Kapitel 14
»Was machst du hier?« Obwohl die Frage absolut nicht boshaft klang, bohrte Jess’ sanftes Necken heute in die falsche Wunde.
Tränen brannten in Lenas Augen, bevor sie das verhindern konnte. Sie sprang von der Bank zwischen der Garage und dem Haupthaus auf und drückte die Hälfte der Post in Jess’ Hände. »Für deine Mutter.« Dann hastete sie in Richtung des Gartenhauses.
»Hey, Lena.« Jess war innerhalb von Sekunden neben ihr. »Was ist passiert?«
Kopfschüttelnd sah Lena nach unten und ging weiter. »Nichts.«
»Okay.« Jess klang skeptisch, als sie mit ihr Schritt hielt. »Ich wollte dir danken.«
»Wofür?«
»Dein Tai-Chi-Gedankentrick hat mir geholfen, innere Ruhe zu finden, als ich es dringend gebraucht habe.«
»Ich freue mich für dich.« Lenas Versuch zu lächeln scheiterte. »Ich glaube nicht, dass Tai-Chi mir hilft, meine Rechnungen zu zahlen, geschweige denn … Vergiss es.«
»Schlechte Nachrichten? Kann ich helfen?« Jess wies auf die Briefe, die Lena in ihrer Faust umklammerte.
»Ich will dein Geld nicht.« Geld von jemandem zu leihen, um einen Kredit zurückzuzahlen, war ein Teufelskreis. Diese Erfahrung würde Lena nicht wiederholen.
»Vielleicht kann ich dir helfen, eine andere Lösung zu finden. Oder zumindest zuhören, wie du dich darüber aufregst. Du hast dir wahrlich genug von meinen Problemen angehört.« Die Behutsamkeit in Jess’ Stimme kratzte an Lenas Entschlossenheit.
Wie lange war es her, seit sie ihre Probleme mit jemandem geteilt hatte? Sogar als Teenager hatte sie sich meist allein um alles gekümmert. Sie hatte ihrer Großmutter nicht zur Last fallen wollen und ihre Mutter hatte Lenas Leben nicht genug interessiert, um nachzufragen.
»Der eine Brief betrifft einen Kredit. Ich denke, ich bekomme das in den Griff, wenn ich abends ein paar zusätzliche Massagetermine annehme.«
»Mehr Termine? Verdienst du nicht genug mit all den Doppelschichten im Café?«
Lena hielt die Briefe hoch. Beide waren zerknittert und ihr Versuch, sie zu glätten, blieb erfolglos. »Offensichtlich nicht. Mit Mindestlohn dauert es eine Ewigkeit, irgendetwas abzuzahlen.«
»Oh. Daran hatte ich nicht gedacht.«
»Ich vermute, du musstest auch noch nie für Mindestlohn arbeiten.«
»Nein, da hast du recht. Es tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun. Du hattest den Verstand und die Gelegenheit und hast dir die richtige Ausbildung ausgesucht. Ich habe, statt aufs College zu gehen, meine Versager-Mutter unterstützt und jetzt schreibt sie mir aus dem Gefängnis und verlangt noch mehr Geld.« Oh, Scheiße.
Hatte sie das wirklich gerade laut gesagt? So wie ihre Kehle brannte, musste sie es geschrien haben. Mist, Mist, Mist.
»Gefängnis?« Jess flüsterte das Wort, als wäre es ein schmutziges Geheimnis.
Ja, sie hatte es gesagt. Lena straffte ihre Schultern und erwiderte Jess’ Blick. Wenn sie sich Jess’ Verachtung stellen musste, würde sie ihr dabei in die Augen sehen. »Ja. Meine Mutter ist wegen Diebstahls und mehrfachen Betrugs verurteilt worden.«
»Das tut mir so leid. Das muss schwer für dich sein.« Jess drückte sanft ihren Arm.
Ihre Hand rührte sich nicht und Lena sog die Wärme auf wie eine Erfrierende, die vom Schneesturm ins Haus gestolpert war.
