Kapitel 12
»Oh, hier ist die Kreuzung, an der vor zwei Jahren eine süße Katze die Straße überquert hat. Du musst nach links abbiegen.« Lena winkte in Richtung der Seitenstraße.
Süße Katze, wirklich? Jess schüttelte innerlich den Kopf. Sie hatte vor dreißig Minuten aufgehört, Fragen zu stellen. Die Antworten waren einfach zu verwirrend. Lenas interne Landkarte war wie eine Collage, eine Sammlung von Bildern, lustigen Fakten und Erinnerungen an besondere Bäume.
Kurz nachdem sie den Highway östlich von Seattle verlassen hatten, hatte Jess schon die Orientierung verloren. Sie war Lenas Anweisungen gefolgt und öfter abgebogen, als sie zählen konnte, und das auf immer schlechter werdenden Straßen.
Sie war natürlich nicht komplett orientierungslos. Wenn sie den Stand der Sonne und die Uhrzeit bedachte, konnte sie die Himmelsrichtungen berechnen. Sie war immer stolz auf ihren Orientierungssinn gewesen, der ihr half, einen dünnen Draht durch kleine gewundene Koronararterien zu navigieren und das schwarz-weiße Röntgenbild in eine dreidimensionale Landkarte in ihrem Kopf zu verwandeln. Aber ihr geistiger Straßenatlas enthielt Straßennamen und klare Richtungsangaben.
Sie musste darauf vertrauen, dass Lena sie nach ihrer Fruchtpflückexpedition in der Wildnis des Staates Washington wieder sicher zurückbringen würde. Immerhin erschien Lena überzeugt von ihren eigenen Anweisungen.
»Halte hier an und ich öffne das Tor.« Lena zeigte auf eine grasbewachsene Stelle neben der Straße.
Tor? Vielleicht wusste sie doch nicht, was sie tat. Jess sah nur Bäume und Gebüsch, teilweise überwuchert von Unkraut und Ranken. Aber sie folgte auch dieser Anweisung.
Lena sprang aus dem Auto und ging auf die Hecke zu. Wenn man etwas, das aus mindestens einem Dutzend verschlungener Pflanzen bestand, als Hecke bezeichnen konnte. Sie griff mitten in das grüne Blattwerk und schob.
Langsam bewegte sich die Hecke, zumindest der Teil, der groß genug war, um ein Auto durchzulassen. Dahinter führte ein zugewachsener Feldweg um eine Kurve.
Jess fuhr vorsichtig durch die Lücke.
Lächelnd setzte sich Lena wieder auf den Beifahrersitz, nachdem sie das Tor geschlossen hatte. Sie deutete nach vorn. »Nur noch eine Meile. Schlimmer wird die Straße nicht mehr.«
Wie versprochen erreichten sie bald ihr Ziel. Das alte, hölzerne Farmhaus sah aus der Entfernung nicht so schlecht aus, aber als Jess zwischen dem Haus und der Scheune hielt, wurde deutlich, dass seit geraumer Zeit niemand mehr dort gelebt haben konnte. An den meisten Stellen war der Anstrich zu einem undefinierbaren Grau verblasst und blätterte ab. Die Fenster waren mit Holzbrettern verbarrikadiert und Unkraut, Gras und Moos wuchsen überall − im Hof, auf der Veranda, sogar auf dem Dach. Die Scheune war in einem ähnlichen Zustand.
»Benutzen deine Freunde das Haus noch?« Jess bezweifelte das stark. Das schien nicht sicher zu sein.
»Nein. Wenn sie hierherkommen, zelten sie unten am Fluss. Sie nutzen das Grundstück nicht öfter als drei oder vier Mal im Jahr, zögern aber, es zu verkaufen. Sie haben den vagen Plan, das Haus irgendwann zu renovieren und sich hier zur Ruhe zu setzen.«
Jess konnte sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit man hier hineinstecken müsste, um es wieder bewohnbar zu machen. »Es könnte billiger sein, es abzureißen und ein neues Haus zu bauen.«
»Kann sein. Ich vermute, es ist hauptsächlich Nostalgie und kein echter Plan.« Lena streckte ihre Arme über den Kopf. Ihr T-Shirt rutschte nach oben und gab einen Blick auf ihren straffen Bauch frei. Anstelle ihrer üblichen Lagen aus losem Leinen und Baumwolle trug sie Jeans und ein T-Shirt. Beide waren verblasst und ausgefranst, sahen aber trotz der engen Passform weich und bequem aus. »Bist du bereit, dir ein wenig die Beine zu vertreten? Der Obstgarten befindet sich hinter den Gemüsebeeten oder besser gesagt dem, was davon übrig ist.«
Jess öffnete den Kofferraum, um die Eimer zu holen. »Geh vor.«
Der Spaziergang durch den überwucherten Garten dauerte nicht lange. Die Sonne schien und eine leichte Brise trug eine Mischung aus Düften, die Jess nicht identifizieren konnte, mit sich. Alles roch frisch und voller Leben. Vögel zwitscherten und Bienen summten um sie herum und kümmerten sich nicht um die Eindringlinge in ihr Revier. Als sie dem fast unkenntlichen Weg folgten, versuchte Jess ohne Erfolg, das Gemüse zu identifizieren, das hier vor Jahren gewachsen sein musste. »Mom würde es hier lieben.«
»Oh, das tut sie. Sie ist letztes Jahr mitgekommen, um ein paar Samen zu sammeln. Es war schwierig, sie zum Gehen zu bewegen. Erst als es dunkel wurde, konnte sie sich losreißen. Ich frage mich, warum sie sich freiwillig gemeldet hat, um heute bei Ella zu Hause zu bleiben.«
»Sie geht mit ihr zu ein paar Freunden. Ich glaube, sie will ihre perfekte Enkelin zur Schau stellen.« Jess lachte. »Aber ich kann mir vorstellen, wie sie stundenlang hier herumstöbert. Mir war gar nicht bewusst, dass du sie schon so lange kennst.«
»Sie hat letztes Jahr eine meiner Marmeladen gekauft und wir haben dann über Tomaten und alte Gemüsesorten gesprochen. Ich habe ihr von diesem Ort erzählt und sie hat mich gefragt, ob sie mich begleiten kann. Ihr Wissen ist bewundernswert. Ich habe auf diesem Ausflug so viel von ihr gelernt. Sie kennt nicht nur die Fakten, sondern kann sie auch auf unglaublich interessante Weise vermitteln. Ich glaube, sie vermisst es zu unterrichten.«
Jess blinzelte angesichts der offenen Bewunderung in Lenas Tonfall. Intellektuell wusste sie, dass ihre Mutter eine versierte Botanikerin war, die viele Artikel und Bücher veröffentlicht hatte. Sie war dazu noch eine beliebte Professorin an der Universität gewesen. Aber für Jess war Botanik noch nie so interessant und wichtig gewesen wie die Arbeit ihres Vaters. Sie hätte nie gedacht, dass jemand, außer anderen Botanikern, das Wissen ihrer Mutter schätzen würde. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie ihre Mutter nach ihrer Arbeit fragte und ihr als Erwachsene zuhörte und nicht als allwissender Teenager mit vorgefertigtem Urteil.
