Kapitel 11
»Sheila ist total ausgerastet, als sie die beiden im Bereitschaftszimmer gefunden hat. Sie hat die Klamotten von Scott und Courtney vom Boden gegriffen und die Tür von außen verschlossen.« Kayla fiel vor Lachen fast vom Stuhl. »Sie mussten an die Tür hämmern und um Hilfe rufen, weil beide Telefone noch in der Kleidung waren.«
»Wer war Courtney noch mal?« Jess lächelte, obwohl es ihr eigentlich egal war. Die meisten Assistenzärzte machten irgendwann miteinander rum. Sogar sie hatte es ein paarmal getan, als sie noch jünger gewesen war. In einem ganz anderen Leben.
»Assistenzärztin in der Notaufnahme. Arrogante Tussi. Kein Respekt vor der Pflege.« Kayla schob ihre Sonnenbrille in die Haare und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann lehnte sie sich im Gartenstuhl zurück. »Deine Mutter hat einen tollen Garten.«
Als ob sie es gehört hätte, betrat ihre Mutter genau in diesem Moment die Terrasse. Sie trug ein Tablett, auf dem sich frisch gebackene Schokoladenkekse und zwei Gläser mit Milch befanden.
Jess rollte mit den Augen. Milch? Echt jetzt?
»Ich habe einen Snack für euch Mädels.« Sie stellte alles auf den Tisch und lächelte Kayla an. »Es ist so nett, dass Sie meine Jess hier draußen besuchen.«
»Vielen Dank, Ma’am. Das riecht köstlich. Ihr Garten ist wunderschön.«
»Nicht wahr? Ich habe vor Kurzem die mehrjährigen Pflanzen neu arrangiert und hier drüben –«
»Vielen Dank, Mom. Aber wir haben gerade über die Arbeit gesprochen.« Jess musste das im Keim ersticken, bevor ihre Mutter eine ausführliche Tour anbot und Kayla zu höflich war, um abzulehnen.
»Oh, ich verstehe. Dann überlasse ich die Terrasse euch Mädels. Es war nett, Sie kennenzulernen.« Mit einem Nicken in Richtung Kayla ging sie wieder.
Jess vergrub ihr Gesicht in den Händen und stöhnte. Was hatte sie nur getan, um das zu verdienen? Hatte ihre Mutter sie gerade Mädels genannt? Sie war verdammte siebenunddreißig und ihre Mutter brachte ihr Milch und Kekse. Sie warf Kayla einen Blick zu. »Tut mir leid.«
Lachend nahm Kayla einen der Kekse, brach ein Stück ab und tunkte es in ihr Glas mit Milch. »Warum? Sie ist doch super nett.« Sie stopfte sich den durchweichten Keks in den Mund und stöhnte genussvoll.
»Sie ist großartig. Aber manchmal scheint sie zu vergessen, dass ich erwachsen geworden bin.«
»Mein Dad erinnert mich gern bei jedem Besuch daran, dass wir immer seine Kinder bleiben werden. Du wirst das mit Ella auch eines Tages merken.«
»Vermutlich.« Jess griff nach einem Keks, bevor sie sich beherrschen konnte. Vielleicht nur ein halber? Es wäre unhöflich, ihren Gast allein essen zu lassen, oder? Mit einem Seufzen legte sie ihn neben das Glas Milch, das sie nicht beabsichtigte zu trinken. Sich selbst anzulügen, würde ihr nicht helfen, ihre Figur zurückzubekommen.
»Die sind köstlich«, nuschelte Kayla um Keks Nummer zwei herum. »Magst du sie nicht?«
»Ich liebe sie, aber ich muss darauf achten, was ich esse. Mein Herz kann es sich nicht leisten, die Extrakilos herumzuschleppen, die ich während der Schwangerschaft zugelegt habe.« Jess war sich nicht so sicher, ob ihr Herz oder ihre Eitelkeit mehr litt, aber das war der einzige Grund, den sie laut eingestehen würde. »Ich mache beim Trainieren keine Fortschritte. Mir fehlt noch die Ausdauer, um joggen zu gehen, und mein Sportstudio ist zu weit weg.«
»Was sagst du immer deinen Patienten in der offenen Praxis? Training bedeutet nicht, dass du ein teures Studio oder komplizierte Ausrüstung brauchst. Was hast du Mrs. Jameson letztes Jahr geraten?«
Jess rieb ihre Schläfe, während sie nachdachte. »Spazieren gehen? Aber das ist eher was für alte Leute!«
»Ja, gib’s zu, du bist alt.« Kayla grinste. »Hey, warum gehen wir nicht gemeinsam irgendwo spazieren? Ich habe ein paar Straßen weiter einen Park gesehen. Ist der nett?«
»Keine Ahnung. Ich war seit Jahren nicht mehr da.« Jess konnte sich nicht an ihren letzten Besuch dort erinnern. »Wir können es ausprobieren. Ich frage meine Mutter, ob sie so lange auf Ella aufpasst.«
Als sie die Einfahrt hinunterliefen, kam Lenas Auto ruckend und stotternd zum Stehen. Jess runzelte die Stirn. Das klang gar nicht gesund. Sie hatte keine Ahnung von Autos, aber sie würde ihr Leben nicht so einer Rostlaube anvertrauen.
