Jetzt, da sie die normalen Schulden unter Kontrolle hatte, hatte sie gehofft, abends etwas weniger Klienten annehmen zu können. Aber das Darlehen nicht schneller zurückzuzahlen, war keine Option. Rachel hatte Lena geholfen, ihr Geschäft mit den Aufstrichen aufzubauen und auf dem Wochenmarkt Fuß zu fassen.
Sie schluckte. Zweimal. »Brauchst du alles auf einmal?« Das würde sie nicht schaffen, aber vielleicht bekam sie irgendwo anders einen Kredit. Der Gedanke an die Höhe der Zinsen machte sie schwindelig.
»Nein, aber vielleicht können wir die Raten neu verhandeln. Wie viel kannst du zahlen?«
Lena versuchte, es auszurechnen, aber die Zahlen flohen aus ihrem Verstand wie ein Schwarm ängstlicher Spatzen. »Ich muss meine laufenden Rechnungen anschauen. Kann ich dich zurückrufen?«
»Wir können uns auf dem Markt unterhalten. Ich lebe wieder bei meiner Mutter und kann nicht immer ans Telefon gehen.« Rachel seufzte, ging aber nicht weiter auf das Thema ein. Musste sie auch nicht. Sie hatten mehr als einmal über Rachels Sorgen gesprochen, dass ihre Mutter allein lebte und älter wurde.
»Wir sprechen morgen, okay? Ich muss mit den Leuten im Café reden und versuche, ein paar zusätzliche Schichten zu übernehmen.«
»Danke. Bis dann.« Erleichterung hatte die Sorge in Rachels Stimme ersetzt, als sie sich verabschiedete.
Lena stopfte das Handy in ihre Tasche, hob den Stift auf und öffnete ihr Skizzenbuch. Sie wollte sich in ihrer Zeichnung verlieren, wo alles schön und blühend und leuchtend war. Aber ihre Finger zitterten.
Bevor sie eine weitere Linie setzen konnte, fiel eine Träne auf das Papier. Sie rieb sich die Wange und packte ihre Zeichensachen zusammen.
Auf dem Weg zum Haus biss sie die Zähne zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Aber es nutzte nichts. Ihr Blick verschwamm und sie schritt mehr oder weniger blind den Pfad zum Gartenhaus entlang.
Bis sie gegen ein weiches Hindernis, das sofort anfing zu fluchen, rannte. »Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hingehen?« Jess schob sie eine Armlänge zur Seite. »Weinen Sie? Habe ich Ihnen wehgetan? Tut mir leid.« Die letzten Worte waren nur ein Flüstern.
»Nein. Ja. Nein.« Lena schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. »Es tut mir leid. Lassen Sie mich gehen. Bitte.«
Ohne Diskussion ließ Jess ihren Arm los und trat einen Schritt zurück.
Lena floh, bevor sie sich noch mehr blamieren konnte.
Das Café war netter als erwartet, schien aber ziemlich schlecht organisiert. Die Sitzplätze draußen waren kreuz und quer unter ein paar Bäumen verteilt und Jess konnte im Kopf klar eine viel effizientere Aufteilung der Tische erkennen, die mehr Kunden unterbringen würde. Aber immerhin hatte sie so genug Platz, um Ellas Kinderwagen abzustellen.
Heute war ihr erster Ausflug als Mutter und Tochter, aber Jess hatte keine Zeit, sich darüber viel Gedanken zu machen. Sie musste sich auf die Unterhaltung mit Diana konzentrieren, die ihr gegenübersaß und bisher den Großteil ihrer Konversation bestritt. Jess’ Gedanken kreisten um die Frage, wie sie mehr über Lena erfahren konnte.
Sie rollte den kleinen Keks, der mit ihrem entkoffeinierten Kokosnuss-Latte-Macchiato gekommen war, zwischen den Fingern.
Kokosnuss. Sie konnte nicht glauben, dass weder ihre Mutter noch Lena erwähnt hatten, dass das Café vegan war. Und die Kellnerin hatte betont, dass der Keks glutenfrei war. Jess hatte nicht gefragt, sie genoss normalerweise ihre glutenhaltigen Sünden mit echter Milch.
