Kapitel 9
Jess streckte ihre Beine entlang des Fenstersitzes in ihrem Zimmer aus. Mit ein paar zusätzlichen Kissen war er fast genauso bequem wie zu ihrer Teenagerzeit. Sie zog ihre Socken aus und strich über die Haut an den Knöcheln. Keine Abdrücke mehr. Dank der richtigen Medikation waren die Ödeme rückläufig und ihre Müdigkeit ließ auch nach. Tagsüber merkte sie ihre Herzinsuffizienz kaum noch, sofern sie nicht versuchte, zu trainieren oder schwere Dinge zu tragen. Ja, viel besser als noch vor zwei Wochen.
Sie betrachtete den Garten. Das warme Abendlicht hinter dem Haus warf lange Schatten und intensivierte die Farben der Blumen. Ihre Mutter hatte sich beim Anlegen dieser Oase selbst übertroffen. Kein Wunder, dass Lena so gern hier lebte.
Jemand ging den Pfad von der Einfahrt in den Garten hinunter. Nicht Lena. Diese Frau war viel kleiner und kurviger. Die Fremde rieb beide Hände an den Seiten ihrer Stoffhose, schüttelte sie aus und rieb sie dann erneut.
Lena traf die Frau auf halber Strecke. Sie war viel informeller gekleidet und trug Yogahosen und ein kurzärmeliges Wickeltop in mehreren Tönen von Pink bis Dunkellila. Ihre Locken waren zu einem lockeren Knoten hochgesteckt.
Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. Aus der Distanz wirkte es geschäftsmäßig, nicht wie die Begrüßung zwischen Freundinnen oder Geliebten. Sie redeten für eine Minute und die Fremde begleitete ihre Worte mit beidhändigen Gesten. Sie wirkte nervös, aber warum?
Nachdem sie sich anscheinend auf etwas geeinigt hatten, legte Lena der Frau eine Hand auf den Arm und sie verschwanden zusammen im Gartenhaus.
Irgendetwas passte hier nicht zusammen. War die Frau eine Freundin oder eine der sogenannten Klientinnen? Neugier hatte in Jess wie halb erloschene Glut geglommen, seit sie zum ersten Mal von Lenas Entspannungstechnik gehört hatte. Jetzt flammte sie wieder auf, als ob ein Windstoß sie entfacht hätte. Entspannung? Was bedeutete das überhaupt?
War das am Ende ein Euphemismus für Prostitution? Ihr Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen. Jess hielt sich nicht für prüde und sie hatte auch, als sie noch jünger gewesen war, den einen oder anderen One-Night-Stand gehabt. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, Sex für Geld zu haben. Wie konnte man auf Knopfdruck Begehren heraufbeschwören?
Sie runzelte die Stirn. Das war nicht das wahrscheinlichste Szenario. Vielleicht meditierten sie oder machten Tai-Chi oder was auch immer. Sie konnte ja durch den Garten spazieren und schauen, ob ihr etwas verdächtig vorkam. Nur, um sicherzugehen.
Sie sah schnell nach Ella, die immer noch schlief, und steckte dann das Babyphon in die Tasche ihrer Jogginghose. Die Treppe hinunterschleichen, in ihre Schuhe schlüpfen und das Haus unbemerkt verlassen, ging ganz schnell. Sie hastete durch den Garten, aber anstatt sich an den Hauptpfad zu halten, machte sie einen Umweg zu den Bäumen, die hinter dem Gartenhaus standen.
Sie trat auf einen Zweig. Er zerbrach mit einem lauten Knacken.
Jess erstarrte. Das war so laut wie ein Peitschenhieb gewesen. Konnten sie es im Haus hören?
Vorsichtig ging sie, ihren Blick auf den Untergrund gerichtet, weiter, bis sie nah genug war, um in die hinteren Fenster zu sehen.
Die Vorhänge zum Schlafzimmer waren zugezogen. Das Badezimmer hatte zur Wahrung der Privatsphäre ein Milchglasfenster, sodass Lena weder Vorhänge noch ein Rollo geschlossen hatte. Und warum sollte sie auch vermuten, dass irgendjemand auf einem Privatgelände in ihr Badezimmer sah?
Vielleicht war das nicht Jess’ bester Moment. Was machte sie hier? Ihre Wangen glühten und der Rest Anstand in ihr schrie sie an, zu verschwinden. Sie ließ ihren Kopf hängen und wollte sich gerade zurückziehen, als das Licht im Bad anging.
