Kapitel 13
Zum ersten Mal seit langer Zeit wachte Jess voller Tatendrang vor dem Wecker auf. Als die Morgendämmerung die Schatten in ihrem Schlafzimmer in erkennbare Formen verwandelte, erlaubte sie es sich, aufzustehen. Eine solche Vorfreude auf den Tag hatte sie seit Jahren nicht mehr gespürt. Früher hatte sie sich auf die Arbeit gefreut, aber sogar schon vor ihrer Schwangerschaft hatte die Leidenschaft deutlich abgenommen. Sie hatte gehofft, eine Familie zu gründen, würde ihr helfen, das Gefühl wiederzuerlangen, aber bis jetzt war der Plan nicht aufgegangen.
Momentaufnahmen des gestrigen Tages spielten in ihrem Kopf in einer Endlosschleife. Sie hatte die Zeit mit Lena mehr genossen, als sie erwartet hatte. Durch das Flirten, die Funken zwischen ihnen und die nicht so zufälligen Berührungen hatte sich ihr gemeinsamer Ausflug fast wie ein Date angefühlt. Aber beide waren gleichermaßen zwei Schritte vorwärts und dann wieder zurück getanzt, sodass Jess nicht einmal mehr sicher war, was sie selbst wirklich wollte.
Und die einzigen Gedanken, die ihre Verwirrung in den Hintergrund drängen konnten, waren ihre Sorgen um Mrs. Jameson und ihre eigene bevorstehende Kontrolluntersuchung.
Diana hatte eine Entwarnung per Textnachricht geschickt. Mrs. Jameson hatte die Nacht gut überstanden und konnte später am Morgen entlassen werden.
Ihre eigene Gesundheit war etwas anderes. Da sie Lena heute nicht zum Café fahren musste, hatte sie im Krankenhaus die Gelegenheit genutzt und den Termin wieder vorverlegt. Sie brauchte nicht noch einen Tag der Ungewissheit. Der gesundheitliche Zustand ihres Herzens hatte sich offensichtlich verbessert, aber würde es reichen, damit sie wieder zur Arbeit gehen konnte? Würde sie den körperlichen und mentalen Stress bewältigen können?
Als Jess im unteren Teil des Gartens ankam, lag er noch verlassen da. Sie war ausnahmsweise früher als Lena auf der Wiese. Für eine kurze Zeit wartete sie, aber als sie keine Bewegung in Lenas Haus wahrnehmen konnte, verneigte sie sich zum Boden, obwohl es albern war, und nahm die meditative Haltung ein. Nach Osten gewandt, die Arme angehoben, als würde sie einen Baum umarmen. Baum. Umarmen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie über diese Beschreibung hinwegkam.
Zunächst rasten noch die Sorgen über ihre Herzinsuffizienz durch ihren Kopf. Anstatt Energie darauf zu verschwenden, sie zu verjagen, versuchte sie etwas Neues. Jess konzentrierte sich auf ihre Atmung, ein und aus, das Vogelgezwitscher, die ersten Sonnenstrahlen, die die Blätter leuchtend grün färbten. Ein und aus. Sie schloss ihre Augen. Ein und aus.
»Wir können die Form heute erweitern, wenn du willst.« Lenas Stimme war ganz nah und sanft.
Jess öffnete ihre Augen und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht. Wann war Lena zu ihr gestoßen? Sie senkte ihre Arme und bemerkte dabei erst, wie schwer sie geworden waren. Sie hatte noch nie die komplette Zeit mit erhobenen Armen ausgehalten. »Klar. Gern. Ähm, hi. Ich habe dich nicht kommen gehört.«
»Ich weiß.« Lena strahlte. »Aber du hattest die perfekte Haltung und du schienst so … fokussiert. Ich wollte dich nicht unterbrechen.«
Fokussiert. Kein schlechtes Wort, um die Mischung aus Ruhe und Energie zu beschreiben, die irgendwo in ihrem Inneren schwelte. Vielleicht war doch etwas an diesem Finde-deine-Mitte-Zeugs dran. »Ich könnte etwas davon heute gebrauchen.«
Lena sah sie einen Moment schweigend an, dann nickte sie. »Lass uns die neuen Teile der Form üben.« Sie nahm die Position ein, mit der die letzte Bewegung geendet hatte, die Jess gelernt hatte. »Ich zeige dir einmal im normalen Tempo, wie es aussehen soll, dann machen wir es Bewegung für Bewegung.« Jess staunte, als Lenas Arme und Beine in einem komplizierten Halbkreis von rechts nach links flossen und dann zurück zur Mitte. Nur ein Blinzeln und sie hätte den Großteil verpasst. Das war komplexer als alles, was sie bisher gelernt hatte. Wenn sie das nicht von all den Problemen in ihrem Leben ablenken konnte, dann konnte es gar nichts.