Lena war bereits im Begriff, auszusteigen, hielt aber mit einem Bein auf dem Boden und dem anderen im Auto inne. »Oh, hi, Jess. Tut mir leid. Ich habe es vergessen. Ich parke um die Ecke.« Sie ließ sich zurück auf den Sitz fallen und startete das Auto.
Zumindest nahm Jess an, dass die asthmatischen Geräusche der Versuch waren, den Motor wieder anzulassen. Sie hatte fast vergessen, dass sie Lena vor einiger Zeit wegen des Autos angeschrien hatte. Ella hatte damals den ganzen Tag Blähungen gehabt und war gerade eingeschlafen, als das Auto sie wieder geweckt hatte. Aber das war nicht Lenas Schuld gewesen und Jess hatte sich mal wieder wie eine egoistische Kuh aufgeführt.
Sie konnte ihre Worte von damals nicht zurücknehmen. Heute aber konnte sie ihren Fehler korrigieren.
Jess eilte zum Auto und klopfte an Lenas Seitenscheibe.
Lena wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum. Sie presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und kurbelte das Fenster herunter − mit der Hand. Wie alt war dieses Auto?
Wie hatte sie nur so aggressiv Lena gegenüber sein können, sodass diese jetzt Angst hatte, mit Jess zu reden? Jess’ Wangen glühten schon wieder, wie so oft in letzter Zeit. »Ähm, Lena. Fahr nicht weg. Lass das Auto hier. Es tut mir leid wegen …« Sie schluckte, um die plötzliche Trockenheit in ihrem Hals zu bekämpfen, und zwang sich, ehrlich zu sein. »Es tut mir leid, dass ich eine Idiotin war. Du kannst hier jederzeit parken. Du wohnst hier und ich bin nur ein Gast.«
Lenas Mund hing eine gefühlte Ewigkeit lang offen. Ganz allmählich verblasste ihr Erstaunen und ihr Ausdruck wandelte sich in ein wunderschönes Lächeln. »Danke.«
»Ja, nun. Dann ist ja jetzt alles geregelt.« Jess musste weg, bevor sie sich noch mehr bloßstellte. Sie wies auf Kayla. »Wir sind auf dem Weg in den Park. Bis später.«
Sie bedeutete Kayla, ihr zu folgen, und setzte ihren Weg die Einfahrt hinunter fort.
Kayla holte sie ein, bevor sie auch nur die Straße erreicht hatte. »Willst du mir erzählen, worum es hier ging?«
»Nein. Ich vergesse lieber, dass es überhaupt passiert ist.« Jess konnte ihr unmöglich davonlaufen, da sie jetzt schon außer Atem war. Sie reduzierte ihr Tempo auf ein viel vernünftigeres Maß.
Ihre Freundschaft war nicht so tief, als dass sich Jess dazu hätte durchringen können, über ihr idiotisches Verhalten zu reden. Also tat sie, was sie immer tat, wenn das Leben zu kompliziert wurde. Sie wandte sich der Arbeit zu. »Wie sieht es in der offenen Praxis aus? Wie geht es meiner Vorzeigepatientin? Ich vermisse Mrs. Jameson und ihre Kekse, auch wenn ich sie im Moment nicht essen dürfte.«
Als die Sonne hinter den hohen Bäumen neben dem Haupthaus untertauchte, verlängerten sich die Schatten im Blumenbeet nach und nach. Lena konnte die winzigen Details des Blattes, das sie gerade zeichnete, kaum noch ausmachen. Sollte sie eine Lampe holen oder die Zeichnung fortsetzen, wenn sie das nächste Mal eine Stunde Zeit fand?
Ihre Knie und das Rückgrat protestierten, als sie aufstand. Okay, dann zeichnete sie besser heute Abend nicht mehr. Sie hob ihre Arme, um sich zu strecken.
»Ähm … hi.« Jess’ Stimme erklang direkt hinter ihr.
Wann war sie so nah gekommen? Lena drehte sich um und Jess’ Blick schoss nach oben zu ihrem Gesicht. Hatte Jess auf ihren Hintern geschaut? Vermutlich hing etwas Gras an der Hose. Sie schob das Skizzenbuch und ihren Stift in die andere Hand und wischte sich über die weite Leinenhose. Der Stoff war vom langen Sitzen in einer Position zerknittert, aber was auch immer Jess abgelenkt hatte, musste bereits hinuntergefallen sein. »Hi.«
Jess wippte Ellas Kinderwagen hin und her. »Was zeichnest du?«
»Nichts Besonderes, nur ein paar Blumen.« Lena drückte das Skizzenbuch an ihre Brust. Hoffentlich ließ Jess das Thema fallen. Sie war außer Übung und würde Jess keinen Grund liefern, sich über sie lustig zu machen.