»Du könntest recht haben. Sie hat es geliebt zu unterrichten und sich nie über ihre Unterrichtsanforderungen beschwert wie einige ihrer Freunde. Und sie hat immer versucht, ihre Kurse zu verbessern. Es tut mir leid, dass ich nie das geringste Interesse an Pflanzen gezeigt habe. Sie hätte mir bestimmt gern alles beigebracht, was sie weiß.«
»Es ist nie zu spät, um Interesse zu zeigen.« Lenas Tonfall fehlte der Vorwurf, den Jess sich selbst machte.
»Das habe ich auch gerade gedacht.« Jess’ Stimmung hob sich wieder. Sie tauschten ein Lächeln aus und Jess stolperte fast über ein Schlagloch. Vorsicht, Jess.
Sie blickte nach vorn.
Beim Anblick der Bäume blieb ihr der Mund offen stehen. »Wow.« Jess hatte sich den Obstgarten mit geraden Baumreihen vorgestellt, in einer Einheitsgröße. Stattdessen bestand der Hain aus Bäumen in allen Formen und Größen. Die knorrigen Äste erstreckten sich in alle Richtungen. Einige hatten erfolgreich die Nachbarbäume überwuchert und bildeten ein dichtes Blätterdach. Ein Apfelbaum hatte Äste, die bis zum Boden reichten und eine schattige Kuppel schufen, die den perfekten Ort gebildet hätten, um als Kind ein Fort zu bauen. »Ich hätte es früher geliebt, mich in dieser Höhle zu verkriechen und den ganzen Sommer zu lesen.«
»Ich auch. Oder ich wäre überall hochgeklettert und hätte einen Ausguck gebaut.« Lenas Lächeln war wehmütig. »Ich habe es immer geliebt, Orte zu finden, an denen ich den Horizont sehen konnte.«
»Oh? Wonach hast du gesucht? Piraten? Drachen?« Jess stellte die Eimer ab und sah sich nach einer guten Stelle zum Anfangen um.
»Meine Mutter.« Lenas Lächeln erlosch. »Hätte ich mehr Zeit in einer Höhle verbracht, wäre mein Leben besser verlaufen.« Sie atmete tief ein und straffte ihre Schultern. »Lass uns hier drüben anfangen. Diese Sorte Apfel ist gut zum Einkochen geeignet und die Äste sind nicht zu hoch. Pflück einfach, was du greifen kannst, Größe und Form sind egal.« Mit drei großen Schritten ging sie zum Baum und fing, ohne sich umzudrehen, an zu pflücken.
Das war das erste Mal, dass Lena ihre Mutter erwähnt hatte. War sie nicht bei ihr aufgewachsen, weil sie verstorben war? Anscheinend war es ein schwieriges Thema für Lena, deshalb respektierte Jess ihr Schweigen.
Sie pflückten in entgegengesetzten Richtungen um den Baum herum.
Jess wartete darauf, dass die üblichen Erschöpfungssymptome einsetzten, aber weder ihre Herzfrequenz noch ihre Atmung beschleunigten sich. Nach zwanzig Minuten ging es ihr immer noch gut. Ein Grinsen, das sie, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht hätte zurückhalten können, breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Vielleicht könnte sie wirklich bald wieder zurück an ihre Arbeit gehen.
Arbeit. Jess fuhr mit der Hand über den massiven Baumstamm. Die raue Rinde unter ihren Fingerspitzen und die Düfte des Sommers waren weit von ihrem Alltag in der Stadt entfernt. Es war fast unmöglich, sich vorzustellen, dass sie bald wieder in der sterilen Klinik sein würde. Sie schloss die Augen und tauchte tiefer in den Frieden des Ortes ein.
Als sie sie wieder öffnete, stand Lena einen halben Meter entfernt und zog mit einer Hand einen Ast zu sich herunter. Der andere Arm war ausgestreckt, um einen besonders großen und roten Apfel zu erreichen, aber sie konnte ihn nicht fassen. Sie balancierte auf den Zehenspitzen und die Jeans schmiegte sich an ihren Hintern, als wären sie so zugeschnitten, damit sie Jess’ Aufmerksamkeit fesselten.
Hör auf zu starren.
Jess wandte ihren Blick nach oben und musste all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht auf Lenas Brustansatz zu verweilen.
Wann war ihre Libido wieder zum Leben erwacht? Heute ging es um Freundinnen, die Äpfel pflückten, sonst nichts.
Äpfel. Richtig. Sie stellte ihren Eimer ab und watete durch das weiche, kniehohe Gras an Lenas Seite. »Lass mich. Halte einfach den Ast fest.«
Aber Jess hatte sich verschätzt. Um den Apfel zu erreichen, musste sie noch näher kommen. Blütenduft umhüllte sie. Ihre Seite presste sich an Lenas und keine noch so starke Selbstbeherrschung konnte das Gefühl der weichen Brust neben ihrer eigenen ignorieren. Funken stoben und entfachten Feuer an unpassenden Stellen ihres Körpers. Sie unterdrückte ein Stöhnen.