War Lena auch vegan? Konnten Veganer kriminell sein? Solange sie kein Pferd zur Flucht benutzten, konnten sie vermutlich immer noch Banken ausrauben. Oder ältere Witwen wie ihre Mutter.
Eine Hand wedelte vor ihren Augen. »Hey, Jess. Du hast kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe, oder?«
Ups. Vermutlich war sie mit dem Aufrechterhalten der Unterhaltung nicht so erfolgreich gewesen, wie sie dachte. Sie legte den Keks zurück auf die Untertasse. Glutenfrei oder nicht, sie war auf Diät. »Es tut mir leid. Es ist … es ist nur das erste Mal, dass ich mit Ella unterwegs bin.« Gut. Babys waren eine wunderbare Ausrede.
»Schon gut. Ich habe ja gesagt, dass die Arbeit langweilig ist, aber du hast trotzdem danach gefragt.« Diana lächelte und zeigte auf den Kinderwagen. »Sie ist wahnsinnig niedlich. Ist es nicht toll, ein paar Wochen zusätzlich mit ihr zu Hause zu sein, egal aus welchem Grund?«
Diese Glas-halb-voll-Einstellung passte zu Diana, aber Jess war sie fremd. Das war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber vielleicht steckte in Dianas Aussage auch ein Körnchen Wahrheit. »Ich mag, wie du denkst. Es ist aber nicht das, was ich geplant hatte.«
Diana nahm einen Bissen von ihrem veganen Karottenkuchen und nickte. »Du hast das Gleiche schon mal gesagt, vor Ellas Geburt. Was waren deine Pläne?«
Wollte sie sich auf das Thema einlassen? Mit Diana, ihrer Arbeitskollegin? Vielleicht reichte die Kurzversion. »Normalerweise bin ich sehr gut organisiert und sogar bevor ich schwanger wurde, hatte ich schon einen Zeitplan erstellt und ein Datum für den Kaiserschnitt festgelegt und wann ich danach zur Arbeit zurückkehren wollte.«
»Du bist aber früher zurückgekommen, oder?«
Jess nickte. »Mein Chef war verzweifelt und wollte, dass ich so schnell wie möglich wieder anfange. Und ich habe natürlich nicht erwartet, dass mir eine Herzinsuffizienz einen Strich durch die Rechnung macht und meine Leistungsfähigkeit ruiniert.« Sie grinste. »Aber du hast recht. Es gibt einige ungeplante positive Nebenwirkungen. Die zusätzliche Zeit mit Ella ist wundervoll.«
»Und du siehst auch gut aus. Wie geht es dir?«
Die Kellnerin bewies hervorragendes Timing und unterbrach sie, bevor Jess eine Antwort formulieren musste. »Ist alles in Ordnung? Braucht ihr noch was?« Sie lächelte ermunternd.
Jess war versucht, eines der vielen Gebäckstücke zu bestellen, die so köstlich dufteten, aber der enge Sitz ihrer Jeans erinnerte sie daran, stark zu bleiben. Sie wollte gerade die Kellnerin wegschicken, als sie sich an ihre Mission erinnerte. »Alles ist super. Aber … ich musste an die andere Frau denken, die ich hier arbeiten gesehen habe. Ihr Name ist Lena. Ist sie heute hier?«
»Lena? Nein. Gab es Probleme?« Die Kellnerin runzelte die Stirn und streifte ein paar ihrer feinen Zöpfe hinter ihr Ohr.
»Nein, keine Probleme. Wir haben uns nur unterhalten über ein, ähm, Rezept. Für, ähm, Marmelade.« War das nicht, was ihre Mutter sagte, das Lena für den Wochenmarkt herstellte?
»Oh, ihre Marmeladen sind großartig. Wir verkaufen sie sogar im Café. Sie arbeitet hier fast jeden Tag, vielleicht kannst du morgen wiederkommen. Das ist typisch für Lena, das Rezept zu versprechen, statt ihr Produkt zu verkaufen. Sie ist viel zu nett und hat überhaupt keinen Geschäftssinn.« Sie sagte das, als wäre es ein Kompliment.