»Ich wollte gerade spazieren gehen. Willst du mich begleiten?« Jess sah den Griff des Kinderwagens an.
Fragte sie das nur aus Höflichkeit?
Aber Höflichkeit war nicht gerade Jess’ Stil. Sie hätte bestimmt nicht gefragt, wenn sie es nicht ehrlich meinen würde. Und Lenas steife Gelenke würden sich über ein wenig Bewegung freuen. »Gern. Ich hol mir eine Jacke und lege meine Zeichensachen rein. Gehst du die Straße runter?«
Jess nickte. »Ich wollte zum Park.«
»Dann kürze ich durch den Garten ab und treffe dich am Hintereingang.«
»Bis gleich.« Jess schenkte ihr ein aufrichtig wirkendes Lächeln.
Zufrieden hastete Lena zurück ins Haus, legte die Zeichenutensilien auf dem Küchentisch ab und nahm ihre olivgrüne Wickeljacke von der Stuhllehne. Die fast schon abgetragene Baumwolle war kuschelig weich, als sie hineinschlüpfte, und sie ließ die Jacke offen hängen. Es war noch nicht sonderlich kühl geworden.
Als sie aus dem kleinen Tor am Ende des Gartens trat, war Jess noch einige Meter entfernt. Sie schob den Kinderwagen und murmelte irgendetwas zu Ella, das Lena nicht verstand.
»Wo wollen wir langgehen?«
Jess sah auf und zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine feste Route im Kopf, erst mal Richtung Park. Ella scheint die Bewegung zu lieben. Ich glaube, es hilft ihr beim Einschlafen.«
»Ist sie noch wach? Darf ich Hallo sagen?« Als Jess nickte, lehnte sich Lena über den Kinderwagen.
Leuchtend kornblumenblaue Augen strahlten sie an, unschuldig und glücklich.
Lena wackelte zur Begrüßung mit ihren Fingern und lächelte, als Ella glucksend antwortete. »Hi, Süße. Wie geht’s? Genießt du den Spaziergang?« Sie berührte mit ihrem Finger ganz vorsichtig eine der winzigen Hände.
Ella öffnete und schloss ihre Hand und umklammerte den Finger so fest sie konnte.
»Deine niedliche Tochter will mich nicht loslassen.« Lena konnte nicht aufhören zu grinsen.
»Niedlich? Hm.« Jess lächelte zurück und zum ersten Mal sah Lena die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter, besonders da Jess’ Augen in derselben Schattierung leuchteten.
Der sanfte Griff um ihren Finger verschwand, als Ella losließ, um die Hand zu ihrem Gesicht zu führen. Sie gähnte und verschluckte dabei fast ihre Faust.
Lena und Jess mussten beide lachen.
Seufzend zog Lena die Hand aus dem Kinderwagen und richtete sich auf. »Wir gehen besser los. Sie scheint bereit zum Schlafen zu sein.«
Jess nickte und fing an, in schnellem Schritt zu gehen. Wortlos schob sie den Kinderwagen.
Es war nicht, was Lena von einem entspannenden Abendspaziergang erwartet hatte, aber sie genoss die Gelegenheit, ihre Beine zu strecken.
Allzu bald wurde Jess langsamer. Sie atmete, in einer übermäßig kontrollierten Art und Weise, tief ein. War sie schon außer Atem? Sie waren weder zu schnell noch sehr weit gegangen. Vielleicht hatte ihre Krankheit etwas damit zu tun? Lena wollte fragen, ob es ihr gut ging, aber ihrer Erfahrung nach war Jess nicht empfänglich für besorgte Fragen.
Sie gingen langsamer, bis sich Jess’ Atmung beruhigt hatte. Sie waren immer noch in einer Wohngegend und in den meisten Häusern brannte Licht. Eine Frau ging auf der anderen Straßenseite mit ihrem Hund spazieren und hob grüßend die Hand. Lena winkte zurück. Kinderlachen schallte hinter einer Hecke und ein paar Häuser weiter hörte man die Stimme eines Mannes hinter einem Gartenzaun. All die Geräusche verschwammen zu einem unverständlichen Hintergrundrauschen.
Die friedliche Atmosphäre spülte Lenas stressigen Tag davon. »Das ist wirklich nett. Ich bin hier abends noch nie spazieren gegangen.«
»Das habe ich früher auch nie gemacht«, sagte Jess leise. »Normalerweise wäre ich um diese Zeit noch nicht einmal von der Arbeit zu Hause. Und da, wo ich jetzt lebe, geht man auch nicht einfach auf der Straße spazieren, so ganz ohne Ziel.«
»Vermisst du dein eigenes Haus?« Lena konnte sich im Moment nicht vorstellen, irgendwo anders leben zu wollen als in Maggies Garten.