Jess wollte den Kontakt verlängern. Stattdessen streckte sie sich auf Zehenspitzen und packte den Apfel mit unnötig viel Kraft.
Er riss vom Ast los. Das Holz vibrierte und Blätter und winzige Rindenstücke regneten auf sie beide herab.
Lena nieste, ließ los und stolperte gegen Jess.
Um ihr Gleichgewicht zu halten, griff Jess mit ihrem freien Arm um Lena herum, aber es war zu spät.
Sie stürzten zu Boden, Jess auf den Rücken und Lena auf sie, wobei der kostbare Apfel zwischen ihnen eingeklemmt wurde.
Jess atmete aus und machte eine Bestandsaufnahme. Das Gras hatte ihren Sturz abgefedert, daher schmerzte nichts außer ihrem Stolz. Als sie versuchsweise mit den Zehen wackelte, bewegte sich alles, wie es sollte. Sie öffnete die Augen, um zu sehen, wie es Lena ging.
Lenas braune Lockenmähne rahmte ihr Gesicht ein und mehrere Blätter, Zweige und Rindenstücke steckten in ihrem Haar. Große grünbraune Augen − einen Hauch heller als die Blätter, mit kleinen Flecken so braun wie die Rinde − starrten Jess schockiert an. »Es tut mir so leid. Bist du verletzt?« Lena versuchte, aufzustehen, verlor aber erneut das Gleichgewicht und fiel neben Jess ins Gras.
»Mir geht es gut.« Da Lena sie immer noch besorgt anblickte, beeilte Jess sich, sie zu beruhigen. »Wirklich. Mach dir keine Sorgen. Der Boden ist überraschend bequem, so als ob wir zu Hause im Bett liegen würden.« Bett? Warum hatte sie ihr Bett erwähnt?
Lena zog eine sexy Augenbraue nach oben. »Okay. Wenn du das sagst.« Mit einem Lächeln, als wäre nichts passiert, sprang sie auf die Füße und streckte ihre Hand aus, um Jess aufzuhelfen.
Jess nahm das Angebot an, ließ Lena aber so schnell wie möglich wieder los, bevor erneut Funken flogen.
Als sie beide ihre Kleidung abklopften, um Blätter, Rinde und Gras loszuwerden, bemerkte Jess, dass sie noch immer den Apfel umklammerte. Mit einer schwungvollen Geste überreichte sie ihn Lena.
Diese nahm ihn lachend entgegen und polierte ihn an ihrem T-Shirt. »Ich hätte dich nicht für eine Eva gehalten, aber du überraschst mich immer wieder.« Sie zwinkerte und legte ihn sorgsam in ihren fast vollen Eimer. »Komm, wir brauchen noch ein paar von den Birnen, bevor wir in den Kampf mit der Brombeerhecke ziehen.«
Kampf? Das klang genau nach dem, was Jess jetzt brauchte, um ihre Gedanken von der Anziehung abzulenken, die sie völlig auf dem falschen Fuß erwischt hatte.
Lena legte die letzten beiden Birnen in ihren Eimer. Wieder voll. Sie trug ihn zum nächsten Baum, wohin Jess auf der Suche nach leichter erreichbaren Früchten inzwischen gewandert war.
Nach dem, was vorhin passiert war, war es sicherer, an getrennten Bäumen zu arbeiten.
Beim Gedanken an den Sturz ins Gras glühten ihre Wangen. Jess hatte sie festgehalten, als sie fielen, und die Kurven ihres Körpers hatten den Sturz abgefedert. Auch wenn Jess nach außen weich wirkte, hatte sie doch eine Stärke ausgestrahlt, die Lena ein wenig zu sehr genossen hatte.
Sie musste Abstand gewinnen, um ihren Kopf freizubekommen. Der Pfad, den ihre Gedanken einschlugen, würde sie nur zu einem gebrochenen Herz führen.
Jess hatte aufgehört, Birnen zu pflücken. Sie hob beide Arme über den Kopf und drehte ihren Oberkörper von rechts nach links, als würde sie eine Blockade lösen wollen.
Die Art und Weise, wie ihr T-Shirt sich über ihrer Vorderseite dehnte, half ganz und gar nicht bei Lenas guten Vorsätzen. Sie richtete den Blick lieber auf die Eimer voller Äpfel und Birnen. »Ich denke, wir haben genug. Ich trage die zum Auto und dann können wir etwas essen, bevor wir zu den Brombeeren gehen.«
»Essen? Sehr gute Idee. Und ich muss auch etwas trinken. Gibt es hier irgendwo einen Ort, wo wir … du weißt schon … unsere Getränke hinterher loswerden können?« Jess ließ ihren Kopf hängen und sah überallhin, nur nicht zu Lena.
Lena runzelte die Stirn. Was meinte sie? Oh! »Es gibt ein altes Außenklo, das noch ziemlich okay ist. Aber ich warte normalerweise, bis ich wieder zu Hause bin.«
»Das hätte ich letztes Jahr auch getan. Aber diese verdammten Medikamente erlauben mir den Luxus nicht mehr. Ich fühle mich wie eine alte Frau, immer auf der Suche nach dem nächsten Badezimmer.« Jess verzog das Gesicht.
Nun, da Lena sie ein wenig besser kannte, hörte sie deutlich die Verlegenheit in Jess’ Stimme, obwohl der Ton gereizt klang. »Das ist nervig. Aber immerhin helfen sie, oder?«
»Ja.« Jess seufzte. »Ich schätze, das tun sie. Letzten Monat wäre ich hier draußen keine Hilfe gewesen. Eine Handvoll Äpfel zu tragen, wäre schon zu schwer gewesen, geschweige denn ein voller Eimer.« Sie nahm ihre Eimer und marschierte in Richtung Auto.
Jess stellte das Obst neben dem Auto ab, um einen Umweg zur Toilette zu machen. Sie kam zurück, als Lena gerade die Äpfel verstaut hatte.