Lena wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war auf Verachtung vorbereitet gewesen, auf Ablehnung, darauf, aus dem neuen Leben, das sie sich aufgebaut hatte, ausgestoßen zu werden. Aber nicht auf das Mitgefühl, das in Jess’ Augen aufleuchtete. Sie nickte und Tränen schossen wieder hoch. Noch nie hatte jemand anerkannt, dass der Gefängnisaufenthalt ihrer Mutter auch für sie schwer war.
Bevor Lena irgendetwas erklären konnte, nahm Jess sie in die Arme.
Lena atmete den schwachen Duft von Babylotion ein, der an Jess’ Hemd hing, während ihre starken Arme sie in einem tröstenden Kokon umschlossen.
Sie konnte sich nicht länger beherrschen. Und sie wusste nicht einmal, ob sie das überhaupt wollte. Tränen strömten über ihre Wangen und ein Schluchzen stieg tief aus ihrem Inneren auf.
»Es ist okay.« Jess umarmte sie fester. »Lass es raus.«
Und das tat sie. Als ob ein Damm barst, konnte sie ihren Schmerz nicht länger unterdrücken. Sie schluchzte, bis alles weggespült war. Der einzige Grund, warum sie von der Flut nicht mitgerissen wurde, war Jess. Ihre beruhigende Ausstrahlung war wie ein Anker und selbst wenn Lena sich verlor, würde Jess ihr folgen und sie finden.
Eine Ewigkeit später waren ihre Tränen versiegt und sie nahm langsam wieder ihre Umgebung wahr. Sie hatte Jess’ Hemd durchnässt. Und es zerknittert. »Es tut mir leid.« Sie versuchte, die Falten mit ihrer Hand zu glätten.
Jess stoppte ihre vergeblichen Bemühungen und hielt Lenas Hand gegen die Stelle gepresst, die sie gerieben hatte. Unter Jess’ rechter Schulter. An ihrem Brustansatz.
Oh. Lena hatte ihre Brust gerieben.
Blut schoss ihr in die Wangen und die Verlegenheit, die sie nach dem Zusammenbruch empfand, vertausendfachte sich.
»Es tut mir leid.« Lena wiederholte sich, aber es war immer noch nicht genug.
»Hey, muss es nicht. Ich bin froh, dass ich für dich da sein konnte, obwohl ich dir nur eine Schulter leihen konnte.« Jess drückte ihre Hand, bevor sie sie losließ. »Willst du über irgendetwas davon reden? Den Kredit? Deine Mutter?«
Da Lena ihrer Stimme nicht traute, schüttelte sie den Kopf. Sie zog ihre Hand zurück und trennte widerwillig ihre Verbindung zu Jess.
»Aber, bitte, sag mir, wenn ich irgendetwas für dich tun kann.« Jess suchte ihren Blick. Das strahlende Blau enthielt keine Spur von Verachtung oder Abweisung.
Diesmal zwang Lena sich zu sprechen. »Vielen Dank. Wirklich. Aber ich muss das allein schaffen.«
»Okay. Aber wann auch immer du darüber sprechen willst, ich bin für dich da.« Ein Grinsen brach durch Jess’ Sorgenfalten wie die ersten Farbtupfer am Morgenhimmel nach einer dunklen Nacht. »Willst du gute Nachrichten hören?«
»Oh, ja. Deine Kontrolluntersuchung! Geht es deinem Herz besser? Und wie geht es Mrs. Jameson?« Als ob es ansteckend wäre, musste Lena jetzt auch grinsen.
»Mrs. Jameson geht es gut. Zumindest im Moment. Und ja, mein Herz hat sich deutlich gebessert, aber das meinte ich nicht. Ich habe Diana im Krankenhaus getroffen und sie hat mir gesagt, dass sie und ihre Freundin ein Ferienhaus haben und Brombeeren dort alles überwuchern und sie jemanden brauchen, der sie pflückt. Wir können jederzeit hinfahren.« Jess strahlte stolz.
»Oh.« Nicht nur eine, sondern drei gute Nachrichten. Sogar großartige. »Danke.« Vielleicht arbeitete das Universum immer noch am Gleichgewicht und am Ende würde sich alles ausbalancieren.
»Darf ich mich kurz zu dir setzen?« Maggie trug ein Tablett mit zwei Gläsern und einem Krug Tee mit großen Eiswürfeln und frischen Minzblättern.