»Meine Wohnung. Ja, manchmal. Ich liebe meine Mutter, aber ich habe so lange allein gelebt, dass es schwierig ist, wieder den Haushalt mit jemandem zu teilen. Außerdem wäre es nett, mehr als zwei Zimmer für Ella und mich zu haben.«
»Ich habe vorher noch nie allein in einem Haus gewohnt, immer mit Mitbewohnern. Ich verstehe sehr gut, was du mit ›Teilen‹ meinst, aber manchmal vermisse ich es, mit jemandem zusammenzuwohnen, den ich mag. Wie meine letzte Mitbewohnerin.« Sie stöhnte. »Vielleicht vermisse ich es nicht wirklich, das Badezimmer mit ihrem nervigen Freund zu teilen, aber trotzdem.«
»Bist du wegen des Freundes ausgezogen?« Jess’ Stimme klang misstrauisch.
»Nein, sie fühlte sich eingeschränkt, weil sie ihre Musik nicht laut spielen konnte, wärend ich meine Massagestunden gegeben habe. Sind wir jetzt wieder beim Verhör?« Es machte ihr nichts aus, über diesen Teil ihrer Vergangenheit zu reden, aber Jess’ Tonfall störte sie.
Jess stoppte und sah sie an. Die tief stehende Abendsonne brach durch die Bäume und ließ ihre Gesichtszüge weicher aussehen. »Nein, nein. Es tut mir leid. Wenn du willst, können wir über mich reden.« Sie grinste. »Wie du weißt, bin ich Ärztin und wir neigen dazu, selbstverliebt und egoistisch zu sein. Ich rede liebend gern über mich selbst.«
Lena lachte. Sie bezweifelte das, aber Probieren schadete nichts. »Bist du dir sicher?«
»Immerhin haben meine letzten Dates das gesagt.« Ein Hauch Bitterkeit schwang bei der Aussage mit. »Frag mich alles.«
»Bist du wirklich so ein schlechtes Date? Triffst du dich im Moment mit jemandem?« Lena erwartete, dass Jess das Thema wechseln würde, wollte es ihr aber mit gleicher Münze heimzahlen.
»Nein, ich bin schon länger nicht mehr ausgegangen. Nicht, seitdem ich schwanger war. Zu beschäftigt mit der Arbeit und immer, wenn ich es vorher versucht habe, flaute der Kontakt nach ein paar Dates ab.« Jess schüttelte den Kopf. »Es ist nicht meine Absicht, ein schlechtes Date zu sein, aber in meinem Leben passiert nichts, über das ich reden kann, abgesehen von meiner Arbeit.«
»Das geht mir auch so. Manchmal mache ich wochenlang nichts anderes als arbeiten und schlafen. Ich habe auch keine Energie, um auf Dates zu gehen.« Und Lena wollte nicht darüber nachdenken, wie lange es schon her war. »Aber gibt es nicht immer irgendein anderes Thema? Träume? Zukunftswünsche? Lieblingsfilme?«
»Vielleicht, wenn ich Zeit hätte, mir Filme anzusehen. Und in der letzten Zeit haben sich meine Träume mit dem Kinderkriegen beschäftigt. Für ein erstes Treffen ist das kein so gutes Thema. Ich hätte die Frauen bestimmt vor dem Nachtisch vergrault.« Jess lachte verlegen, was absolut niedlich war.
»Ja, Frauen kennenzulernen, ist nicht so einfach, wie man denkt. Ich hatte auch noch nie das Bedürfnis, zum zweiten Date einen Möbelwagen mitzubringen.« Und Lena wollte es auch nicht anders. Ihre Keine-feste-Beziehung-Ausstrahlung beschützte ihr Herz.
»Oh, du bist auch lesbisch?« Jess grinste sie an. »Mein Gaydar scheint etwas eingerostet zu sein.«
»Schau an, wir haben etwas gemeinsam. Meiner staubt auch schon seit einiger Zeit ein.« Lena grinste zurück und sie setzten den Spaziergang in freundschaftlichem Schweigen fort.
An der nächsten Kreuzung hielt Jess an. »Es wird dunkel. Willst du zurückgehen?«
»Nein, gar nicht. Das ist nett.« Sie hätte noch stundenlang weiterlaufen können. Diese neue Seite an Jess war unerwartet. Hatte Jess es ernst gemeint, als sie sagte, dass Lena sie alles fragen konnte? Es war an der Zeit, die Aufrichtigkeit dieser Aussage zu testen. »War es eine schwere Entscheidung, Ella allein zu bekommen?«
»Wow, du hältst dich nicht mit oberflächlichen Fragen auf.« Jess blieb stehen und richtete Ellas Decke, obwohl diese gar nicht unordentlich war. Sie ging weiter und hielt dabei den Blick auf die Straße gerichtet. »Ich würde sagen, die Antwort ist ja und nein. Der Wunsch nach einem Kind war immer da, aber leise, im Hintergrund von allem, was ich gerade gemacht habe. Es gab auch immer einen guten Grund, um es zu verschieben. Seit ich in der Highschool war, hatte ich diesen Plan für mein Leben. Ich hatte jeden Schritt, der notwendig war, um beruflich und privat erfolgreich zu sein, genau durchdacht. Aber dann habe ich bemerkt, dass nicht mehr viele Jahre übrig waren, um eine Frau zu finden, zusammenzuziehen und schwanger zu werden. Ich wollte keine weitere Zeit verschwenden, um die perfekte Partnerin zu suchen. Also habe ich ein paar Schritte übersprungen und hier sind wir.«
Lena war sich nicht sicher, wie sie antworten sollte. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der sein Leben so durchgeplant hatte. Die meisten Menschen versuchten, genau wie sie selbst, nicht zu ertrinken, während die Gezeitenströme des Lebens sie hin und her schleuderten.