Gelächter und zwei weibliche Stimmen durchschnitten die Stille. Die verschwommene Figur, die den Raum betrat, war viel zu kurvig für Lena.
Einer Fremden im Badezimmer nachzuspionieren, war ganz und gar nicht in Ordnung.
Die Frau hob ihre Arme und zog ihr Oberteil aus.
Warum zog sie sich aus? Entgegen besseren Wissens blieb Jess’ Blick an ihr haften, als sie ihre Hose hinunterzog.
Säure brannte in ihrem Magen und ihr wurde übel. Was bedeutete das? Sie schloss ihre Augen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Trafen ihre wilden Spekulationen doch zu? War Lena eine Prostituierte? Wie konnte sie es wagen, so etwas auf dem Grundstück ihrer Mutter auszuüben? Wie konnte sie die Großzügigkeit ihrer Mutter mit Füßen treten?
Es konnte durchaus eine andere Erklärung geben, aber Jess fiel im Moment keine ein. Sie hatten sich weder wie Freundinnen noch wie Geliebte begrüßt, als sie sich auf dem Pfad getroffen hatten. Nein, sie hatten eindeutig wie Fremde gewirkt.
Jess musste die Wahrheit herausfinden. Schließlich war es nur fair zu wissen, was im Haus ihrer Mutter vor sich ging. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Vorderseite. Vielleicht waren die beiden, mit was auch immer, beschäftigt genug, damit Jess einen Blick durchs Fenster riskieren konnte oder sogar etwas von der Unterhaltung hören würde.
Als sie die Veranda erreichte, bückte sie sich und kauerte unterhalb des Küchenfensters. Das Licht war aus. Jess hob langsam ihren Kopf, bis sie in das Haus blicken konnte.
Nichts. Weiches, flackerndes Licht schien am anderen Ende des Raumes.
Jess kroch weiter, an der Tür vorbei, zum anderen Fenster. Das Kerzenlicht warf unregelmäßige Schatten über die Holzdielen der Veranda. Kein Laut war zu hören.
Sollte sie einen weiteren Blick wagen? Sie musste, wenn sie wissen wollte, was vor sich ging. Jess zog sich in eine halb hockende Position hoch, die sie nicht lange würde halten können, und versuchte, zwischen den dicken, cremefarbenen Kerzen auf der Fensterbank hindurchzuschauen.
Die kurvige Frau, die jetzt einen fluffigen weißen Bademantel trug, stand mit dem Rücken zum Fenster. Mehr brennende Kerzen waren im ganzen Raum verteilt. Aber keine Spur von Lena.
»Jess?«
Scheiße. Jess versuchte, gleichzeitig aufzustehen und sich umzudrehen, und verlor prompt ihr Gleichgewicht.
Sie griff nach der Fensterbank, aber ihre feuchten Hände rutschten ab.
Mit einem dumpfen Knall landete sie auf ihrem Hintern. Die Holzdielen unter ihr vibrierten, als sie sich abstützte, um die Balance wiederzufinden.
Als sie aufsah, starrte nicht nur Lena sie an.
Ihre Mutter stand über ihr, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Ganz langsam verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck und wechselte von Ungläubigkeit zu Entrüstung. Etwas, das Jess noch nie an ihrer Mutter gesehen hatte, zumindest nicht auf sie gerichtet.
Oh, Fuck.
Jess’ Gesicht brannte vor Scham und Wut über ihre eigene Dummheit. Wie konnte sie jemals erklären, dass sie beim Spannen durch ein Fenster erwischt worden war?
Sie schluckte die aufsteigende Galle hinunter und hielt dem Blick ihrer Mutter stand. Wenn sie eine Lektion auf der Arbeit mit wetteifernden Kollegen gelernt hatte, dann, dass Angriff die beste Verteidigung war.
Lena öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hatte Jess durchs Fenster spioniert? Was in aller Welt hatte sie sich dabei gedacht?
»Jessica Eleanor Riley!« Maggie zischte ihre Tochter an. Ihrem Tonfall nach war sie genauso fassungslos wie Lena. »Was machst du hier?«
Jess stand langsam auf. Sie straffte ihre Schultern und hob ihr Kinn, als ob sie in einen Boxring träte.
»Mom.« Sie hielt dem Blick ihrer Mutter stand und es schien ihr nicht leidzutun. »Du weißt nicht, was sie da drin macht. Ich glaube, sie ist eine Prostituierte. Hier. In unserem Gartenhaus.«
Die Worte trafen Lena wie ein Schlag in die Magengrube. Hatte sie wirklich gesagt …? Ihr Blick verschwamm wie ein Aquarell im Regen. Sie griff blind nach der Hauswand, um sich festzuhalten.