Lena sammelte hastig die Stifte ein, die den größten Teil des kleinen Holztisches eingenommen hatten. »Bitte. Es ist dein Garten.«
»Ich wollte dich beim Zeichnen nicht unterbrechen, aber du sahst aus, als könntest du eine Erfrischung gebrauchen.« Maggie stellte das Tablett mit einem Seufzer ab und goss ihnen jeweils ein Glas ein. Dann setzte sie sich hin, nahm den riesigen Strohhut, den sie immer im Garten trug, ab und wedelte sich damit Luft zu.
Der leichte Lufthauch war willkommen, obwohl er Lenas Seite kaum erreichte. Wann war es so heiß geworden? Zumindest bot der Walnussbaum noch ausreichend Schatten für den Tisch und die beiden Stühle.
»Danke. Das sieht perfekt aus.« Das hohe Glas war kühl und Lena hielt es gegen ihre Wange, bevor sie einen Schluck nahm. »Ah, das ist köstlich. Und du hast nichts Wichtiges unterbrochen. Ich hatte nur unerwartet etwas Zeit zur Verfügung. Das Café hat meine Schicht abgesagt.« Sie seufzte. »Sie haben etwas im Plan durcheinandergebracht und brauchen mich heute nicht.«
»Schon wieder?« Maggie runzelte die Stirn. »Das klingt nicht fair. Bezahlen sie dich wenigstens? Du hast dir den Tag für sie frei gehalten.«
»Zahlen? Warum sollten sie?« Lena lachte. Was für eine Idee. »Und auch wenn sie das wollten, können sie es nicht. Sie schreiben so schon kaum schwarze Zahlen.« Sie vermutete, dass es auch kein Problem mit dem Dienstplan gegeben hatte, sondern dass einer der Besitzer beschlossen hatte, die Schicht selbst zu übernehmen, oder jemanden gefunden hatte, der für noch weniger Geld arbeitete als sie. »Ich denke, dass ich mich demnächst nach einem anderen Job umsehen muss.«
»Oh!« Maggie grinste und klatschte ihre Hände zusammen. »Das ist wunderbar.«
»Wunderbar?« Sie konnte nichts Wunderbares in dieser Situation sehen, außer dass sie heute den Vormittag frei hatte. Sie würde wirklich lieber daran arbeiten, ihre Schulden zu reduzieren.
»Natürlich tut es mir leid, dass sie dich im Café so behandeln. Aber ich muss gestehen, dass ich abgesehen vom Tee noch ein weiteres Motiv dafür hatte, mich zu dir zu setzen. Ich habe von meinem Verlag gehört und sie geben mir grünes Licht für mein nächstes Buch: Gartengeschichte im Pazifischen Nordwesten der USA
.« Ein stolzes Lächeln erschien auf Maggies Gesicht. »Sie haben mir bereits einen Vorschuss gezahlt.«
»Herzlichen Glückwunsch.« Lena lächelte mit ihr. Sie verstand nicht, was das mit ihren Problemen zu tun hatte, aber sie freute sich für Maggie. »Was sollen wir zur Feier des Tages machen? Soll ich dir einen Kuchen backen?«
»O nein. Es ist viel zu warm zum Backen. Aber ich habe ein Angebot für dich.«
Angebot? Lena lächelte angesichts der Wortwahl. Maggie brauchte vermutlich Hilfe beim Tragen eines schweren Sacks Mulch oder ein paar dekorativer Steine. Sie nahm einen letzten Schluck Tee, dann sortierte sie ihre Zeichenutensilien in die weiche Lederrolle, die ihr ihre Großmutter geschenkt hatte. »Was kann ich tun?«
»Um im Buch unterzubringen, was ich mir vorstelle, brauche ich Hilfe. Ich kann nicht alles allein machen: den Garten pflegen, Recherche, abtippen, Notizen sortieren.«
Lena dachte darüber nach. Nicht ob
sie helfen würde − das war ganz klar − aber wann. Sie hatte heute Zeit und sie konnte bestimmt hier und da ein paar Stunden einschieben. So sehr sie auch die Abendspaziergänge mit Jess genoss, sie würde sie einfach öfter allein gehen lassen. »Natürlich helfe ich dir im Garten, damit du Zeit für den Rest hast. Aber ich muss den Großteil der Arbeit abends machen, wenn meine Schichten vorbei sind. Oder ich fange jetzt damit an.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich habe Zeit bis sechs, dann kommen meine nächsten Massageklienten.«