Schweigen erstreckte sich zwischen ihnen wie ein einsamer Ozean, bis Jess die Stille durchbrach. »Es tut mir leid. Das war mehr, als du wissen wolltest, oder?«
»Nein, alles in Ordnung. Danke für das Vertrauen. Das verändert mein Bild von dir.«
»Jetzt siehst du mich als eine traurige Enddreißigerin, die sich zu sehr mit der tickenden Stoppuhr in ihren Eierstöcken beschäftigt?«
»Ähm …« Lena wollte das nicht laut sagen, aber leugnen konnte sie es auch nicht.
Jess lachte. »Du musst das nicht beantworten.«
Das Rascheln der Blätter aus dem nahen Park und die gedämpfte Musik aus einem der Häuser begleiteten ihren Spaziergang, während Lena über Jess’ Worte nachdachte. Einen Plan für ihr Leben zu haben und ihren Traum zu verfolgen, war etwas, das Lena bereits aufgegeben hatte, lange bevor sie die Highschool beendet hatte. Jess’ Beharrlichkeit war bewundernswert.
»Wovon träumst du?«, fragte Jess leise.
»Davon, nicht zu verhungern?« Lena lachte, aber es klang hohl in ihren eigenen Ohren. »Das stimmt eigentlich nicht, aber ich hatte in den letzten Jahren nicht viel Zeit, um über Träume und Ziele nachzudenken. Ich war damit beschäftigt, meine Rechnungen zu zahlen.«
»Es tut mir leid. Du hast recht. Seinen Zielen zu folgen, ist ein Privileg, auch wenn träumen nichts kostet.«
Lena wollte darauf nicht antworten. Ihrer Erfahrung nach entsprach das nicht der Wahrheit. Man zahlte für Träume mit Tränen und einem gebrochenen Herzen. Aber das war viel zu deprimierend für ein erstes Gespräch zwischen Noch-nicht-einmal-Freundinnen. Lena musste die Unterhaltung in eine sicherere Bahn lenken. »Wie wäre es mit einer kleinen Runde im Park?« Sie wies auf den Eingang.
»Gern. Ich denke, wir schaffen den kleinen Rundweg, bevor es zu dunkel wird.« Jess lenkte den Kinderwagen durch eine Engstelle am Parkeingang.
Als sie weitergingen, wälzte Lena Jess’ Worte im Kopf herum. Sie selbst war viel zu jung ins Erwachsenenleben geworfen worden und hatte ihre Träume für später verstaut, wie Spielsachen in einer Kiste im dunklen und staubigen Keller. Bis eben hatte sie vergessen, dass diese Kiste überhaupt existierte. Vielleicht sollte sie nach ihr suchen und schauen, ob der Inhalt noch relevant war. Später. Irgendwann.
Jetzt würde sie sich bewusst bemühen, in der Gegenwart zu bleiben und den Spaziergang unter den hohen Kiefern zu genießen. Sie strahlten Frieden und Stabilität aus, nur durch ihre Anwesenheit, konstant und unveränderlich.
Jess ging schneller, als sie Lena sah, die auf der Terrasse wartete. Die letzten paar Male, als sie Lena gefragt hatte, ob sie mitkommen wollte, hatte diese am Abend arbeiten müssen. Das würde erst ihr dritter gemeinsamer Spaziergang werden.
Normalerweise verließ sie sich nicht auf andere, um unterhalten zu werden. Nach einem langen Tag im Krankenhaus, umgeben von Menschen, die ständig die eine oder andere Sache von ihr wollten, hatte Jess ihre Abende allein genossen. Aber jetzt hatte sie nur ihre Mutter und Ella als Gesellschaft und vermisste es, Zeit mit jemandem in ihrem Alter zu verbringen.
»Hi, Jess.« Lena stand auf und nahm ihre Jacke vom Tisch. Heute trug sie einen weiten, asymmetrischen grauen Rock, der knapp über ihren Knien endete, und ein dunkelblaues Trägershirt.
Jess war auf mehr Dates gewesen, als sie zugeben wollte, bei denen die Frauen ununterbrochen über Mode redeten, sie lebten und atmeten. Aber sie hatte noch nie eine Person getroffen, die wie Lena mühelos Kleidung in allen Formen und Farben kombinierte. Sie machte sich offensichtlich mehr aus Komfort, als daraus, ihren Körper zu betonen, auch wenn sie nichts zu verstecken hatte. Ihr Selbstbewusstsein war anziehender als ein tiefer Ausschnitt oder Schuhe mit hohen Absätzen.