Vielleicht war es das, in einem veganen Hippie-Café. »Sie ist also zu allen nett?«
»Oh, ja.« Die Kellnerin nickte enthusiastisch, als sie sich für das Thema erwärmte. »Letzte Woche hatten wir eine schreckliche Kundin, super anspruchsvoll. Sie brachte Ethan zum Weinen. Lena hat ihn getröstet, mit ihr geredet und das Problem so gelöst, dass die Kundin zufrieden war. Außerdem hat Lena seine Tische bis zum Schichtende übernommen, weil er zu aufgewühlt war, um weiterzuarbeiten. Aber sie hat ihm das ganze Trinkgeld überlassen und er sagte, es war ganz schön viel.«
Kein Geschäftssinn klang wie eine angemessene Beschreibung. Wenn Ethan Jess’ Assistenzarzt wäre, hätte sie ihm gesagt, er solle sich zusammenreißen und seinen Hintern zurück zur Arbeit bewegen. Aber sie vermutete, dass ihre Meinung hier nicht sehr geschätzt würde. »Das ist sehr nett.«
Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, zog ein anderer Gast die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich und sie entschuldigte sich.
Diana lachte leise. »Du hattest doch gesagt, heute wäre dein erstes Mal hier.«
Ertappt. »Jaaa.«
»Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir sicher. Du bist offensichtlich eine schlechte Lügnerin und schwärmst für Lena.«
Es war besser, Diana das glauben zu lassen, als ihr die Wahrheit zu erzählen. Abgesehen von dem Wunsch, ihre Mutter zu beschützen, konnte Jess keine gute Erklärung dafür liefern, warum sie Lena nachschnüffelte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Jess starrte auf ihre Finger, die mit Kekskrümeln übersät waren. Sie wischte sie an ihrer Serviette ab und ließ sich dabei mehr Zeit als notwendig. Bei dem Rumoren in ihrer Magengegend war sie dankbar, dass sie nichts zu essen bestellt hatte.
Ella durchbrach die unangenehme Stille mit einem Schrei und Jess griff in den Kinderwagen, um beruhigend die Hand auf sie zu legen. »Alles okay, Süße.«
Ella glaubte die Lüge keine Sekunde lang und weinte lauter.
Mit ihrer anderen Hand wiegte Jess den Kinderwagen vor und zurück. Die Bewegung half auch nicht. Sie stand auf, holte Ella heraus und hielt sie gegen ihre Schulter.
»Was brauchst du? Frische Windeln? Essen?« Sie konnte Ersteres ohne Probleme zur Verfügung stellen, hatte aber vergessen, Milch mitzubringen. Jess hielt sie näher an ihr Gesicht, roch aber nichts Verdächtiges. Was brauchte ein Baby sonst noch? Aufmerksamkeit und Kuscheln?
Jess probierte verschiedene Positionen aus, aber egal, wie sie Ella hielt, sie hörte nicht auf zu weinen. Aus dem Augenwinkel schaute sie, ob Diana genervt war.
Überraschenderweise grinste sie. »Sie klingt ganz wie ihre Mama.«
War das eine Spitze wegen ihres Temperaments? Jess versteifte sich kurz, dachte dann aber für eine Sekunde nach. Okay, vielleicht hatte Diana recht. Jess war berüchtigt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie hatte null Toleranz für Dämlichkeit und im Krankenhaus arbeiteten zu viele Idioten. Diana hatte bewiesen, dass sie eine Ausnahme war, außerdem hatte sie Sinn für Humor.
Jess versuchte, sich zu entspannen, vor allem Ella zuliebe. Nicht, dass das etwas gebracht hätte. »Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat sie keinen Grund, sich zu beschweren. Der Tag ist sonnig, die Temperatur ist perfekt, sie hat ein gemütliches, mobiles Bett zum Schlafen und jemanden, der sie Tag und Nacht bedient.«
Diana lachte. »Ist das deine Definition von Glück? Ein Bett und jemand, der dich bedient?«
»Himmel, nein!« Jess musste mitlachen. »Ich lebe im Moment bei meiner Mutter. Wir versuchen, den schmalen Grat zwischen hilfreicher Unterstützung und erdrückendem Verwöhnen zu finden.«
Ein Funken Neugier leuchtete in Dianas Augen auf, aber Ella verhinderte mit einem erneuten Schreianfall weiteres Nachfragen.