»Jess, warum sagst du so etwas Schreckliches?« Maggie legte ihren Arm um Lenas Schultern, als würde sie ihrer Tochter zeigen wollen, auf wessen Seite sie stand.
Die Wärme und Unterstützung halfen Lena, ihren Schwindel und die Übelkeit zu bekämpfen, aber sie war immer noch nicht in der Lage, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen.
Jess zeigte auf das Haus. »Sie trifft sich abends mit den merkwürdigsten Leuten für diese sogenannten Entspannungstechniken. Die Frau hat sich ausgezogen. Du hast mir selbst gesagt, dass sie Geldprobleme hat. Das passt alles zusammen. Sie ist eine Prostituierte und wir können sie hier nicht mehr länger wohnen lassen.«
Ihre Stimme dröhnte in Lenas Ohren. Warum sagte Jess so schrecklichen Sachen? Wut riss sie aus dem Schock, der sie gelähmt hatte, und vertrieb den Nebel, der ihre Gedanken verlangsamte. Wie konnte Jess es wagen, sie zu verurteilen? Hatte Heather sie gehört? Wie sollte Lena diese Szene ihrer Klientin erklären?
Lena stieß sich von der Wand ab. Sie fauchte Jess in dem eisigsten Tonfall an, den sie zustande brachte. »Verschwinde! Lass mich und mein Haus in Frieden. Sofort!« Sie atmete tief ein und sah Maggie an. »Bist du immer noch bereit, mir zu helfen?«
Maggie nickte mit grimmiger Miene und drückte ihre Schulter, bevor sie losließ. »Natürlich.«
»Helfen? Mom, du kannst da nicht reingehen! Weißt du überhaupt, was sie von dir verlangt?« Jess bewegte sich nach vorn, als würde sie sich zwischen ihre Mutter und die Tür werfen wollen.
»Sei nicht albern. Ich weiß genau, was hier vorgeht, und reime mir keine absurden Geschichten zusammen.« Maggie griff mit einer Hand nach Jess’ Schulter und schüttelte sie. »Jessica, was du getan und gesagt hast, ist nicht akzeptabel. So habe ich dich nicht erzogen. Ich habe keine Ahnung, wieso du so schreckliche Vorwürfe machst, und es ist mir auch egal. Du musst dich entschuldigen. Und schrei nicht so rum.«
Jess presste die Lippen zusammen. Ein Muskel zuckte in ihrer Wange, die knallrot angelaufen war.
Lena konnte nicht sagen, ob sie aus Wut oder Scham errötet war. Sie hoffte auf Letzteres. »Ich habe jetzt keine Zeit dafür. Ich muss zu meiner Klientin zurück.«
»Nur eine Sekunde.« Maggie strich mit ihrem Daumen über Jess’ Wange. »Jessi, nichts Illegales oder Unanständiges geht hier vor. Wenn du Lena nicht vertraust, traue mir.« Ihre Stimme war warm und mit Überzeugung gefüllt.
Jess’ steife Haltung brach in sich zusammen. Sie senkte ihren Kopf. »Okay.«
»Okay reicht nicht. Um dein abscheuliches Verhalten wiedergutzumachen, wirst du jetzt die Klappe halten, Lena nach drinnen begleiten und tun, was sie sagt. Ich war mehr als einmal ihre Assistentin und jetzt kannst du meinen Platz einnehmen. Keine Sorge, ich passe heute Abend auf Ella auf. Danach wirst du dich entschuldigen und morgen können wir drei ausführlich darüber reden.«
Lena erkannte den Tonfall wieder. Ihre Großmutter war eine Expertin dieser Mischung aus Liebe und Strenge gewesen.
»Du kannst mich nicht zwingen …« Jess sah sie mit großen Augen an.
Lena war sich auch nicht sicher, ob Maggies Vorschlag eine gute Idee gewesen war. Wollte sie Jess’ Aggressivität und Misstrauen in eine Klientensitzung hineinbringen?
»Mom.« Das Wort war lang gezogen, in dem trotzigen Tonfall, der Lena an jeden Teenager erinnerte, den sie jemals mit den Eltern streiten gehört hatte.
Maggie sah ihre Tochter nur an und verschränkte die Arme vor der Brust.