»Folge mir.« Lena fing wieder am Anfang an, diesmal in Zeitlupe. »Und vergiss nicht zu atmen.«
Jess atmete tief ein und ließ ihre Hand Lenas Beispiel folgen, während sie ausatmete. Mit jedem neuen Atemzug setzten sie die Bewegung fort, bis sie die Sequenz beendet hatten.
Lena führte sie ein zweites und ein drittes Mal durch die Übung. Beim vierten Durchlauf schaffte sie es allein und der Erfolg brachte ihre Wangen zum Brennen.
»Super. Jetzt noch mal die gesamte Form von Anfang an und häng den neuen Teil hinten an.« Lena lächelte und veränderte ihre Haltung, sodass sie ihre eigene Form ausführen konnte, die viel länger und komplizierter als Jess’ war.
Nachdem sie fertig waren, durchnässte Schweiß Jess’ Oberteil und ein Ziehen in ihren Muskeln erinnerte sie daran, welche Bewegungen unvertraut gewesen waren. Aber sie war nicht müde oder atemlos. Im Gegenteil; die merkwürdige Energiequelle in ihrer Mitte glühte noch immer und erfüllte sie mit Selbstvertrauen. Wie hatte Lena das genannt? Fokussiert?
Das Energiehoch hielt an, während sie duschte, eine besonders unschöne Windel wechselte und zum Krankenhaus fuhr.
Aber als die automatischen Türen zu ihrer Quasiheimat der letzten Jahre aufgingen, sprang sie der Geruch von Angst an und dämpfte ihre Laune. Sie schleppte sich in die kardiologische Abteilung, um sich mit Wendy, ihrer Lieblingsechokardiographin, zu treffen.
»Guten Morgen, Jess.« Wendy nickte höflich und tippte die Daten in das Ultraschallgerät ein, ohne sich die Mühe zu machen, ihr zu sagen, dass sie sich ausziehen und hinlegen sollte. Die Mittfünfzigerin mit der modernen Kurzhaarfrisur war Jess’ Lieblingskollegin, weil sie nicht ihre Zeit damit verschwendete, Stille mit Small Talk zu füllen.
Als sich Jess auf ihre linke Seite legte, bekam sie eine Gänsehaut, die nichts damit zu tun hatte, dass sie das Papierhemd ignoriert hatte, welches sie ohnehin in einer Minute würde ausziehen müssen. Ihr Herzschlag beschleunigte bei dem Gedanken an die Untersuchung. Scheiße. Das ging gar nicht. Die Bildqualität verschlechterte sich bei einer Tachykardie. Ganz abgesehen davon schickte es die falsche Botschaft, nämlich, dass sie nicht wieder in ihrer alten Form war. Wenn sie nur die Gelassenheit von heute Morgen abfüllen und mit in den Untersuchungsraum bringen könnte. Aber wenn sie jetzt aufstand, um Tai-Chi zu machen, würde Wendy vermutlich ein Psychiatriekonsil anmelden.
Manchmal, wenn ich Stärke oder Ruhe brauche, schließe ich meine Augen und mache die Form in Gedanken. Jess hatte Lenas Aussage als ein merkwürdiges New-Age-Pseudo-Hippie-Ding abgetan. Aber was hatte sie zu verlieren?
Während Wendy die EKG-Elektroden an Jess’ Brust befestigte, um das Bild mit ihrem Herzschlag zu synchronisieren, schloss Jess die Augen und atmete tief ein. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Hände vor dem Körper hob, und drückte sie mit der Ausatmung nach unten. Ein und aus. Dann in einem Bogen von links nach rechts, gefolgt von ihrem linken Bein. Ein und aus. Mit jedem Atemzug führte sie sich selbst durch die kurze Form, die sie bisher gelernt hatte.
»Bereit?« Als Wendys Stimme sie aus ihrer mentalen Übung riss, richtete Jess ihren Blick auf den Monitor, der ihre Herzfrequenz anzeigte.
Achtundsechzig Schläge in der Minute. Normal. Puh. »Ich bin bereit.«
»Hey, Jess.« Die Begrüßung stoppte Jess, gerade als sie das Krankenhaus verlassen wollte.