Jess lagerte sie erneut um, sodass sie mit dem Kopf auf ihrer Schulter ruhte und nach hinten sah.
»Hey, Ella, was beschwerst du dich? Hast du keinen Kuchen abbekommen?« Die sanfte Stimme kam von hinten.
Überraschenderweise beruhigte Ella sich für einen Moment.
Lena? Sollte das nicht ihr freier Tag sein? Jess fuhr herum. »Was machst du hier?«
Lena zog ihre Augenbrauen hoch, als Jess das Du entwischte, und ihr Mundwinkel zuckte. »Ich arbeite hier. Ich könnte dich
das Gleiche fragen.«
Scham und die Wut auf sich selbst verbanden sich zu einer brenzligen Mixtur. Ella fing wieder an zu weinen und kürzte die Zündschnur noch weiter. Jess hatte keine Ahnung, wie sie ihren Besuch erklären sollte, und sie würde sich ganz bestimmt nicht verteidigen. Diese Frau hatte kein Recht, sie dafür zu verurteilen, wohin sie ging, kein Recht über sie zu lachen, kein Recht zu …
»Aber werde ich nicht.« Lenas schulterlange braune Locken schwangen, als sie den Kopf schüttelte, und ihre grünbraunen Augen funkelten amüsiert. »Wenn ich die Zeit hätte, würde ich auch lieber hier sitzen und Kaffee trinken.«
Was sollte sie darauf antworten? Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte Jess nicht das Bedürfnis, das letzte Wort zu haben. Ein merkwürdiges Gefühl. Aber nicht wirklich unwillkommen.
Lena ging um Jess herum und sprach direkt zu ihrer Tochter. »Ella, ich weiß, dass das Leben hart und unfair ist. Irgendetwas stört immer und du weißt noch nicht, was oder warum.« Sie benutzte nicht die Babysprache, in die jeder automatisch verfiel, Jess eingeschlossen.
Ein paar Sekunden lang pausierte Ella ihr Weinen und Jess streichelte ihren Rücken.
Erst summte Lena ein paar Töne, dann sang sie mit einer tiefen, warmen Stimme. Ihre Wörter ergaben keinen Sinn, wie eine Fantasiesprache, die sie erfunden hatte, fast magisch.
Gebannt hörte Jess zu. Die Stimme und die Melodie wickelten sie in eine kuschelige Decke und umarmten sie, bis ihre Anspannung in einem warmen See aus Milch und Honig schmolz.
In dem Moment, als Ella der Anziehungskraft des Liedes nachgab, entspannte sich ihr kleiner Körper. Sie schmiegte sich an Jess’ Schulter, als ob das der Platz war, an den sie gehörte.
Und das tat sie. Eine Woge der Verbundenheit und der Liebe schoss durch Jess und sie hielt Ella fester im Arm.
Sie sollte ihre Tochter zurück in den Kinderwagen legen, damit Ella mehr Ruhe bekam, aber sie konnte sich noch nicht von dem kleinen, warmen Körper in ihren Armen trennen.
Lenas Lied endete und Jess blinzelte, als würde sie aus einem Traum aufwachen.
»Oh, es hat funktioniert. Das Lied war wunderschön. Was für eine Sprache war das?«, flüsterte Diana.
Jess wusste ihre Rücksichtnahme auf Ella zu schätzen.
»Meine Oma hat mir das immer vorgesungen«, flüsterte Lena zurück. Ihre Stimme so nah an Jess’ Kopf zu hören, war merkwürdig intim. »Es ist Kroatisch, aber ich habe keine Ahnung, worum es geht. Meine Oma hat es von ihrer Großmutter gelernt, kannte aber sonst kaum Wörter in der Sprache.«
Jess wusste, dass sie etwas sagen und Lena danken sollte, aber sie fand keine Worte. Sie neigte ihren Kopf näher an Ellas und schloss ihre Augen. Der Babyduft vermischt mit Creme umhüllte sie und füllte sie mit Frieden. Sie wollte für immer in dieser Position bleiben, aber sie konnte ihre Umgebung nicht länger ignorieren.
