Kapitel 15
Das Autoradio rauschte, als sie sich aus der Reichweite des Senders entfernten. Jess schaltete es schnell aus, bevor es ihre Passagiere aufweckte. Während des Großteils der zweistündigen Fahrt hatten Lena und Ella tief geschlafen. Jess machte es nichts aus, als Einzige wach zu sein. Der Verkehr hatte sie zwar beschäftigt, aber nie so gestresst, dass er ihre gute Laune dämpfen konnte.
»Oh, tut mir leid. Ich hatte nicht vor, so lange zu schlafen.« Lena gähnte und drehte sich im Beifahrersitz Jess halb entgegen. Sie sah wunderbar verschlafen aus und ihr Lächeln war entspannter, als Jess es jemals gesehen hatte.
Jess blickte zurück auf die Straße. Sah Lena immer so aus, wenn sie morgens aufwachte? Der Wunsch, es herauszufinden, überkam sie völlig unvorbereitet wie das Sonnenlicht nach einem langen Sommergewitter. Von einem Moment zum nächsten war der Wunsch in ihr, jeden Morgen neben Lena aufzuwachen. Als Erstes jeden Morgen diese grünbraunen Augen zu sehen.
Was stimmt nicht mit dir?
Die zwei Stunden mit Softrock und lieblicher Aussicht mussten ihren Verstand mit Kitsch vernebelt haben. »Das ist okay. Du hast anscheinend Schlaf benötigt. Kannst du mir einen Gefallen tun und schauen, ob Ella noch schläft? Ich habe sie seit einer Weile nicht mehr gehört.«
Lena öffnete den Gurt und drehte sich komplett auf dem Sitz herum. »Ihre Augen sind offen, aber sie ist mit den Fischen beschäftigt.« Sie ließ sich zurück auf den Sitz fallen und schnallte sich wieder an. »Ich glaube, sie mag die Fische.« Sie klang stolz.
Und das sollte sie auch. Lena hatte die handgemachte Kette vom Wochenmarkt mitgebracht. Für mindestens fünfzehn Minuten hatte Ella nicht aufgehört, nach den Holzfischen in Regenbogenfarben zu greifen, die in einer Kette über ihren Sitz gespannt waren. »Vielleicht kommt sie nach ihrer Großmutter und studiert Biologie. Nur mit dem Spezialgebiet Meeresbiologie statt Botanik.«
»Oder sie zieht nach Alaska und heuert auf einem Fischkutter an.«
»Ich hoffe nicht. Ich will keine stinkende Tochter.«
Lena rümpfte die Nase. »Ich wollte ja nichts sagen, aber … Du hast schon eine stinkende Tochter. Sie braucht bald einen Zwischenstopp.«
Jess verpasste vor Lachen fast die Abzweigung, als das Navi diese ankündigte. Sie schaute auf das Display. »Noch fünf Minuten. Ich öffne die Fenster.«
Eine warme Brise trug einen Hauch von Salz und Kiefern in das Auto.
»Oh, ich kann das Meer riechen.« Lena hielt ihre Hand aus dem offenen Fenster.
Als sie ihr Ziel erreichten, parkte Jess auf dem gut gepflegten Parkplatz neben dem kleinen Bungalow und schaltete den Motor ab.
Ella protestierte, dass die Fahrt schon zu Ende war. Bevor Jess sie beruhigen konnte, sprang Lena aus dem Auto und öffnete die Tür neben der Babyschale.
»Keine Sorge. Wir tragen dich gleich wieder herum. Wir machen dich sauber und füttern dich und laufen dann mit dir an diesem unglaublichen Ort herum.« Lenas melodische Stimme fesselte Ellas Aufmerksamkeit.
Lächelnd blickte sie zu ihr hoch und streckte beide Arme aus.
Jess war genauso hypnotisiert wie ihre Tochter. Mit einem inneren Seufzen riss sie sich los. »Könntest du sie nehmen, während ich unsere Taschen hole?«
»Natürlich.« Lena wartete mit Ella an der Eingangstür, bis Jess mit dem Gepäck und dem Schlüssel folgte.
Der Eingang führte direkt ins Wohnzimmer, in dem ein überdimensioniertes Sofa den Raum dominierte. Es stand mit dem Rücken zu ihnen und war den großen Fenstern und dem einladenden Sitz auf der Fensterbank zugewandt. An beiden Seiten rundeten zwei nicht zusammenpassende, aber gemütlich wirkende Sessel das Ensemble ab.