Lena holte die Kühltasche aus dem Kofferraum. »Kannst du die Decke nehmen? Wir können ein Picknick machen.«
»Gute Idee. Wie weit ist es zum Fluss?« Jess desinfizierte sich ihre Hände, dann nahm sie die große Wolldecke mit einer Hand und schloss das Auto ab.
»Mindestens dreißig Minuten den Hang hinab. Hoch dauert es noch länger.« Würde Jess das schaffen? Lena versuchte, die Frage nicht mitschwingen zu lassen.
Jess schüttelte den Kopf. »Zu weit für mich.«
»Ich kenne einen näheren Platz, an dem wir eine tolle Aussicht auf das Wasser haben.« Lena führte sie zurück zum Obstgarten. »Du hast gesagt, dass die Medikamente wirken. Heißt das, dein Herz hat sich erholt? Du siehst besser aus als vor ein paar Wochen.«
»Danke.« Jess grinste halbherzig. »Besser heißt nicht gut.«
»Entschuldige, ich wollte nicht andeuten, dass du nicht gut aussiehst.« Lena zwinkerte. »Wer hätte gedacht, dass du so eitel bist?«
»Erwischt.« Jess musste lachen. »Willst du bei den Apfelbäumen essen?«
»Lieber hier drüben.« Die Apfelbäume erinnerten sie zu sehr an Jess’ sanfte Kurven unter ihr. Nein, die andere Seite des Obstgartens war viel sicherer.
Sie erreichten den Teil des Gartens, an dem große Kirschbäume an eine Wiese grenzten, die sich nach unten zum Fluss schwang. Lena setzt sich in den Schatten eines alten Baumes, der kaum noch Früchte getragen und abgeworfen hatte. Sie stellte die Kühltasche neben sich, packte sie aber noch nicht aus. »Machst du dir Sorgen?«
»Sorgen?« Jess sah überallhin, nur nicht zu ihr.
Lena wartete. Sie würde nicht nachbohren, wenn Jess nicht reden wollte.
Seufzend zog Jess ein Knie an die Brust und schlang beide Arme darum. »Ja. Über so viele Dinge.«
»Erzählst du es mir?« Lena setzte sich in den Schneidersitz. Ihr Knie streifte Jess’ Hüfte und die Berührung war irgendwie tröstend. Hoffentlich auch für Jess.
»Wenn sich mein Herz nicht erholt, weiß ich um die ganzen schrecklichen Dinge, die passieren können. Und nicht nur theoretisch, aus einem Buch oder dem Internet. Ich habe das auf der Arbeit öfter miterlebt, als ich zählen kann.« Jess fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich will stark und positiv bleiben, für Ella, für Mom, aber es ist so schwer. Ich habe es versucht, aber ich kann meine innere Ärztin nicht einfach abschalten.«
»Du musst jetzt nicht stark sein.« Lena wollte sie instinktiv umarmen, war sich aber nicht sicher, wie willkommen das wäre.
»Doch, muss ich. Ich habe Angst, wenn ich nur ein kleines bisschen nachlasse, dann werden all die Angst und die Wut herausbrechen und ich verliere die Kontrolle.« Jess betrachtete einen Moment lang den Fluss. »Meine Welt ist vor ein paar Monaten eingestürzt und ich habe keine Ahnung, ob ich die Kraft habe, sie wiederaufzubauen.«
»Ich denke, die hast du. Und du hast deine Mutter, die dich unterstützt.« Lena schluckte. »Und mich.« Vor zwei Wochen hätte sie das noch nicht gesagt, aber sie meinte es aufrichtig.
»Danke. Können wir über etwas anderes reden?« Jess ließ ihr Knie los und streckte das Bein aus.
Es lag jetzt direkt neben Lenas. Sie wich nicht zurück. Freunde machten das so, oder? Freunde saßen einfach herum und ließen ihre Beine sich berühren. »Natürlich. An was hast du gedacht?«
»Essen.« Jess deutete auf die Kühltasche und grinste. »Du hast versprochen, mich zu füttern.«
Lena griff den Themenwechsel auf und packte die Tasche aus. Sie holte zwei wiederauffüllbare Wasserflaschen und das Essen heraus. »Welches Sandwich willst du? Ich habe Schweizer Käse mit Apfel-Cranberry-Chutney oder Feta mit Tomaten-Walnuss-Pesto. Die Karotten- und Gurkensticks sind für die Guacamole.« Lena schraubte die Deckel der Glasbehälter auf und wickelte die Sandwiches aus den Bienenwachstüchern.
»Wow. Als du gesagt hast, dass du etwas zu essen mitbringst, habe ich an Müsliriegel oder langweile Stullen gedacht. Ähm … können wir teilen? Ich würde gern beide Aufstriche probieren.«
»Klar.« Lena wartete, bis Jess eine Hälfte genommen hatte, und nahm dann die andere.
Jess stöhnte nach dem ersten Bissen auf und kaute mit geschlossenen Augen. Nachdem sie geschluckt hatte, öffnete Jess die Augen wieder und sah Lena an. »Wow. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie köstlich das ist. Woher hast du das Chutney?«
Das Kompliment brachte sie zum Lächeln. »Danke. Das habe ich selbst gemacht.«
Jess nahm ein paar Karottensticks und bot Lena einen an. »Okay. Ich nehme alles zurück. Du kannst die Karotten haben und ich bekomme die Sandwiches.«
Lächelnd tauchte Lena ihre Karotte in den Avocadodip. »Kann ich dich vielleicht bestechen, indem ich dir ein Glas Chutney verspreche?«
»Hmm …« Jess rieb ihr Kinn und tat so, als ob sie intensiv nachdachte. »Aufgeschobene Belohnung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf stehe.«
»Vielleicht hattest du bislang noch nicht die richtige Motivation.« Ups. Lena biss sich auf die Lippe. Sie hatte nicht absichtlich ihren Tonfall so gesenkt. Es war einfach passiert, bevor sie sich zurückhalten konnte.
Jess hielt den Augenkontakt einige Herzschläge lang, bevor sie den Blick abwandte und sich auf ein Stück Gurke konzentrierte.