Diana und Lena redeten, als würden sie sich schon seit Jahren kennen, lächelten einander an und nickten sich zu. Freundlichkeit schien für beide eine Selbstverständlichkeit zu sein.
Ganz im Gegensatz zu Jess, die immer befürchtet hatte, dass Freundlichkeit als Schwäche missverstanden werden konnte, insbesondere als Frau in einem männerdominierten Fachgebiet. Wann war das in ihr Privatleben übergeschwappt? Jess’ Gefühle wechselten erneut die Richtung, als würde sie mit verbundenen Augen Achterbahn fahren. Ihr wurde ganz flau im Magen.
Sie legte Ella rasch zurück in den Kinderwagen, bevor diese ihre Unruhe spüren und wieder aufwachen würde.
Lena lächelte sie an. »Brauchst du irgendetwas für sie? Ich kann Fertigmilch in der Küche warm machen.«
Jess wollte nicht zugeben, dass sie nichts mitgebracht hatte. »Nein, danke. Wir gehen besser nach Hause.« Oh, toll, jetzt war sie eine dieser Mütter, die von sich im Plural sprachen.
»Klar. Ich schicke meine Kollegin mit der Rechnung rüber. Ich muss sowieso meine Schicht anfangen.« Lena winkte Diana zum Abschied. »Es war nett, dich kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns bei Jess.«
Sie ging mit einem eleganten Hüftschwung davon und suchte sich ihren Weg zwischen den voll besetzten Tischen.
Jess riss ihren Blick los. Du kannst die Frau nicht leiden und jetzt schaust du ihr auf den Hintern? Nur weil sie eine nette Singstimme hat. Du bist erbärmlich, Jess.
»Das war also Lena.« Diana musterte sie mit einem wissenden Grinsen.
Jess ignorierte sie.
Am Abend schob Jess den Kinderwagen die steile Einfahrt zum Haus ihrer Mutter hinauf. Okay, vielleicht war es nicht wirklich steil, aber es fühlte sich so an, als würde sie den Mount Everest besteigen und nicht einen sanften Hang.
»Hey!« Der überraschte Ausruf wurde von raschen Schritten begleitet.
Jess sah auf. Im Halbdunkel hatte sie fast die Person überfahren, die in der Einfahrt stand. Und nicht irgendeine Person. Lena. Warum war die Frau überall, wo sie hinging? Spionierte sie ihr nach? Jess verwarf den Gedanken so schnell, wie er entstanden war. Das war eher ihr schlechtes Gewissen, das da sprach. Sie war noch nicht darüber hinweggekommen, dass sie bei ihrer Informationsfindungsmission im Café erwischt worden war.
Mittlerweile hatte die andere Kellnerin Lena bestimmt von den neugierigen Fragen erzählt, die Jess gestellt hatte. Hitze schoss in ihre Wangen und sie unterdrückte ein Stöhnen. Seit wann errötete sie ständig? Hatte sie jetzt vollständig die Kontrolle über ihren Körper verloren?
»Was machst du hier?« Die Frustration über den Verrat ihres Körpers ließ ihre Stimme rauer klingen als beabsichtigt. In dem Augenblick, als sie die Worte aussprach, bedauerte sie sie auch schon. Lena lebte hier, verdammt noch mal, und sie musste endlich damit aufhören, das jedes Mal zu fragen.
»Ich wohne immer noch hier.« Anstatt zurückzufauchen, wie Jess es getan hätte, blieb Lenas Stimme sanft. Ihr Tonfall war vielleicht sogar ein wenig neckend, aber Jess war sich nicht sicher, da sie ihren Gesichtsausdruck nicht sah.
Ihre Wut fiel in sich zusammen wie eine Luftmatratze mit offenem Ventil. Sie war nicht daran gewöhnt, aufgezogen zu werden. Außer Kayla und zuletzt Diana hatte das schon lange keiner mehr gewagt.
Lena beugte sich über den Kinderwagen und schaute hinein. »Und wie geht’s Ella? Schläft sie schon?« Sie summte einige Töne.