Für einen Augenblick hielt Jess ihrem Blick stand, ohne zu blinzeln, als ob sie nach Antworten suchte. Dann schluckte sie sichtbar und nickte, bevor sie ihren Blick auf Lena richtete. »Es tut mir sehr leid. Ich mache, was Mom gesagt hat.«
Es war keine aufrichtige Entschuldigung, aber Lena hatte keine Zeit, um jetzt auf mehr zu bestehen. Vielleicht musste Jess mit eigenen Augen sehen, was drinnen passierte, oder sie würde ihre Verdächtigungen nie komplett hinter sich lassen. »Okay. Dann machen wir das.«
Maggie küsste Lenas Wange und flüsterte: »Alles wird gut werden.« Mit einem strengen »Benimm dich, junge Dame« zog sie Jess das Babyphon aus der Tasche und ging, bevor eine von beiden antworten konnte.
Lena öffnete die Tür zu ihrem Zuhause und hoffte, dass Jess ohne weitere Diskussion folgen würde.
Jess wollte nichts lieber, als in der Dunkelheit zu verschwinden, die den Garten geschluckt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre Rechnung ging nicht auf. Sie hatte keine Ahnung, in was für eine Situation ihre Mutter sie gebracht hatte. Aber egal, was da auch immer auf Jess zukommen würde, sie musste jetzt da durch und ihrer Mutter vertrauen.
Sie blinzelte, als sie das kleine Haus betrat. Warme Luft umschloss sie wie in einem Tropenurlaub. Kerzen flackerten auf allen verfügbaren Oberflächen und der Duft von Vanille und etwas Würzigerem, das sie nicht benennen konnte, beruhigte ihre blank liegenden Nerven minimal.
Die Frau, die sie vorhin beobachtet hatte, saß in einem Sessel und trank ein dampfendes Getränk aus einer kleinen Schüssel. Sie begrüßte Jess mit einem Lächeln, als hätte sie sie erwartet.
Jess erwiderte das Lächeln automatisch und sah sich in dem zentralen Raum des Hauses um, der sich dramatisch verändert hatte, seit Jess zuletzt hier gelebt hatte. Eine kleine, aber komplett ausgestattete Küche mit einer Frühstücksnische befand sich zu ihrer Linken und auf der rechten Seite nahmen ein Zweisitzersofa und der Sessel den meisten Platz des Wohnbereiches ein. Ein hölzerner Schreibtisch stand, mit einem Stapel Notizbücher darauf, an der Seite. Alles war ordentlich und aufgeräumt, aber trotzdem gemütlich und einladend. Jess hatte keine Ahnung, wie Lena diesen Effekt erzielte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Sie hatte schon das meiste verpasst, was Lena gerade sagte.
»Das ist Jess, meine Nachbarin. Sie ist heute Abend unser Opfer.« Lena beendete ihre Erklärung mit einem Lächeln.
Opfer? Jess hob ihre Augenbrauen. Der spielerische Tonfall machte es offensichtlich, dass Lena sie aufzog, aber es war trotzdem kein Wort, das sie gern hörte, wenn sie sich blind in Lenas Hände begab.
»Das ist Heather, meine Klientin. Sie will ihre Verlobte auf der Hochzeitsreise mit ein paar neuen Fähigkeiten überraschen.« Lena grinste noch breiter. Sie schien es zu genießen, dass Jess’ Erwartungen hin und her geschleudert wurden.
Jess hatte das verdient. Und noch viel mehr. Lena zeigte in der ganzen Situation mehr Haltung und Humor, als Jess es an ihrer Stelle getan hätte. Wenn irgendjemand Jess eine Prostituierte genannt hätte, wäre sie immer noch nicht mit dem Anschreien der Person fertig gewesen. Wie konnte sie sich jemals bei Lena dafür entschuldigen?
Lena nahm einen ordentlich gefalteten Bademantel vom Sofa und reichte ihn Jess. »Du kannst dich im Badezimmer ausziehen. Bist du gegen irgendetwas allergisch?«
»Keine Allergien. Aber was …?« Ausziehen? Lena wollte, dass sie nichts außer einem Bademantel trug? Die warme Luft und der einlullende Duft verlangsamten ihre Gedanken.
»Großartig. Ich lasse Heather ihr Lieblingsöl aussuchen. Geh und zieh dich um.« Das Kerzenlicht ließ Lenas Augen funkeln, als sie zwinkerte. »Du kannst deine Unterhose anbehalten.«
Jess hing immer noch an der Tatsache fest, dass sie sich bis auf die Unterhose ausziehen sollte, und ihr Gesichtsausdruck zeigte diese Verwirrung bestimmt ganz deutlich. Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, öffnete Lena die Tür zu dem kleinen Zimmer, das Jess’ Familie früher benutzt hatte, um die zusätzlichen Gartenmöbel aufzubewahren.