»Nein, ich brauche deine Hilfe nicht im Garten.« Maggie grinste. »Na ja, manchmal schon, aber ich dachte, du könntest mit mir an allem anderen arbeiten. Als meine Assistentin. Ich kann dich mit dem Vorschuss bezahlen und du hättest ein festes Einkommen und einen Job, auf den du dich verlassen kannst, zumindest für ein Jahr, vielleicht auch länger. Ich habe keine Ahnung, was das Café zahlt, aber ich kann dir denselben Lohn anbieten wie meinen Assistenten, als ich noch an der Uni unterrichtet habe.«
Lena starrte sie an. Assistentin? Mit regelmäßigen Arbeitsstunden? »Aber ich habe keine Erfahrung.« Ihr Mund war ausgedörrt, obwohl sie gerade etwas getrunken hatte. Mit zitternden Händen füllte sie ihr Glas wieder auf. Ein Tropfen Tee landete auf ihrer Zeichnung des Blumenbeetes und verwischte die Linien. Sie war zu verwirrt, um sich darüber zu ärgern. »Und ich würde dir sowieso helfen. Du musst mich nicht bezahlen.« In dem Moment, als sie es aussprach, wollte Lena es schon zurücknehmen. Sie konnte das Geld gebrauchen. Aber was sie sagte, entsprach der Wahrheit. Sie würde helfen, egal wie.
»Ich weiß, dass ich das nicht muss, aber ich würde es wirklich gern. Meine Hauptanforderungen an Assistenten sind, dass wir uns gut verstehen, sie etwas dazulernen und eine gute Arbeitsmoral besitzen. Du bist in allen Punkten mehr als qualifiziert. Ich schätze deine Begeisterungsfähigkeit, wenn du etwas Neues über Pflanzen lernst, und wie sehr du dich konzentrierst, um jedes Detail in einer Zeichnung genau richtig hinzubekommen, auch wenn du mehrere Anläufe brauchst. Du schluderst nicht, nur um schnell fertig zu werden, und das brauche ich am meisten. Wir klären die Details später gemeinsam, einverstanden?«
»Einverstanden.« Ein halbes Dutzend Fragen zu den Details tauchten in ihrem Kopf auf, aber keine davon war wirklich wichtig. Sie würde lieber mit Maggie an egal welchem Projekt arbeiten, als den ganzen Tag im Café herumzurennen. Aber ihrem Herzen und nicht ihrem Verstand zu folgen, hatte sie dorthin geführt, wo sie heute war: ohne nennenswerte Ausbildung, mit drei Jobs und im Dauerkampf gegen ihren Schuldenberg. »Ich würde sehr gern mit dir arbeiten. Wäre es in Ordnung, wenn ich meine Marmeladen weiter auf dem Wochenmarkt verkaufe? Ich würde die Stunden nachmittags und abends nachholen.«
Maggie nippte an ihrem Tee. »Natürlich. Es tut mir weh zu sehen, wie du dich aufreibst, aber ich werde dich nicht davon abhalten. Außerdem musst du nicht am Abend arbeiten, um irgendetwas nachzuholen. Wir planen einfach die Arbeit um deine Termine herum.«
Lena blinzelte. Wo war der Haken? Oder schlimmer, war das so eine Art Sozialprojekt? Hatte Jess ihrer Mutter von Lenas finanziellen Problemen erzählt? Sie studierte Maggies Gesichtsausdruck. Offen, entspannt, freundlich. Keineswegs herablassend, bemitleidend oder verurteilend. Obwohl Maggie von ihren Schwierigkeiten wusste, war das Angebot einfach zu verlockend, um es aus falschem Stolz abzulehnen. Sie lächelte zögerlich. »Danke. Ich freue mich wirklich darauf, mit dir zu arbeiten. Wann fangen wir an?«
»Morgen? Warte, nein, morgen ist Markttag. Siehst du, wie einfach das ist?« Maggie zwinkerte. »Freitagmorgen? Du nimmst dir heute den Tag frei, um dich zu entspannen oder zu zeichnen oder was auch immer du willst.« Maggie trank den letzten Schluck Tee.