Die Erinnerung an das Wiegenlied rauschte mit unerwarteter Heftigkeit nach vorn. Die Wärme, die Jess während des Liedes erfüllt hatte, umschmeichelte sie wie ein Schaumbad. »Gut. Es geht ihr gut. Aber ich musste mit ihr spazieren gehen, weil es ihr schwerfiel, einzuschlafen. Das ist ziemlich ungewöhnlich. Vielleicht war der Ausflug zu aufregend für sie.« Halt die Klappe! Vielleicht hattest du auch zu viel Aufregung, Jess.
Sie straffte ihre Schultern und trat einen Schritt zurück. Sie musste erschöpfter sein, als sie gedacht hatte. Oder ihre Hormone waren durcheinander. »Ich bringe sie besser in ihr eigenes Bett.«
»Ja, klar. Ich bin auch auf dem Weg dahin.« Lena gähnte.
»Gute Nacht.« Na also, Jess konnte höflich sein. Es war nur schade, dass sie sich selbst daran erinnern musste, es auch wirklich zu sein.
Sie schob den Kinderwagen an, klappte aber fast dabei zusammen, als ein Krampf durch ihren Rücken schoss. »Autsch.« Sie ließ los, um ihren Rücken zu halten, musste dann aber einen Fuß quer stellen, um den Kinderwagen am Wegrollen zu hindern. Die unnatürliche Haltung verschlimmerte ihre Schmerzen nur.
»Was ist passiert?« Lena hastete um den Wagen herum und nahm den Lenker. Sie trat auf die Bremse am Rad. »Hast du dich verletzt?«
Jess biss die Zähne zusammen und massierte ihre Rückenmuskeln mit beiden Händen. Es war eine komische Haltung, aber der Druck ihrer Finger löste die Verspannung genug, damit sie wieder atmen und reden konnte. »Nur ein kleines Ziehen. Nichts Ernstes.«
Lena streckte eine Hand aus. »Willst du, dass ich –?«
»Nein.« Jess trat einen Schritt zurück. Sie kannte Lena kaum und hatte immer noch nicht entschieden, ob sie sie mochte oder nicht. Aber sie traute ihr auf keinen Fall genug für eine Massage. Sogar mit ihren wenigen Freunden war Jess nie gern auf Tuchfühlung gegangen. »Es ist wirklich nichts Ernstes.«
»Okay.« Lena hob ihre Hand in einer beschwichtigenden Geste. »Du könntest morgens beim Tai-Chi mitmachen. Die Übungen helfen sehr gut gegen Rückenschmerzen, weil sie die Haltemuskulatur stärken. Außerdem helfen sie dabei, die Energiereserven wieder aufzuladen und seine Gefühle auszubalancieren. Manchmal, wenn ich Stärke oder Ruhe brauche, schließe ich meine Augen und mache die Form in Gedanken. Ich hatte auch Rückenschmerzen. Das ist einer der Gründe, warum ich vor vielen Jahren damit angefangen habe.« Ihre Stimme überschlug sich am Ende.
Was waren die anderen Gründe für Lenas Verspannungen gewesen? Jess war mehr an Lenas Vergangenheit interessiert als an den Vorzügen von Tai-Chi. Und irgendwelche Übungen in Gedanken zu machen, klang ziemlich merkwürdig. »Ähm … ich weiß nicht.« Sie war auch nicht gut darin, etwas im Schneckentempo zu machen. Es hatte schon Gründe, warum sie die meiste Zeit ihres Lebens auf der Überholspur verbracht hatte.
»Ich versuche an den meisten Tagen, schon morgens um sechs zu üben. Du kannst jederzeit mitmachen, wenn dir danach ist. Kann ich mit dem Kinderwagen helfen? Lass mich ihn zum Haus schieben.«
Jess mochte zwar erschöpft und vorübergehend unfit sein, aber sie war immer noch in der Lage, für ihr Kind zu sorgen. »Ich schaffe das schon. Nacht.« Sie löste die Bremse, schob diesmal etwas vorsichtiger und hoffte, dass ihr Rücken ihr einen würdevollen Abgang gewährte.
Das tat er. Gerade so. Vielleicht sollte sie eine Methode finden, ihre Rückenmuskulatur zu lockern. Eine professionelle Massage, ein richtiges Schaumbad, irgendetwas – nur kein Unterricht von Lena.