Jetzt war es bis auf einen Massagetisch leer. Ein buntes Tuch mit einem Mandalamuster bedeckte die Unterlage. Noch mehr Kerzen brannten auf der Fensterbank.
Jess’ Muskeln gaben nach und sie stolperte fast. Es ging um eine Massage? Lena massierte Leute im Gartenhaus? Worauf hatte Jess sich eingelassen?
»Heather, schau dir die hier an, während ich Jess zum Badezimmer bringe.« Lena zeigte auf eine Sammlung kleiner, brauner Flaschen mit handbeschrifteten Etiketten, dann führte sie Jess in den hinteren Teil des Hauses.
Jess wusste verdammt genau, wo das Badezimmer war, und sie nahm an, dass sich Lena dieser Tatsache durchaus bewusst war. Aber die warme Hand auf ihrem Rücken war merkwürdig beruhigend, etwas Reales und Greifbares an diesem verwirrenden Abend.
Als die Badezimmertür sich hinter Lena mit einem Klicken schloss, ließ sie Jess los und trat einen Schritt zurück. Sie stand kerzengrade, mit den Händen hinter ihr an der Tür abgestützt. Sie musterte Jess mit gerunzelter Stirn. »Wie du vermutlich erraten hast, drehen sich diese Termine um Massagen, nichts anderes.« Ihr Ton war nüchtern, als ob sie über das Wetter spräche. »Ich mache sie übrigens nicht selbst. Ich unterrichte. Meistens Pärchen, selten auch Einzelpersonen. Wenn das der Fall ist, hilft mir Maggie, indem sie sich massieren lässt. Und dafür hat sie dich heute Abend zur Verfügung gestellt. Nichts weiter.«
Da Jess nicht wusste, was sie sagen sollte, nickte sie nur. Das war vermutlich das erste Mal, dass ihr keine schnelle und sarkastische Antwort auf der Zunge lag. Ließ ihr Verstand sie genauso im Stich wie ihr Körper?
»Wenn du das nicht willst, musst du das nicht tun. Ich würde es dir nicht nachtragen. Nicht jeder kann sich darauf einlassen, von Fremden angefasst zu werden.« Lena lächelte, aber ihre angespannte Körperhaltung lockerte sich nicht. »Ich kann Maggie anrufen und sagen, dass ich es mir anders überlegt habe.«
Jess stöhnte innerlich bei dem Gedanken, sich jetzt erneut ihrer Mutter stellen zu müssen. Sie hatte sich wie eine Fünfjährige gefühlt, als ihre Mutter sie auf der Veranda ausgeschimpft hatte. Wie das letzte Mal, als diese ihr einen Vortrag über das Lauschen an Türen und die Privatsphäre anderer Leute gehalten hatte. Es war eine Lektion, von der sie dachte, dass sie diese niemals verlernt hatte. Offensichtlich aber doch.
Um das Haus von jemandem zu schleichen und durch das Fenster zu spannen, machte sie zu einer unheimlichen Stalkerin. Es war einfach falsch. Lena hatte eine Entschuldigung verdient und Jess würde jetzt damit anfangen, alles zu tun, was notwendig war, um ihr Verhalten wiedergutzumachen.
»Nein, ruf sie nicht an. Ich mache alles, egal, was du brauchst.« Jess hielt ihre Hände hoch. »Es tut mir leid, ich –«
»Stopp. Ich kann das jetzt nicht.« Lenas Stimme zitterte und sie blinzelte ein paarmal. »Lass uns einfach den Abend hinter uns bringen. Okay?«
»Okay. Kein Problem.« Jess versuchte zu lächeln, um die Spannung, die wie die elektrische Ladung eines Sommersturms zwischen ihnen knisterte, zu entschärfen. »Also, ich zieh mich einfach aus, gehe da rein und werde massiert? Das klingt nicht nach Bestrafung.«
Lenas Mundwinkel zuckten. »Vielleicht stecke ich meine Hände in Eiswasser oder so was.« Sie stieß sich von der Tür ab und ließ Jess allein zurück.
Jess entwich ein Seufzer. Bevor sie den Mut verlor, zog sie sich aus, faltete ihre Kleidung und legte sie auf die Waschmaschine neben den Stapel, der vermutlich Heather gehörte. Mit dem Rücken zum Spiegel wickelte sie sich in den Bademantel und öffnete die Tür, um sich dem zu stellen, was Lena für sie geplant hatte.