Dass Maggie um ihre Termine herum plante, erfüllte Lena mit Dankbarkeit. »Danke. Also Freitag. Aber ich denke, ich habe für heute genug gezeichnet. Kann ich dir im Garten helfen? An was arbeitest du heute?«
Das stimmte nicht ganz, sie würde niemals genug Zeit zum Zeichnen haben. Aber sie musste nachdenken und Unkrautjäten oder Blumengießen waren die perfekten Aufgaben, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.
Der Anblick von Lena, die hinter der Garage auf der Mauer saß, zauberte ein Lächeln auf Jess’ Gesicht. Sie schob den Kinderwagen schneller. »Hey, was machst du hier?«
Lachend hüpfte Lena herunter, um sich ihr anzuschließen. »Ich warte auf ein süßes Mädchen, das mich abholt.«
Hallo! Hatte Lena sie gerade süß genannt? Dankbar für die Dämmerung, die ihre Verlegenheit verbarg, suchte Jess nach einer passenden Antwort.
»Hi, Ella, wie geht es meinem süßesten Mädchen?« Lena trat näher und beugte sich über Jess’ Schulter, um in den Kinderwagen zu schauen, auch wenn es schon zu dunkel war, um Ellas Gesichtsausdruck zu erkennen.
Jess hielt den Atem an. Hoffentlich spürte Lena nicht ihre glühenden Wangen.
Als Ella zufrieden gluckste, trat Lena wieder einen Schritt zurück. Ihr schien diese Antwort zu genügen und sie sah auf zu Jess. »Und hi, Jess.«
Der feine Blumenduft, der immer an Lenas Kleidung zu haften schien, strömte zu ihr und Jess lächelte. Sie hatte Lenas verspielten Humor vermisst. An den letzten zwei Abenden hatte Lena sie nicht auf ihren Spaziergängen begleiten können. Jess hatte sich an die übliche Strecke gehalten und versucht, den Frieden und die Stille des Viertels und des Parks aufzusaugen. Wie immer hatten Vögel gezwitschert und Blumen hatten die Abendluft parfümiert, aber ohne Gesellschaft hatte Jess den Spaziergang nicht ganz so genossen. Vielleicht, weil sie allein mit ihren Gedanken und Zweifeln war.
»Du bist so still. Ist es okay, wenn ich euch begleite?«
»Oh, tut mir leid. Natürlich ist es das. Genau darüber habe ich gerade nachgedacht. Es war die letzten zwei Abende irgendwie langweilig ohne dich.«
»Ich wäre auch lieber mit dir unterwegs gewesen. Aber ich hatte die Massageklienten schon eingeplant. Immerhin waren es jeweils Paare, sodass ich selbst nicht so viel arbeiten musste.«
Ein warmes Kribbeln lief über Jess’ Rücken, als sie sich an Lenas Hände auf ihrem Körper erinnerte. Denk gar nicht erst daran. Denk an was Unerotisches. Wie die Arbeit.
»Ähm … Mom sagte, sie hat dir einen Job angeboten.«
Lena stieß sie mit dem Ellenbogen in die Seite. »Als ob du das nicht wüsstest. Ich bin noch unentschlossen, ob ich sauer oder dankbar sein soll.«
»Was?« Jess blieb stehen. »Warum solltest du sauer auf mich sein?«
»Ich bin nicht sauer. Nur …« Lena runzelte die Stirn und sah nach unten. Ihre Finger spielten mit einem der langen Bänder, die vom offenen Kragen ihrer Bluse nach unten hingen. Der Ausschnitt war klein, nur der Ansatz ihres Schlüsselbeines war zu sehen, aber er gab den Blick auf Haut frei, die im Abendlicht golden zu leuchten schien.
Jess richtete ihren Blick rasch auf Lenas Gesicht. Das war sicherer.
Lena schien nicht bemerkt zu haben, wohin Jess’ Blick und Gedanken gewandert waren. Sie betrachtete immer noch ihre Füße mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.