Sie trat zurück, um die automatische Tür am Öffnen zu hindern. Dr. Rockerbraut. Jess lächelte. »Hi, Diana. Schön, dich zu sehen.«
»Dich auch. Du siehst großartig aus.« Diana nickte in die Richtung der Kardiologieabteilung. »Hast du Mrs. Jameson besucht?«
»Ja. Danke für die Updates. Ihre Tochter fährt sie jetzt nach Hause.«
»Das ist nett, dass du heute Morgen noch mal vorbeikommst.«
»Ich habe es versprochen.« Jess hätte es dabei belassen können und Diana würde sicherlich zum nächsten Thema wechseln. Jess hatte nie persönliche Details auf der Arbeit geteilt. Allerdings entwickelte sich Diana langsam zur Freundin. »Eigentlich war ich nicht nur zu Besuch hier. Ich hatte meine Kontrolluntersuchung und alles ist besser geworden. Meine Herzfunktion ist wieder im Normbereich.«
»Wow. Herzlichen Glückwunsch. Bedeutet das, dass du bald wieder zurück zur Arbeit kommst?« Diana umarmte sie.
Es war vorüber, bevor Jess entscheiden konnte, ob sie Freundschaftsbekundungen in der Eingangshalle mochte oder nicht. »Ja. Ich hatte ein Gespräch mit meinem Chef und wir haben uns geeinigt, auf Nummer sicher zu gehen und mir noch zwei Wochen zur Erholung zu geben. Aber dann komme ich zurück, um die Assistenzärzte zu quälen.«
»Ich freue mich schon darauf.« Diana grinste und zeigte auf Jess’ Wange. »Und mit wem hast du dich in der Zwischenzeit angelegt?«
Jess hob ihre Hand, um über den feinen Kratzer zu streichen, den sie heute Morgen im Spiegel entdeckt hatte. Das musste gestern beim Sturz passiert sein. Hitze schoss ihr ins Gesicht, als sie an Lena in ihren Armen dachte. »Als wir gestern hierherkamen, waren wir auf dem Nachhauseweg. Ich, ähm, ich habe Äpfel gepflückt, mit Lena … um Marmelade zu machen. Lena wollte eine neue Fuhre zum Verkauf kochen. Sie bietet sie auf dem Wochenmarkt an. Es fehlen nur noch Brombeeren. Die, die wir gefunden haben, waren braun und ausgedörrt. Sie war verzweifelt, weil sie nun umplanen und einen anderen guten Platz zum Brombeerensammeln finden muss.« Holla. Warum plapperte sie plötzlich ohne Sinn und Verstand? Das war noch niemals ihre Art gewesen. Vielleicht hatte das gute Untersuchungsergebnis ihren Verstand benebelt.
Dianas Augenbrauen waren langsam in die Höhe gewandert und jetzt zuckten ihre Mundwinkel. »Also, ihr habt Äpfel gepflückt, aber jetzt braucht Lena Brombeeren, um Marmelade zu kochen?«
Genau das hätte sie sagen sollen. »Im Prinzip ja.«
Diana grinste. »Ich habe die perfekte Lösung. Emily hat ein Strandhaus geerbt und wir haben diesen Sommer viel mehr Beeren, als wir jemals essen können. Es wäre eine Schande, wenn die ungenutzt blieben. Ihr könntet sogar einen Wochenendurlaub draus machen. Bleibt ein, zwei Nächte.«
Jess konnte sich das nicht vorstellen. Sie würde natürlich Ella mitnehmen müssen, mit ihren ganzen Sachen und dem Essen. Eine gemütliche Hütte mit Lena teilen? Ihr Mund war trocken und sie musste zweimal Schlucken, bevor sie ein Wort herausbekam. »Über Nacht?«
»Ja, es ist ein tolles Haus mit zwei Schlafzimmern. Wir kommen im nächsten Monat wegen unseres Dienstplans nicht hier weg, du kannst also einfach den Schlüssel nehmen und fahren, wann immer es euch passt.«
Oh, zwei Schlafzimmer. Jess wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. »Danke, aber … Ich weiß nicht.« Ein Ausflug zum Strand klang irgendwie gut. Sie war zwar seit über zwei Monaten nicht mehr auf der Arbeit gewesen, aber diese Zeit war mit einem Urlaub nicht vergleichbar, auch wenn der Garten ihrer Mutter wunderbar war. Dieser Tapetenwechsel klang wie der perfekte Wochenendausflug. »Vielleicht.«
»Lass uns von Emily den Schlüssel holen und du kannst dich später entscheiden.« Diana ging schnell in Richtung des Büros ihrer Partnerin, die die leitende Fachärztin der Notaufnahme war.
Jess folgte ihr, froh, dass Diana den Weg durch den Seiteneingang gewählt hatte. Sie war nicht in Stimmung für neugierige Blicke der Mitarbeiter.