Sie fand Lena und Heather über ein Tablet mit braunen Gläschen gebeugt.
Heather hielt eins hoch und roch dran. »Das hier.«
»Gute Wahl.« Lena schraubte die Deckel auf die anderen Flaschen. »Es ist eine Mischung aus Ylang-Ylang, Vanille und Mandarine mit einem Hauch Lavendel. Sehr entspannend.« Ohne Jess anzusehen, zeigte sie auf das kleine Zimmer. »Jess, warum machst du es dir nicht auf dem Massagetisch bequem? Öffne nur den Bademantel, wir kümmern uns um den Rest.«
Dankbar, dass keiner zusah, öffnete Jess den Bademantel und kletterte auf den Tisch. Mit ihrem Gesicht in dem weichen Ring der Kopfstütze konnte sie nur einen kleinen Ausschnitt des Holzfußbodens sehen. Die Geräusche um sie herum waren gedämpft.
Schritte näherten sich und überlagerten ihren pochenden Herzschlag. Sie stoppten irgendwo neben dem Tisch, aber außerhalb ihres beschränkten Blickfeldes.
»Wir ziehen den Mantel jetzt ein Stück herunter, um den Rücken freizulegen. Wenn du das in einem Hotel machst, kannst du den Mantel auf ihrer unteren Körperhälfte lassen. Aber wenn du zu Hause lieber kein Öl darauf bekommen willst, kannst du ihn durch ein Handtuch ersetzen. Du kannst diesen Teil so sinnlich gestalten, wie du willst.«
Jess’ Bademantel wurde mit einer schnellen und effizienten Bewegung, die kaum ihre Haut berührte, heruntergezogen. Obwohl die Raumtemperatur warm genug war, bekam sie eine Gänsehaut durch den Luftzug. Oder vor Erwartung.
Warum war sie so nervös? Jess schluckte. Sie hatte sich schon professionell massieren lassen, hatte früher sogar ganze Wellnesstage gebucht.
»Achte auf ihre Haut. Ich zeige dir etwas.« Lena berührte sie mit eiskalten Fingern.
Jess zuckte zusammen. »Hey!«
Lena lachte, ein warmes und sanftes Geräusch, das Jess wieder beruhigte. »Sorry, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Heather, berühre du sie jetzt.«
Heathers Hände waren warm, die Berührung zaghaft, aber nicht unangenehm. Jess’ Anspannung ließ langsam nach.
»Siehst du? Deswegen habe ich dich die Teeschale länger halten lassen. Und ich habe gerade das Ölfläschchen auf ein Stövchen gestellt, nur für eine Minute. Hier soll es um Entspannung und sinnliche Erfahrungen gehen und wir wollen nicht noch mehr Verspannungen verursachen.« Lena fuhr fort, irgendetwas Technisches über das Öl zu erklären, aber Jess hörte nicht mehr zu.
Eine Hand auf ihrer Schulter riss Jess aus ihren Gedanken. Lena war an die Kopfseite getreten und ging in die Hocke, um von unten in Jess’ Gesicht zu blicken. »Alles in Ordnung? Liegst du bequem? Dürfen wir anfangen?« Ihr Blick und ihre Stimme waren warm und ernst, ohne auch nur einen Hauch von Bitterkeit.
Jess nickte. Sie hatte Angst, dass ihre Stimme ihr Unbehagen mit der Situation verraten würde. Ihr machte es nichts aus, in einem professionellen Kontext berührt zu werden, und ihr war es auch egal, was Heather, eine Fremde, dachte, aber halb nackt unter Lenas Blicken zu liegen, war anders.
Lena hielt für eine Sekunde den Augenkontakt, dann stand sie auf, ließ aber ihre Hand auf Jess’ Schulter ruhen. Erfreut stellte Jess fest, dass sie nicht mehr kalt war. Lena hatte sie wohl seit der letzten Berührung irgendwie angewärmt.
»Heather, gieß das Öl auf Jess’ Rücken, hier in die Mitte. Nur ein paar Tropfen. Wir können später immer noch mehr nehmen, wenn es nicht reicht.«
Jess konzentrierte sich auf das sinnliche Fließen des Öls auf ihrer Haut und versuchte, sich mental auf das vorzubereiten, was noch kommen würde. Es war schon eine Weile her, seitdem jemand sie in einem nicht medizinischen Zusammenhang angefasst hatte. Wann hatte sie das letzte Mal Sex gehabt? Nicht während der Schwangerschaft und auch vorher war sie einige Monate auf keinem Date gewesen. War es wirklich schon über ein Jahr her?