»Es ist okay. Wenn ich etwas Bescheuertes oder Nerviges oder sonst etwas getan habe, sag es mir bitte. Ich bin über den Punkt hinweg, dich absichtlich provozieren zu wollen. Und es tut mir sehr leid, wenn ich so etwas getan habe.« Jess ging weiter und sah geradeaus. Manchmal war es einfacher, über etwas Emotionales zu sprechen, wenn man der anderen Person nicht in die Augen sehen musste. Jess hatte nie das Bedürfnis verspürt, sich zu verstecken. Ihr war es normalerweise egal, was die anderen von ihr dachten. Aber Lena schien das zu kümmern, manchmal sogar zu sehr.
»Nein, es ist meine Schuld. Ich habe dich nicht gebeten, Maggie nichts zu sagen. Außerdem bist du nicht verpflichtet, meine Geheimnisse zu bewahren.« Lena sprach weiter in Rätseln, aber immerhin redete sie.
»Es tut mir leid, aber welches Geheimnis habe ich offenbart?« Ihr kam keines in den Sinn und wenn sie mit ihrer Mutter über Lena sprach, war sie immer sehr zurückhaltend, damit ihre Mutter keinen Verdacht bezüglich Jess’ wahren Gefühlen gegenüber Lena schöpfte. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass ihre Mutter bemerkte, wie attraktiv sie Lena fand. Sie würde sich nur einmischen, wenn auch in bester Absicht.
»Meine finanziellen Probleme. Maggie wusste vorher schon ein wenig, aber sie hat mir bislang noch nie einen Job angeboten. Ich denke, das ist ihre Art zu helfen. Und ich bin ihr dankbar, aber trotzdem … Ich wäre lieber ihre Freundin geblieben und nicht ihr Wohltätigkeitsprojekt.«
»Moment mal. Stopp.« Jess trat auf die Bremse, damit der Kinderwagen nicht weiterrollte. Sie nahm Lenas Hände in ihre eigenen. »Ich habe mit meiner Mom nicht darüber gesprochen, was am Montag passiert ist. Abgesehen von einer Unterhaltung vor Wochen, kurz nachdem ich hierhergezogen bin, haben wir nie über deine finanzielle Situation oder irgendwelche Jobs geredet. Und ich kann nicht glauben, dass sie dir die Stelle aus Wohltätigkeit angeboten hat. Das passt nicht zu ihr. Sie nimmt ihre Bücher sehr ernst. Wie hat sie selbst ihr Angebot begründet?«
Lena wand sich, zog ihre Hände aber nicht zurück. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Sie sagte, sie vertraut meiner Arbeitsmoral und verbringt gern Zeit mit mir. Deswegen will sie mich als ihre Assistentin. Aber ich habe keinen Abschluss oder Erfahrung und –«
»Nein. Wenn meine Mom sagt, sie hat dich angestellt, weil sie dir vertraut, dann ist das der Hauptgrund. Nimmst du den Job nur wegen der guten Bezahlung an?«
»Nein!« Lenas Locken schwangen von rechts nach links, als sie den Kopf schüttelte. »Ich habe ihr sogar angeboten, ohne Lohn zu helfen. Ich arbeite total gern mit Maggie. Sie hat mir schon so viel beigebracht und ich verbringe auch gern Zeit mit ihr.«
»Siehst du, das ist der Grund.« Jess drückte die Hände, die immer noch in ihren ruhten. Der Kontakt sollte Lena unterstützen und beruhigen, aber irgendwie tat er das auch für sie selbst und Jess wusste nicht einmal, warum sie aufgewühlt war.
»Es tut mir leid, dass ich sauer auf dich war«, flüsterte Lena.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Es war ein Missverständnis. Nichts passiert.« Sie streichelte mit den Daumen über Lenas Hände, dann ließ sie los, bevor sie dem Impuls nachgeben konnte, sie zu umarmen. Seit wann war sie so emotional? Konnte sie nach zwei Monaten immer noch ihre Schwangerschaftshormone verantwortlich machen?
Sie löste die Bremse und nahm den Spaziergang wieder auf.