»Hi, Ella. Wie war das Abendessen?« Als Lena sich nach vorn beugte, um in den Kinderwagen zu schauen, schmiegte sich ihr Rock um ihren Hintern.
Jess wandte ihren Blick ab, um nicht zu starren. Na gut, vielleicht versteckte Lena doch nicht all ihre Vorzüge.
»Fertig? Sollen wir losgehen?« Lenas Fragen waren immer noch an Ella gerichtet, mit der sie sich, wie immer, in ihrer normalen Stimme unterhielt.
Natürlich war Ella nicht beeindruckt und gähnte stattdessen.
»Ich vermute, das bedeutet: ›Es gab mehr als genug zu essen und geh endlich los, damit ich schlafen kann.‹« Lena lachte leise und richtete sich auf.
Jess konnte nicht anders und lächelte zurück, als sie die Einfahrt hinuntergingen. »Wie war dein Tag?«
»Ganz gut. Auf dem Wochenmarkt war viel los. Ich muss bald neue Marmeladen kochen. Die Besitzer des Cafés lassen mich montags ihre Küche benutzen, wenn sie geschlossen haben.«
»Kannst du das nicht zu Hause oder in der Küche meiner Mom machen?« Jess hatte keine Ahnung, um welche Menge Marmelade es sich handelte, aber der sechsflammige Herd ihrer Mutter war sicher groß genug.
»Könnte ich, aber es ist einfacher, wenn ich es in einer professionellen Küche mache, auch wegen der Hygienevorschriften. Und dort kann ich auch mehrere Sorten auf einmal machen. Das spart Zeit. Ich muss nur noch die Gläser kaufen und Etiketten drucken, bevor es losgeht. Und Äpfel im Obstgarten meiner Freunde pflücken.« Lena ließ ihre Schultern hängen und sah nach unten. »Ich hoffe, mein Auto springt an. Es spinnt in letzter Zeit. Die Fahrt dauert über eine Stunde.«
»Ich kann dich fahren.« Jess war jede Entschuldigung recht, um für ein paar Stunden aus dem Haus zu kommen.
»Nein, deswegen habe ich das nicht gesagt. Ich finde schon eine Lösung. Ich kann jederzeit mit jemandem auf dem Markt ein paar Stunden Arbeit gegen die Benutzung eines Autos tauschen.«
»Ich weiß, dass du das nicht gesagt hast, damit ich es tue. Aber ich biete es dir an. Ich habe den ganzen Tag nichts zu tun, außer Babyessen aufzuwärmen und Windeln zu wechseln. Du würdest mir einen Gefallen tun, wenn ich dich irgendwohin fahren darf.«
Sie liefen ein paar Minuten schweigend nebeneinanderher. Ausnahmsweise störte es Jess nicht, dass jemand ihr nicht sofort zustimmte. Sie mochte, dass Lena sich Zeit ließ, um ihre Entscheidungen zu überdenken.
»Okay, ich würde mich freuen, wenn du mir hilfst.«
»Wunderbar. Wann?«
»Können wir nächsten Sonntag Äpfel pflücken fahren? Das ist mein einziger freier Tag.«
Seit Jess krankgeschrieben war, verschwammen die Tage ineinander und sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, was für ein Tag heute war. Dienstag. »Sonntag passt gut. Und wann holen wir die Gläser?«
»Vielleicht Montag, bevor ich ins Café gehe? Ich rufe im Laden an und bestelle, was ich brauche, sodass wir sie nur abholen müssen und alles auf einmal zum Café fahren können.«
»Oh, ich habe einen Arzttermin am Montag. Aber ich verschiebe ihn. Kein Problem.«
»Nein, mach das nicht. Ein Arzttermin ist viel wichtiger.«
»Nein, wirklich, das macht nichts. Ich kann ihn auf Dienstag verschieben. Einer der Vorteile, wenn man im Krankenhaus arbeitet, ist die schnelle Verfügbarkeit von Arztterminen.« Jess hatte es nicht sonderlich eilig zu erfahren, dass ihr Herzversagen sich nicht gebessert hatte. Das konnte gern noch einen Tag warten. »Also Sonntag Äpfel pflücken und Montag Café?« Jess streckte ihre Hand aus.
Lena schlug ein. »Aber du lässt mich das Mittagessen besorgen.«
»Deal.« Jess lächelte. Beim Marmeladekochen zuzuschauen, klang viel interessanter, als ein Echo im Krankenhaus zu bekommen.
»Der Arzttermin … Ist er für Ella?« Lena sah besorgt in den Kinderwagen. »Geht es ihr gut?«
»Nein, das ist wegen meines Herzversagens.« Jess hätte lieber über etwas anderes geredet, aber sie hatte nichts vor Lena zu verbergen.
Lena blieb stehen. »Herzversagen! Oh, wow, ich hatte keine Ahnung, dass es so ernst ist.« Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie umklammerte den Griff des Kinderwagens.