Oh, Mist. Lena wollte Jess nicht an der Nase herumführen. Flirten war nicht fair, wenn sie nicht zu mehr bereit war. Sie hatte im Moment weder die Zeit noch die emotionale Stärke für eine Liebesbeziehung. Unangenehme Stille hing zwischen ihnen, während Lena nach einem neutralen Gesprächsthema suchte.
Jess war schneller. Sie rieb ihre Finger über die Bienenwachshülle, dann roch sie daran. »Ist das Wachs? Auf Stoff? Kann man das waschen?«
Lena lehnte sich gegen den Baum und streckte ihre Beine aus. »Ja, du kannst Wasser oder wenn nötig eine milde Seife nehmen. Man kann sie sehr lange wiederverwenden. Ein Freund von mir macht sie und ich habe sie im Tausch für ein paar Marmeladen bekommen.«
»Das ist cool. Du scheinst Freunde für alles zu haben. Wie kommt es, dass sie nie bei dir zu Besuch sind?« Jess neigte ihren Kopf zur Seite und knabberte an einem Stück Karotte.
»Ich habe keine wirklich engen Freunde, mehr einen lockeren Kreis von Gleichgesinnten, die Produkte und Gefallen tauschen. Wenn du lang genug auf dem Wochenmarkt arbeitest, lernst du eine Menge wundervolle Leute kennen. Aber ich habe keine Zeit, mich mit ihnen zu treffen.«
»Und Dating? Hast du Zeit für Rendezvous?« Jess’ Tonfall und Gesichtsausdruck waren neutral, aber ihre Augen leuchteten mit einer Intensität, die Lena gleichzeitig erregte und erschreckte.
Fragte Jess, weil sie mit ihr auf ein Date gehen wollte? Oder war das mehr eine allgemeine Frage, zwischen neuen Freunden? So oder so, die Antwort war dieselbe. »All meinen Jobs lassen mir keine Zeit fürs Dating. Als ich noch jünger war, habe ich versucht, mich unverbindlich mit Frauen zu treffen … so als Freundinnen mit gewissen Vorzügen aber … Ich bin nicht gut darin, es unverbindlich zu halten. Es ist einfacher, gar nicht erst auf Dates zu gehen.«
Jess’ Augen weiteten sich, aber Lena kannte sie nicht gut genug, um zu erraten, was diese Reaktion bedeutete.
Seufzend wählte Lena den einfachen Ausweg und beendete den Blickkontakt. Sie nahm ihre Hälfte des anderen Sandwiches und konzentrierte sich für die nächsten Minuten aufs Kauen.
Nachdem sie aufgegessen hatten, streckte sich Jess neben ihr aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss ihre Augen. Sie gähnte. »Ich bin gar nicht motiviert, als Nächstes Brombeeren zu sammeln. Du hast auch nie Brombeeren erwähnt, als du mich gefragt hast, ob ich dich fahre.« Ein leichtes Lächeln um ihre Lippen strafte den grimmigen Tonfall Lügen.
»Ich habe dich gefragt?« Lena pflückte einen Grashalm und kitzelte Jess an der Nase. »Ich erinnere mich an eine komplett andere Unterhaltung. Du hast mich geradezu angefleht, dich fahren zu lassen.«
Jess rieb über ihre Nase und öffnete die Augen. Als sie den Grashalm sah, fing sie ihn mit einer Hand. »Hey, ich bin alt und krank und brauche meine Ruhe.« Sie schloss die Augen wieder.
Lena musterte Jess’ Gesicht. Wie ernst war es ihr damit? Die feinen Fältchen um ihre Augen zeigten den Altersunterschied zu Lena, aber die allgegenwärtigen Augenschatten während der ersten Wochen ihrer Bekanntschaft waren verschwunden. Jess’ ursprüngliche Blässe hatte sich in einen leicht goldenen Teint verwandelt, der viel gesünder als noch letzte Woche aussah. Während ihrer täglichen Tai-Chi-Stunde und den Abendspaziergängen war sie nicht mehr außer Atem geraten. Trotzdem war es nicht an Lena, zu beurteilen, wie sie sich fühlte. Wenn du etwas wissen willst, stelle eine Frage. Oder fünf.
Das Motto ihrer Großmutter hatte sich immer als hilfreich erwiesen.
»Wie fühlst du dich wirklich? Willst du das aussitzen? Ich schaffe den Rest auch allein. Das hätte ich ja auch getan, wenn mein Auto nicht kaputtgegangen wäre.« Lena musste lächeln, als Jess ihre Augen aufriss.
»Nein, das war nur ein Scherz.« Jess setzte sich auf und schnippte den Grashalm weg. »Lass uns zusammenpacken und ich verspreche, so lange zu arbeiten, bis alle Brombeeren gepflückt sind.«
»Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.« Lachend verstaute Lena die Hüllen und das fast leere Guacamole-Glas in der Kühltasche und stand auf. »Aber ernsthaft, vielen Dank. Brombeeren sind der wichtigste Teil unseres Ausfluges. Ohne sie kann ich morgen keine Marmeladen kochen und habe nichts zu verkaufen.«
»Gern geschehen. Ich pflücke gerne Brombeeren.« Jess schüttelte die Decke aus und faltete sie sorgsam über ihren Arm. »Solange ich ein paar davon naschen darf.«
Am Auto tauschten sie die Picknicksachen gegen kleine Eimer, dann führte Lena Jess um das Haus zur Grundstücksgrenze. Die Brombeeren hatten einen langen Zaun überwuchert, der vor einigen Jahren oder eher Jahrzehnten bestimmt noch anständig ausgesehen hatte.
Nur als sie sich näherten, sah die Hecke nicht mehr nach einem gesunden Wuchs aus. Die meisten Blätter waren braun, die Zweige waren leblos grau und an einigen Stellen verschrumpelt und abgebrochen. Von den Brombeeren waren nur verkümmerte Reste geblieben, hart und trocken, nicht vergleichbar mit den großen, saftigen Beeren vom letzten Jahr.