Wenn das Lenas wütender Zustand gewesen war, dann wunderte es Jess nicht mehr, warum Leute sie als zu nett beschrieben. Sie sorgte sich zu sehr um die Gefühle anderer, statt ihre eigenen auszudrücken. Sie hätten wirklich nicht unterschiedlicher sein können. Aber vielleicht war Lenas Art und Weise nicht so falsch. Immerhin hatte es zu einer Unterhaltung geführt, die das Missverständnis aufgeklärt hatte.
Wenn Jess sauer war, ließ sie das die andere Person eindeutig wissen. Laut und deutlich. Meistens ging ihr Temperament mit ihr durch und sie hörte weder Erklärungen noch Entschuldigungen. Wenn sie das mit etwas Abstand betrachtete, war ihr Verhalten ziemlich unreif und inakzeptabel.
Mist, dieser Spaziergang führte schon wieder zu Selbsterkenntnissen. Eigentlich sollte Lenas Begleitung sie doch vom Grübeln abhalten.
»Wie wäre es, wenn wir am Samstagnachmittag, nachdem du mit der Arbeit fertig bist, zu Dianas Strandhaus fahren und über Nacht bleiben? Wir könnten dann am Sonntag die Brombeeren pflücken und wieder zurückfahren.«
»Du willst zwei weitere Tage opfern, nur um mit mir auf Beerenjagd zu gehen?«
»Opfern?« Jess lachte. »Ich hatte eine Menge Spaß bei der Apfelernte. Und so wie Diana vom Haus geschwärmt hat, klingt es nach einem tollen Wochenendausflug, quasi ein Kurzurlaub. Wann war dein letzter Urlaub? Meiner ist schon Ewigkeiten her.«
»Urlaub? Ich erinnere mich nicht genau. Ich denke, als ich klein war und mein Großvater noch am Leben war, bevor ich mit der Schule angefangen habe. Wir haben einen Ausflug gemacht und sind dann irgendwo an einem Badesee gelandet, in einem Ferienhaus. Aber ich weiß weder wo noch wann genau das war.«
»Oh. Ich wollte mich darüber beschweren, dass meiner vier Jahre her ist, aber ich halte lieber die Klappe.«
»Nein, nein, sag schon.« Lena sprach in einem neckenden Tonfall. »Wo warst du? Was hast du gemacht? Karibik? Paris? Hawaii?«
»New York. Ein verlängertes Wochenende nach einer Konferenz. Sightseeing und Shopping.« Jess murmelte und traute sich nicht, Lena anzublicken. Ja, das klang gar nicht verwöhnt.
»Einkaufen? Machst du das gern?« Lenas Frage schien überraschend wertfrei.
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich bin damals mit jemandem zusammen gewesen, die das etwas zu sehr genossen hat.« Jess verzog das Gesicht bei der Erinnerung. »Die Beziehung hat auch nicht viel länger gehalten als das Wochenende. Es ist traurig, dass das mein letzter Urlaub war.« Und sehr traurig, dass es ihre letzte Beziehung gewesen war.
»Warum war es das letzte Mal für dich?«
»Arbeit.« Jess seufzte. »Um die Position zu erreichen, die ich jetzt innehabe, habe ich nie gewagt, Urlaubstage zu nehmen. Aber das war vermutlich umsonst. Nach dem, was passiert ist, muss ich die Hierarchiestufen erneut erklimmen und mich auf jeder Ebene mit jemandem herumschlagen, der fünf Jahre jünger, single und kinderlos ist.« Ein weiteres deprimierendes Thema, das sie vermeiden wollte. »Aber wir kommen vom Thema ab. Also willst du mit mir oder eher uns«, sie zeigte auf Ella, »einen Kurzurlaub in einem Strandhaus verbringen und Brombeeren sammeln?«
»Wenn du mich so fragst, wie kann ich da Nein sagen? Ich würde sehr gern mitkommen.« Lena drückte Jess’ Arm. Bevor sie die Verbindung richtig spürte, war sie schon vorbei. Zurück blieben die Erinnerung und ein Rest Wärme. »Danke dir.«
»Super. Wunderbar. Du musst mir nicht danken. Ich pack alles, was wir brauchen, ein und wenn du Samstag vom Wochenmarkt zurückkommst, kannst du genau wie Ella im Auto ein Nickerchen machen.«