»Hat dir meine Mutter das nicht erzählt?« Jess wäre es nie in den Sinn gekommen, dass Lena es nicht wusste.
»Nein, sie hat mir keine Einzelheiten erzählt, nur dass es zu Komplikationen gekommen ist.« Ihr Blick schweifte über Jess und enthielt die gleiche Sorge, die sie gerade eben für Ella gezeigt hatte. »Es tut mir leid. Ich weiß nichts über Herzversagen. Ist es okay, ein paar Fragen zu stellen?«
»Ja, klar.« Mit Fragen zur Krankheit konnte sie umgehen. »Ich bin Kardiologin. Frag mich alles, was du wissen willst.«
»Mir fällt zuerst eine Frage ein: Ist das nicht was für alte Leute?« Lena errötete.
Jess musste lachen. »Ja und nein. Es ist nicht häufig in meinem Alter, aber auch nicht das erste Mal. Die spezielle Form von Herzversagen, die ich habe, ist insgesamt selten. Sie wird PPCM, also Peripartale Kardiomyopathie genannt. Das bedeutet, dass ich das Herzversagen wegen meiner Schwangerschaft bekommen habe. Die genaue Ursache ist unbekannt. Vermutlich ist es eine Kombination aus unglücklicher Genetik und dem hohen Oxytocinspiegel am Ende der Schwangerschaft und in der Stillzeit.« Theoretisch darüber reden, als würde sie jemandem irgendeine andere kardiologische Erkrankung erklären, war gar nicht so unangenehm, wie Jess befürchtet hatte.
Lena neigte ihren Kopf zur Seite. »Und was bedeutet das für dich?«
»Ich nehme Medikamente und wenn man die Statistik betrachtet, ist es sehr wahrscheinlich, dass mein Herz sich erholen wird.« Jess hatte beschlossen, dass sie den Zahlen glaubte. Sie würden sie nicht enttäuschen. »Ich will nicht so lange von der Arbeit wegbleiben, aber ich bin noch nicht fit genug, um wieder loszulegen. Und deswegen muss ich mehr trainieren.« Jess schob den Kinderwagen um die Ecke zum Parkeingang.
Nach ein paar Schritten hatte Lena sie immer noch nicht eingeholt. Jess sah sich um.
Lena hastete ihr nach, dann berührte sie federleicht Jess’ Arm. »Aber was bedeutet das wirklich für dich? Im Inneren?«
»Im Inneren?« Wollte Lena etwas über die strukturellen Veränderungen der Herzmuskulatur wissen?
»Emotional. Was macht das mit dir? Ich kann mir nicht vorstellen, an deiner Stelle zu sein. Hast du Angst?«
»Oh.« Angst war eine viel zu harmlose Bezeichnung für ihre Gefühle, Panik kam dem schon näher. Jess zitterte, als hätte ein plötzlicher Schneesturm jegliche Wärme hinweggefegt. »Ja. Was, wenn mein Herz sich nicht erholt? Ich wäre nicht in der Lage, mich um Ella zu kümmern.« Ihr Hals zog sich zusammen und sie schluckte einmal, zweimal, als ob sie so ihre Angst loswerden könnte.
»Kannst du etwas tun, um es zu verbessern? Kann ich irgendwie helfen?« Die Wärme in Lenas Stimme enthielt nicht das Mitleid, das Jess befürchtet hatte.
Konzentrier dich!
Jess hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Ängste und Zweifel zur Seite zu schieben, um sich auf das zu fokusieren, was getan werden musste. Irgendwie, unter Lenas unterstützendem Blick, schien der Ballast, den sie verschieben musste, leichter als vorher zu sein. »Ich glaube, du tust es schon. Du leistest mir Gesellschaft auf meinen Spaziergängen. Ich liebe Ella, aber interessante Unterhaltungen zu führen, ist nicht ihre Stärke. Mit dir zu reden, hilft mir, mich vor dem Grübeln zu bewahren und vorm Versinken in Selbstmitleid.« Außerdem genoss sie es, Lena besser kennenzulernen, wusste aber nicht, wie sie das ausdrücken sollte.
»Wenn du willst, können wir das öfter machen. Immer wenn ich abends zu Hause bin und du Lust dazu hast, gehe ich mit dir spazieren.«
»Danke.« Die Vorstellung, mit Lena jeden Abend unterwegs zu sein, zauberte ein Lächeln auf Jess’ Lippen. Das Versprechen war wie der Duft eines guten Weines und rief Vorfreude und eine innere Wärme hervor.
»Du könntest morgens auch beim Tai-Chi mitmachen. Es soll gut für die Gesundheit sein.« Die Begeisterung in Lenas Stimme war ansteckend.