Lena berührte eines der Blätter und es zerfiel zu Staub wie ihre Pläne. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte fluchen, weinen, den Eimer in das verdammte Gestrüpp schleudern. Sie umklammerte den Henkel fester, um den Impuls zu unterdrücken.
Atme! Konzentrier dich auf die positive Seite.
Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht den kleinsten Sonnenstrahl in diesem finsteren Sturm, zu dem ihr Leben geworden war, erkennen.
»Was zum Teufel?« In einem Anfall, der keinen überraschte, zeigte Jess keine Zurückhaltung und trat gegen die Zweige. »Hey! Irgendein Idiot hat die Wurzeln abgeschnitten.«
»Oh. Das müssen die Nachbarn gemacht haben.« Vielleicht war das die positive Seite. Jemand bekam seinen Zaun zurück. Es war aber nicht so einfach, sich für sie zu freuen, wenn sich unbezahlte Rechnungen stapelten.Ohne Brombeeren würde sie ihre Vorräte nicht wieder auffüllen können, bevor sie ausverkauft waren.
»Gibt es hier eine andere Stelle, wo wir welche finden können?« Jess strich sich Dreck und getrocknete Blätter von ihrer Jeans.
»Nein, das ist alles Privatgelände. Lass uns nach Hause fahren und ich denke mir etwas aus. Mache ein paar Anrufe.« Aber sie bewegte sich nicht. Sie konnte nicht.
Jess hörte auf, den Fleck über ihrem Knie zu reiben, und kam zu Lena. Ihre Augen spiegelten den azurblauen Himmel wider und strahlten wärmer als sonst. Zögernd legte sie einen Arm um Lenas Schultern, als ob sie Widerstand erwartete. »Wir finden dir Brombeeren. Die wachsen wie Unkraut. Der ganze Bundesstaat muss voll davon sein.«
Lena lehnte sich gegen Jess und erlaubte sich, ihre Stärke zu genießen. Sie brauchte Jess’ Unterstützung nicht. Schon als Teenager hatte sie gelernt, sich auf sich selbst und ihren eigenen Einfallsreichtum zu verlassen. Aber es fühlte sich so gut an. Für einen Moment wollte sie in dem Gefühl schwelgen, jemanden an ihrer Seite zu haben.
Gerade als Lake Washington überguerten, klingelte Jess’ Telefon über den Lautsprecher ihres Autos. Lena hatte nicht gesehen, wie sie das Handy angeschlossen hatte, aber vermutlich hatte so ein schickes Auto Bluetooth.
Jess hielt ihren Blick sicher auf die Straße gerichtet, als sie einen Knopf am Lenkrad drückte, um den Anruf anzunehmen. »Riley.«
»Hi, hier ist Diana. Tut mir leid, dass ich störe, während du krankgeschrieben bist. Ich habe gerade eine Patientin gesehen, die eine Notiz in ihrer Akte hatte, dass du informiert werden willst, wenn sie aufgenommen wird.« Dianas Stimme klang anders als bei ihrem letzten Treffen im Cashew Cult, ernsthafter, professioneller.
Lena blickte aus dem Seitenfenster, um Jess die Illusion von Privatsphäre zu vermitteln. Graue Wolken bedeckten die Sonne, aber es schien auf dem See die Leute mit den Booten nicht davon abzuhalten, den Nachmittag zu genießen.
»Das ist in Ordnung. Wer ist es?«
»Alberta Jameson.«
»Oh.«
In dieser einen Silbe schwangen so viele Emotionen mit, dass Lena Jess ansehen musste. Sie war blass geworden und ihre rechte Hand umklammerte das Lenkrad mit weißen Knöcheln.
»Sie ist vierundachtzig Jahre alt, hat in der Vorgeschichte eine dilatative Herzinsuffizienz bei hochgradiger Aortenstenose und –«
»Ich weiß.« Jess unterbrach sie mit einer ungeduldigen Geste, als sprächen sie von Angesicht zu Angesicht miteinander. »Warum ist Mrs. Jameson in der Notaufnahme?«
»Sie bekam im Supermarkt keine Luft, ist kollabiert und die haben einen Krankenwagen gerufen. Sie ist …« Diana seufzte. »Ihre Herzinsuffizienz ist dekompensiert und sie hat ein Lungenödem. Sie verweigert eine Intubation oder Intensivtherapie. Es geht ihr ein wenig besser mit Morphin und Diuretika, aber ich habe ihre Tochter schon angerufen, damit sie vorbeikommt. Ich bin nicht sehr optimistisch.«
»Ihre Tochter lebt in Portland. Das wird Stunden dauern. Ich komme.« Ein Muskel in Jess’ Wange zuckte.
»Brauchst du nicht. Ich habe alles unter Kontrolle. Ich wollte dich nur informieren.«
»Deswegen komme ich nicht. Ich bin nicht weit weg − vielleicht zehn, fünfzehn Minuten.« Sie sah über ihre Schulter, beschleunigte und wechselte die Fahrbahn.
»Okay. Bis gleich.« Diana legte auf.
Statik knisterte ein paar Sekunden lang im Lautsprecher, bis das Bluetooth bemerkte, dass nichts mehr kam.
»Geht es dir gut?« Lena hatte keine Ahnung, wer Mrs. Jameson war, aber offensichtlich bedeutete sie Jess viel.
Jess hielt ihren Blick auf die Straße gerichtet. Ihre Zähne knirschten, aber sie sagte nichts. Sie fuhr schneller und schneller.
»Jess?«
Siebzig Meilen. Fünfundsiebzig. Lena umklammerte den Türgriff. Ein Schild für einen Park-and-ride-Parkplatz erschien wie eine Oase. »Jess, fahr hier runter vom Highway. Jetzt!«
Das schien ihre Starre zu durchbrechen. »Was? Nein. Ich habe keine Zeit, anzuhalten.«
»Wir halten nicht lange an. Nur, um die Plätze zu tauschen. Ich fahre.« Lena legte all die Autorität, die sie nicht empfand, in ihre Stimme. »Denk an Ella.«
Das schien zu wirken. Jess ging vom Gas, bis sie eine vernünftige Geschwindigkeit erreicht hatte. Sie blinkte und bog vom Highway ab. Bei der ersten Gelegenheit hielt sie an, sprang auf und hastete ums Auto.