Nachdem sie geklopft hatte, wartete Diana nur einen Bruchteil einer Sekunde, bevor sie die Tür öffnete. Emily Barnes saß kerzengrade hinter ihrem Schreibtisch und sah mit einem strengen Blick auf. Als sie Diana sah, wurde ihr Gesichtsausdruck ganz weich.
Jess schüttelte den Kopf angesichts der Verwandlung ihrer normalerweise unterkühlten Kollegin. Wie diese beiden ihre Beziehung auch nur für eine Minute geheim gehalten hatten, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. »Dr. Barnes.«
Dr. Barnes’ Augen weiteten sich, als sie begriff, dass Diana nicht allein gekommen war. Sie räusperte sich. »Dr. Riley. Guten Morgen.«
»Oh, nein.« Diana seufzte. »Das ist ein rein privater Besuch, also solltet ihr beide eure Alphadoktor-Rollen ablegen und euch duzen, wie alle anderen Normalsterblichen.«
Jess hätte mit ihrer Fachärztin nie so gesprochen, als sie noch Assistenzärztin gewesen war, aber schließlich war sie auch nicht so blöd gewesen, sich auf eine Beziehung mit einer Kollegin einzulassen, insbesondere nicht mit jemandem weiter oben in der Hackordnung. Normalerweise war sie dafür, einen gesunden Abstand zu ihren Kollegen zu wahren, da die meisten ihr auf die Nerven gingen. Diana privat zu treffen, war der erste Schritt in eine andere Richtung gewesen. Sollte sie jetzt den nächsten machen? Sie schaute Dr. Barnes an, um ihre Haltung dazu abzuschätzen, und sah die gleiche Mischung aus Verwunderung und Unbehagen, die Jess auch verspürte.
Aber warum nicht? Jess grinste. »Ich würde es nicht Alphadoktor-Rolle nennen, aber okay.« Sie ging zum Schreibtisch und bot ihre Hand an. »Jess.«
»Emily.« Sie stand auf und schüttelte ihre Hand mit einem festen Griff. »Was kann ich für euch tun?«
»Ich habe die perfekte Lösung für unser Brombeerproblem gefunden. Ihre Freundin braucht eine große Menge und ich habe ihnen das Strandhaus fürs Wochenende angeboten.«
Emily blinzelte zweimal und sah ihre Partnerin für einen Moment an, dann nickte sie und lächelte Jess an. »Das ist eine großartige Idee. Ich fände es schade, wenn alles verkommt, und wir finden einfach keinen freien Tag, um selbst hinzufahren.« Sie ging um ihren Schreibtisch herum und öffnete einen Spind, nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und löste einen vom Rest. »Hier ist der Schlüssel. Wir haben Unmengen von Bettwäsche und Handtüchern und nicht verderbliches Essen, Kaffee, Tee, Wein. Nehmt euch einfach, was ihr wollt. Als wir beschlossen haben, das Haus zu behalten, hatten wir immer vor, es mit Freunden zu teilen, aber heutzutage scheint jeder zu viel zu arbeiten. Es ist eine Schande, ein so schönes Haus zu haben, wenn niemand es benutzt.«
Jess grinste und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche. Das war die längste nicht streng auf die Arbeit beschränkte Aussage, die sie je von Emily gehört hatte. Ihr war bei Dianas Vorschlag, Freundschaft zu schließen, offensichtlich genauso unbehaglich zumute wie ihr selbst, aber sie arbeitete daran, das zu überwinden. »Vielen Dank.«
Emily hörte auf, mit den restlichen Schlüsseln zu spielen, und sah auf. »Wirklich gern geschehen.«
»Und wenn du wieder da bist und wir den nächsten Monat überstanden haben, lass uns doch zum Essen treffen oder so was. Du könntest Lena mitbringen.« Während Diana sprach, nahm sie Emilys Hand auf jene selbstverständliche Art, wie das Paare oft ohne bewusste Absicht taten.
Jess war nie eine gefühlsbetonte Person gewesen, aber sie musste zugeben, dass es irgendwie nett aussah. »Ich kann nicht für Lena antworten, aber ich sage es ihr. Ein Abendessen klingt nach einer guten Idee und ich lade euch ein. Als Dankeschön.« Und die Idee, einen Abend mit Lena und einem anderen Paar zu verbringen, klang auch sehr nett. Moment, nicht ein anderes Paar, nur ein Paar.
Sie ging lieber, bevor die beiden sie mit diesen gefühlsduseligen Gedanken ansteckten.