Warme Hände verteilten das Öl, ihre Berührung federleicht. Nicht unangenehm, aber auch nicht entspannend.
»Du kannst die gesamte Hand benutzen. Die Ölverteilung ist genauso für deine Haut wie für ihre«, sagte Lena.
Sekunden später spürte Jess mehr Hände. Das zweite Paar, Lenas, war kräftiger, entschiedener, zeichnete weite Bögen und Kreise auf ihren Rücken.
Das war schon besser. Jess seufzte und ließ sich auf die Bewegung ein. Die Erfahrung war den professionellen Massagen, die sie früher gehabt hatte, ähnlich genug, sodass sie ihr Gehirn abschalten konnte.
Allzu bald gingen sie zum nächsten Teil über. Lena demonstrierte eine bestimmte Handbewegung und Heather ahmte sie nach. Das Hin und Her zwischen den beiden Paar Händen war zunächst verwirrend. Jess hatte vorher noch nie die Kraft bemerkt, die in Lenas Fingern lauerte.
Das allgemeine Kneten und Streichen pausierte. »Nach der Aufwärmphase suchen wir nach Knoten und Bereichen mit Verspannungen in den Muskeln und Sehnen. Folge dem Verlauf der Muskulatur mit deinen Fingerspitzen und bald wirst du kleine Unterschiede und Knubbel bemerken.«
Heather versuchte es und zögerte an mehreren Stellen. »Ist das einer?«
Autsch. Nicht so ganz. Jess wollte ihr sagen, dass es die Scapula war, aber Lena kam ihr zuvor.
»Das ist ein Teil des Schulterblattes. Komm weiter zur Mitte und sei vorsichtig, damit du nicht zu fest auf den Knochen drückst, insbesondere nicht auf die Wirbelsäule.«
Heather folgte der Anweisung und Jess stöhnte.
Ja, das war eindeutig eine verspannte Stelle.
Lena lachte leise. »Ich vermute, wir haben einen Knoten gefunden. Jetzt arbeiten wir daran, ihn zu lockern.« Sie demonstrierte etwas, das sich anfühlte, als würde sie eine Eisenstange durch Jess’ Haut bohren wollen.
Bevor Jess sich beschweren konnte, verschwand der Druck. Sie stöhnte erneut, diesmal vor Erleichterung.
»Druck ist eine Methode, um die Spannung zu lösen, aber nur kurzfristig. Ich zeige dir noch ein paar andere Tricks.«
Als Lena weiter die Stelle zwischen ihrem linken Schulterblatt und der Wirbelsäule bearbeitete, war Jess kurz davor, auf den Tisch zu schmelzen. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, wie sehr ihre Muskeln in den letzten Monaten gelitten hatten. Es war schon eine Ewigkeit her, seit sie in der Lage gewesen war, sich frei zu bewegen.
Sie schloss ihre Augen und gab sich der Massage hin. Vor ihrem inneren Auge konnte sie beinahe die heranrollenden Wellen von Endorphinen sehen, die aus einer Quelle in ihrem Gehirn sprudelten und ihren Körper durchfluteten. Lenas leise Erklärungen wurden zu einem Teil der Hintergrundgeräusche, als sie tiefer in den Wonnen versank.
Heather fand einen weiteren Punkt, um ihr neugewonnenes Wissen zu testen. Es war nicht so effektiv wie Lenas Berührung, aber trotzdem wundervoll.
Kein Wunder, dass ihre Mutter sich freiwillig als Lenas Assistentin zur Verfügung stellte. Wer würde schon eine kostenlose Massage verschmähen?
Eine Bewegung neben ihrem Kopf zeigte Jess, dass jemand die Position gewechselt hatte. Sie öffnete die Augen. Nackte Füße hatten ihr Blickfeld betreten und sie erkannte die schwarze Yogahose als Lenas. Ihre Füße waren schlank und die Muskeln bewegten sich unter ihrer Haut, als sie sich für einen kurzen Augenblick auf die Zehenspitzen stellte. Lila Nagellack, so dunkel, dass er fast schwarz wirkte, glänzte auf tadellos gepflegten Zehennägeln.
Es war nicht so, dass Jess einen Fußfetisch hatte, aber sie schätzte schöne Füße. Sie hatte es immer geliebt, ihren Freundinnen eine Fußmassage zu geben, wenn diese nach einem langen Tag in viel zu hohen Schuhen nach Hause gekommen waren.