Lena traf sie auf halber Strecke. »Danke, dass du mich fahren lässt.«
»Bitte beeil dich.« Jess nickte kurz, dann presste sie ihre Lippen zusammen.
Der SUV fuhr sich gut, mit deutlich mehr Pferdestärken unter der Haube als Lenas alter Ford oder Maggies süßer Prius. Lena erinnerte sich an die allgemeine Richtung, in der das Krankenhaus lag, aber sie wollte sichergehen, dass sie die beste Route wählte. »Sagst du mir, wo ich vom Highway abfahren soll?«
»Ja. Ich habe einen Mitarbeiterparkplatz, wir müssen nicht auch noch einen freien Parkplatz suchen.« Jess sprach abgehackt.
Lena wagte es nicht, sie anzusehen, da sie sich aufs Fahren konzentrierte. »Willst du mir von Mrs. Jameson erzählen?«
»Sie ist die inoffizielle Assistentin, gute Seele und Kekslieferantin der offenen Praxis. Alle Mitarbeiter und die Patienten lieben sie. Sie hat so eine spezielle Art, jeden zu beruhigen.«
»Sie klingt wie ein wunderbarer Mensch.« Lena nahm die Abfahrt auf die I-5 nach Norden. »Kennst du sie schon lange?«
»Ungefähr drei Jahre. Sie war meine erste Patientin in der offenen Praxis und ich war vielleicht ein ganz klein wenig nervös.« Jess lachte leise. »Es war auch ihr erstes Mal und wir hatten gleich etwas gemeinsam. Danach hat sie immer darauf bestanden, vorbeizukommen, wenn ich da bin.« Jess schlug mit der Faust auf ihren Oberschenkel. »Fuck!«
»Was?« Lena wollte Jess mit ihren Fragen ablenken und sie nicht noch mehr aus der Fassung bringen.
»Ich war seit Wochen nicht mehr in der Praxis. Es ging ihr so gut, als ich sie das letzte Mal vor zwei Monaten sah. Was, wenn sie zu keinem anderen gegangen ist und darauf gewartet hat, bis ich wiederkomme?« Jess stöhnte. »Es ist meine Schuld.«
»Das kannst du nicht wissen.« Lena riskierte es, eine Hand vom Lenkrad zu nehmen, um kurz Jess’ Bein zu drücken. Die Muskeln waren gespannt wie Stahlseile. »Von dem, was du mir über sie erzählt hast, klingt es so, als ob sie zu allen in der Praxis eine gute Beziehung hat. Denkst du nicht, jemand würde es bemerken, wenn es ihr nicht gut ginge?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht.« Jess klang nicht sehr überzeugt.
»Was ist diese offene Praxis überhaupt? Gehört das zu deiner Arbeit im Krankenhaus?« Lena wollte Jess weiterreden lassen.
»Nein, das hat gar nichts mit dem Krankenhaus zu tun. Die offene Praxis ist für Leute, die weder eine Versicherung noch irgendwelche anderen Mittel haben, aber regelmäßig Behandlungen brauchen. Es wird alles angeboten, was du für die Grundversorgung brauchst. Termine bei Ärzten, Pflegekräfte, die Hausbesuche machen, Physiotherapie. Ein paar Leute aus meinem Krankenhaus sind auch dabei, aber die meisten arbeiten irgendwo anders. Und wir haben einige, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen berentet sind, besonders ehemalige Militärangehörige. Sie könnten nirgendwo Vollzeit arbeiten, helfen aber ein paar Stunden in der Praxis aus, wann immer sie dazu in der Lage sind.«
Lena hätte Jess niemals in so einer Umgebung erwartet, aber vielleicht hatte sie sie unterschätzt. »Wie oft gehst du hin?«
»Das kommt auf meinen Zeitplan an. Ein- oder zweimal im Monat.« Jess wies auf ein Schild. »Nimm die nächste Ausfahrt. Wir sind schon fast am Krankenhaus.«
Die Mitarbeitergarage war am späten Sonntagnachmittag überwiegend leer. Trotzdem seufzte Lena vor Erleichterung, nachdem sie das überdimensionierte Auto sicher in Jess’ Parklücke rangiert hatte.
Sobald die Räder stillstanden, sprang Jess aus dem Wagen und ging zum Ausgang. An der Stahltür wartete sie auf Lena und wippte dabei auf ihren Zehen vor und zurück. Wortlos hielt Jess die Tür auf, überholte Lena, nachdem sie durchgegangen war, und führte sie zum Hintereingang, den sie mit einer Karte aus ihrem Portemonnaie öffnete.
Hinter der unbeschrifteten Tür landeten sie direkt in der Notaufnahme mit ihrem unverwechselbaren Desinfektionsmittelgeruch und dem Hintergrundgemurmel aus Alarmtönen und Stimmengewirr.
Jess hielt erst an, als sie eine Theke erreichten, an der zwei Frauen in blauer OP-Kleidung standen. »Mrs. Jameson. Welches Zimmer?«
Falls die beiden überrascht waren, Jess in schmutziger Jeans und T-Shirt zu sehen, zeigten sie es nicht. Die ältere schaute im Computer nach. »Zimmer fünf, Dr. Riley.«
»Danke.« Jess hastete weiter in die Abteilung, vorbei an einem Bereich mit durch Vorhänge abgeteilten Untersuchungsnischen, bis sie einen ruhigeren Seitenkorridor erreichten.
Lena versuchte, nicht nach links und rechts zu schauen. Sie war nicht empfindlich, was ihr eigenes Blut anbelangte, aber sie wollte lieber nicht wissen, was hinter den Vorhängen lauerte.
Als sie eine weitere Ecke umrundeten, stieß Jess fast mit Diana zusammen.
In blauer OP-Kleidung und mit zusammengebundenem Haar sah sie älter und seriöser aus als im Café. »Hey, Jess. Lena. Schön, euch zu sehen.« Sie lächelte beide an.