»Super Idee.« Jess nickte. »Du hattest recht mit Tai-Chi und der Stammmuskulatur. Ich habe nach deiner Stunde nachgelesen und habe einige wissenschaftliche Studien gefunden, die einen positiven Effekt bei Herzerkrankungen zeigen.«
Lena schmunzelte bei der Erwähnung von Studien. »Also schließt du dich mir morgen an?«
»Sofern du mir sagst, wenn das alles zu viel wird. Ich will nicht deine ganze Freizeit in Beschlag nehmen. Ich bin mir sicher, du hast bessere Dinge zu tun.« Jess ging weiter, auch wenn es bedeutete, dass Lenas Hand von ihrem Arm glitt. Aber sie wollte nicht zu eifrig, zu bedürftig erscheinen.
Lena lachte. »Das denkst du vielleicht, aber Zeit mit dir zu verbringen, ist viel besser für mich, als wenn ich allein auf dem Sofa einschlafe, während ich versuche zu lesen. Das mache ich nämlich normalerweise.«
»Ich habe dich ein paarmal im Garten zeichnen gesehen. Machst du das nicht abends?«
»Manchmal schon. Aber nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet habe, bin ich abends meistens zu müde, um mich zu konzentrieren.«
Jess verstand das gut. Nach zwölf oder vierzehn Stunden im Krankenhaus fühlte sie sich oft genauso. An den meisten Abenden schlief sie in ihrer Wohnung auf dem Sofa ein, während ihre Freunde ausgingen. Und jetzt, da sie Ella hatte, erwartete sie nicht, dass sich ihre Müdigkeit in absehbarer Zukunft legte. Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Was? Denkst du, meine Arbeit macht nicht müde?« Der Hauch von Abwehr in Lenas Stimme wischte Jess’ Grinsen aus dem Gesicht.
»Nein! Ganz und gar nicht. Ich lache nur über meine eigenen Illusionen. Was du beschrieben hast, klingt genau wie das, was ich an den Abenden tat, bevor ich hierhergezogen bin. Wenn ich am Wochenende keine Rufbereitschaft hatte, bin ich vielleicht alle paar Monate mit Freunden Essen gegangen, falls die sich noch daran erinnerten, dass ich lebe. Den Rest meiner Abende habe ich auf meinem unbequemen Sofa verbracht. Warum ich geglaubt habe, diese Situation würde sich verbessern, wenn ich ein Baby habe, kann ich nicht verstehen.« Jess stöhnte. »Bescheuert.«
»Bescheuert ist übertrieben. Erwartungen und Hoffnungen können jede Urteilsfähigkeit trüben. Manchmal, wenn man etwas nur genug will, achtet man nicht auf die Warnsignale.« Lenas Stimme schwankte bei den letzten Worten. Sie schluckte hörbar.
Sprach Lena noch über Jess?
Jess hatte versprochen, nicht zu bohren, aber der Schmerz in Lenas Stimme löste etwas in ihr aus. Beschützerinstinkt? Was auch immer es war, es half ihr, ihre Neugier im Zaum zu halten. Wenn Lena ihr sagen wollte, was sie in der Vergangenheit verletzt hatte, dann würde sie es zu gegebener Zeit tun.
»Wenn ich dich mit meinen Arme-Jess-Geschichten langweile, sag es nur und ich höre auf. Oder du kannst mich treten.«
»Du bist nicht so schlimm. Und dafür sind Freunde doch da.« Lenas Stimme klang jetzt wieder leichter.
Freunde? Schritte in perfektem Gleichklang füllten die Stille, als Jess sich das Wort auf der Zunge zergehen ließ. Ihre alten Freunde waren zurückgeblieben, als sie sich auf ihre Karriereleiter durch Medizinstudium und Assistenzarztausbildung gestürzt hatte. Waren sie überhaupt noch ihre Freunde? Sie hatte nicht daran gedacht, einen von ihnen anzurufen, als sie krank geworden war. Und sie konnte sich eine so ehrliche Unterhaltung wie heute mit keinem von ihnen vorstellen.
Kayla war mehr eine Arbeitsfreundin. Wenn sie sich außerhalb des Krankenhauses trafen, dann um Dampf abzulassen, sowohl über die Arbeit als auch über ihre Kollegen.
Vielleicht konnte sie Diana als Freundin zählen, obwohl diese Freundschaft erst in den Kinderschuhen steckte. Aber Jess hatte mehr mit ihr geteilt als mit irgendjemand anderem in den letzten Jahren. Sie hatte ihr gegenüber sogar zugegeben, Angst zu haben.
Und jetzt hatte Lena ihr dieses Geschenk angeboten, obwohl Jess sie zuerst wie Dreck behandelt hatte. Sie wollte ihr danken, sich noch einmal entschuldigen, ihr sagen, wie viel ihr das Angebot bedeutete, aber sie fand nicht die passenden Worte. Sei nicht so kompliziert.
»Das gefällt mir. Freunde.« Jess nahm einen tiefen Atemzug, um den Kinderwagen den Hügel hochzuschieben. Überraschenderweise brannte ihre Lunge nicht so sehr wie erwartet und sie hatte sogar noch etwas Luft übrig zum Reden. Vielleicht konnte sie ihrem Arzttermin doch optimistisch entgegensehen.