Der Drang, ihre Arme auszustrecken und Lenas Spann zu berühren, tauchte wie aus dem Nichts auf. Sie konnte fast vor sich sehen, wie sie Lenas Füße streichelte. Sie würde mit einer Massage der Sohlen anfangen, dann die Innenseite entlangfahren. Lena würde zittern und seufzen und Jess würde die Bündchen der Yogahose hochziehen und mit einem Finger über ihr Schienbein streifen. Gänsehaut würde sich auf der weichen Haut ausbreiten, sie würde sie wegküssen und − Stopp!
Jetzt lass mal die Pferde im Stall, Jess!
Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. Was war verdammt noch mal gerade passiert? Ihr war warm und kribbelig, ihre Brüste spannten, wo sie eingequetscht unter ihr lagen.
»Noch alles in Ordnung?« Lenas Gesicht erschien wieder in ihrem Blickfeld. »Du hast dich gerade angespannt.«
Na super. Jess wollte ihr Gesicht im Tisch verstecken, aber das Loch, das ihr erlaubte zu atmen, machte es unmöglich, Lenas aufmerksamen Augen zu entkommen. »Gut. Mir geht’s gut.« Sie schluckte, um ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Nur ein Krampf in meinem Fuß.«
»Rechts oder links? Lass mich schauen.« Lena stand auf und bewegte sich Richtung Fußende.
Mist. Warum hatte sie das gesagt? Wenn Lena ihr jetzt eine Fußmassage gab, würde sie vor Scham sterben. »Nein, nein.« Sie wackelte schnell mit den Zehen. »Alles gut jetzt.«
»Sicher?« Lena tauchte erneut neben Jess’ Kopf auf. Sie streckte ihre Hand aus auf Jess’ Schulter. »Sag Bescheid, wenn er wiederkommt.«
»Hmm.« Jess’ Zustimmung verwandelte sich in ein Stöhnen, als Lenas Hand zu ihrem Nacken glitt und mit Daumen und Zeigefinger neben der Wirbelsäule auf und ab fuhr.
Lena erklärte Heather irgendetwas, aber Jess hörte nicht zu, als ihre Gedanken in ihrem Kopf Karussell fuhren.
Hatte Lena es bemerkt? Seit wann fantasierte sie über Füße? Oder Lena? Sie konnte sie nicht leiden und fühlte sich nicht zu ihr hingezogen. Oder doch? Warum hatte ihre Libido sich diesen Moment ausgesucht, um aufzuwachen?
Das war alles die Schuld der Endorphine, die ihre Gehirnchemie durcheinanderbrachten. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste, sondern eine ganz normale Reaktion. Sie unterdrückte ein Schnaufen. Klar, schieb es auf die Hormone. Wie alles andere, was in letzter Zeit in deinem Leben passiert.
Eine Ewigkeit − oder zumindest fühlte es sich so an − später wurde die Massage mit denselben kreisenden Bewegungen wie am Anfang beendet.
Lena zog den Bademantel über Jess’ Rücken und legte ein großes, flauschiges Handtuch über ihre Beine. »Jess, ruh dich ein wenig aus und entspann dich, während Heather sich umzieht. Dann kannst du duschen, um das Öl loszuwerden, wenn du deine Kleidung nicht schmutzig machen willst.«
Entspannen war für Jess keine Option. Der Gedanke daran, hier in Lenas Haus zu liegen − nackt − und dann zu duschen − immer noch nackt − sendete völlig falsche Signale an ihren Körper. Hormone. Nur Hormone.
Eine normale Reaktion auf eine Massage. Okay, das war ihr noch nie vorher passiert, aber körperliche Erregung war trotzdem normal. Nur weil sie sich so fühlte, hieß das noch lange nicht, dass sie das ausleben würde.
Eilige Schritte kündigten Heathers Rückkehr aus dem Badezimmer an. »Vielen Dank, Jess.«
Sie hob ihren Kopf, so weit sie konnte. »Gern geschehen. Viel Spaß auf der Hochzeitsreise.«
Sobald die Tür hinter Heather und Lena ins Schloss fiel, kletterte Jess vom Tisch.
Schwindel überkam sie und sie musste sich kurz an den Tisch lehnen, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dann hastete sie ins Badezimmer, um sich anzuziehen. Ölflecken waren das Geringste ihrer Probleme. Sie wollte aus dem Haus verschwunden sein, bevor Lena zurückkam.