»Wie geht es ihr?« Jess’ Grimasse war vermutlich ihr Versuch, zurückzulächeln.
»Viel besser. Die Diuretika wirken.« Diana zuckte mit den Schultern. »Vielleicht habe ich dich zu früh angerufen.«
»Nein, auf gar keinen Fall. Aortenstenosen sind so. Ich gehe und schau nach ihr.« Jess wischte beide Hände an ihrer Jeans ab. Dann sah sie an sich hinunter, als würde sie erst jetzt bemerken, wie sie gekleidet war.
»Sie ist in Zimmer fünf. Vielleicht kannst du sie überzeugen, dass sie über Nacht bleibt.«
Jess nickte. »Ich versuche es. Sie ist allerdings ziemlich unabhängig.«
»Das ist noch untertrieben.« Lachend schüttelte Diana ihren Kopf. »Ich hoffe, dass ich so gut drauf bin, wenn ich über achtzig bin.« Die Bewunderung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ruf mich, wenn du irgendetwas brauchst. Oder willst, dass Untersuchungen laufen.«
»Mach ich. Danke.« Jess wandte sich an Lena. Ihr Blick schweifte über Lenas Gesicht wie Wolken über den Himmel. Die ängstliche Sorge, die Jess im Auto gezeigt hatte, war abgeklungen, so als ob sie langsam die Kontrolle über ihre Gefühle zurückgewann. »Willst du in der Cafeteria warten? Oder nach Hause fahren?«
Ihre Mimik war schwer zu deuten und Lena hatte keine Ahnung, was Jess lieber war. »Wenn es für dich okay ist, komme ich mit.« Und wenn sie ehrlich war, war sie neugierig darauf, wie Jess mit Mrs. Jameson interagierte.
Jess nickte und schritt in Richtung des Krankenzimmers. Sie murmelte etwas, das vielleicht »Danke« hieß, aber Lena war sich nicht sicher.
Zimmer fünf war winzig und bot kaum Platz für eine Untersuchungsliege, einen Schreibtisch und zwei Rollhocker. Die Tischlampe tauchte den Raum in ein warmes, goldenes Licht.
Die Frau unter der Bettdecke wirkte zerbrechlich und trotz einer Sauerstoffmaske über Mund und Nase hatte sie einen eher gräulichen Teint. Aber ihr Lächeln war aufrichtig, als sie ihren Besuch erkannte. »Dr. Jess. Was machen Sie denn hier? Sollten Sie nicht bei Ihrer Kleinen sein?«
»Hallo, Mrs. Jameson.« Jess rollte einen Hocker neben die Liege und setzte sich zu ihr. Ihre Stimme zitterte leicht. »Und sollten Sie nicht zu Hause sein und die Nachbarskinder im Auge behalten, damit sie nicht wieder in Ihrem Vorgarten herumtrampeln?«
»Solange sie meine Blumen in Frieden lassen.« Sie lachte, aber es klang etwas kurzatmig. »Wer ist Ihre liebreizende Begleiterin?«
»Das ist meine Nachbarin und, ähm, Freundin, Lena. Wir waren gerade auf dem Heimweg vom Apfelpflücken, als Dr. Petrell mich angerufen hat.« Jess wies auf die Grasflecken auf ihrer Jeans.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Jameson.« Lena trat näher und gab ihr die Hand.
Der Griff der älteren Dame war ganz und gar nicht zerbrechlich. »Setzen Sie sich, meine Liebe. Eine Freundin von Dr. Jess ist auch meine Freundin.«
Lena platzierte den zweiten Hocker neben Jess und musterte sie aus dem Augenwinkel.
Jess’ Haltung war deutlich entspannter als im Auto, aber die Sorgenfalten waren immer noch sichtbar, als sie den Monitor über dem Bett studierte.
Eine grüne EKG-Linie war alles, was Lena erkannte, aber vermutlich ergaben die anderen bunten Zahlen mehr Sinn für Jess.
»Mrs. Jameson, Dr. Petrell hat mir gesagt, dass Sie heute noch nach Hause gehen wollen.«
»Ich schlafe sicherlich viel besser im eigenen Bett.«
»Zu Hause ist es immer am schönsten.« Jess neigte ihren Kopf zur Seite. »Aber vielleicht, nur für eine Nacht, schlafen Sie besser mit Sauerstoff. Und wäre es nicht nett, die Unterstützung von der Krankenpflege zu haben, wenn Sie nachts aufstehen müssen?«
»Pah, Sie sind so schlimm wie alle Ärzte! Immer wollen Sie die Leute ins Krankenhaus sperren.« Mrs. Jameson schüttelte ihren Kopf, aber ihre Stimme klang nicht wirklich überzeugt.
»Wie wäre es, wenn Sie mir einen Gefallen tun und eine Nacht bleiben, und morgen komme ich wieder und entlasse Sie persönlich, wenn Sie darauf bestehen.« Jess streckte ihre Hand aus. »Einverstanden?«
»Na gut. Aber nur, wenn Sie mir noch ein paar Bilder von Ihrer Kleinen in die Waage werfen. Sie heißt Ella, oder?«
Jess lachte. »Ja, Ella.«
Mrs. Jameson schüttelte Jess’ Hand, ließ sie danach aber nicht los und legte sie neben sich aufs Bett. »Erzählen Sie mir von ihr. Hält sie Sie die ganze Nacht wach? Ich habe ihr ein paar Mützen und Socken gestrickt, habe sie aber natürlich nicht bei mir.«
Die letzte Spur von Anspannung verschwand aus Jess’ Schultern, als sie die Hand der älteren Dame hielt und ihr von dem Tag erzählte, an dem Ella beschlossen hatte, nach jeder Mahlzeit die Hälfte des Essens über Jess’ Oberteil zu spucken. Am Ende des Tages war ihr die saubere Kleidung ausgegangen.
In dem gemütlich beleuchteten Raum, mit Jess’ beruhigender Stimme, vergaß Lena fast, dass sie in einem Krankenhaus waren.