Zu ihrer Rechten, hinter einem der Sessel, konnte Jess durch die offene Tür dunkelrote Küchenschränke und einen stabilen Holztisch sehen. Sie platzierte die Reisetaschen neben der Tür und griff nach der Babyschale. »Ich wechsle Ellas Windel auf dem Tisch. Du kannst ja schon mal vorgehen und dir ein Zimmer aussuchen.«
Lena antwortete nicht. Sie stand wie festgefroren ein paar Schritte von der Tür entfernt und starrte aus dem Fenster.
Als Jess ihrem Blick folgte, sah sie eine Wiese und mehrere alte Kiefern auf dem Grundstück hinter dem Haus. Zwischen ihnen streiften ein paar pinkfarbene Wolken über den azurblauen Himmel und die Spiegelung der tief stehenden Sonne glänzte auf den dunkelgrauen Wellen des Pazifiks wie geschmolzenes Gold.
»Denkst du, wir kommen noch näher ans Wasser?«, flüsterte Lena.
Jess grinste. »Klar. Diana hat etwas von Klippen erzählt, aber sie hat mir eine Beschreibung geschickt, wie wir zum Strand hinunter kommen. Es gibt eine Treppe, allerdings sollten wir das lieber nicht im Dunkeln riskieren.«
»Oh. Genau. Aber können wir morgen früh gehen? Ich wollte schon immer mal das Meer berühren.« Staunen und Vorfreude klangen in Lenas Stimme mit, als hätte sie vor, die Mona Lisa zu besichtigen.
»Aber Seattle liegt direkt am Wasser. Puget Sound ist zwar nicht der Ozean, aber warst du noch nie auf einer der Inseln oder irgendwo an der Küste?«
Lena zuckte mit den Achseln. »Ich bin erst vor vier Jahren hierhergezogen und hatte noch nicht die Gelegenheit.«
»Und vorher?«
»Ich habe im Landesinneren gewohnt, nicht in Küstennähe.«
Jess konnte sich nicht vorstellen, in ihrem Alter noch nie das Meer gesehen zu haben. Na gut, vielleicht war die Liste der Orte, die sie in den USA besichtigt hatte, viel kleiner als die anderer Leute, aber sie hatte das Meer immer als etwas Selbstverständliches angesehen.
Ellas Protest bewahrte sie davor, eine Antwort finden zu müssen.
Jess warf sich die Tasche mit Ellas Sachen über eine Schulter. »Lass sie mich nehmen. Vielleicht hat eines der Schlafzimmer dieselbe Aussicht.«
Nachdem Jess Ellas Windel gewechselt und die alte sicher in einer luftdichten Tüte verstaut hatte, erwärmte sie eine Flasche mit Fertigmilch und machte sich auf die Suche nach dem besten Platz, um ihre Tochter zu füttern.
Lena hatte die Taschen weggeräumt, vermutlich in die entsprechenden Zimmer, und hatte die Kühltasche sowie die leeren Eimer für die Brombeeren ins Haus getragen. Eine Tür, die auf die überdachte Veranda führte, stand offen.
Draußen war Lena nirgends zu sehen, aber eine hölzerne Hollywoodschaukel schien der perfekte Ort zu sein, um den Sonnenuntergang zu genießen, während Jess Ella ihr Abendessen gab. Vogelzwitschern, Meeresrauschen und das sanfte Rascheln der Bäume im Wind waren die einzigen Geräusche neben Ellas glücklichem Schmatzen und versetzten Jess augenblicklich in Urlaubsstimmung.
Als die Flasche fast leer war, kam Lena von ihrem Erkundungsausflug zwischen den Kiefern zurück. Ihre Wangen glühten in einem gesunden Pink, das der Abenddämmerung Konkurrenz machte. »Die Klippen sind ganz nah und du kannst kilometerweit nur Wasser sehen.« Sie zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Es ist so wunderschön. Ich kann es gar nicht erwarten, da unten zu sein.«
»Warum gehst du nicht? Ich bleibe mit Ella hier.«
»Was? Nein!« Lenas Locken flogen in der leichten Brise hin und her, als sie den Kopf schüttelte. »Wir gehen morgen gemeinsam. Aber komm mit an den Zaun und schau dir das Wasser an. Wir tragen sie. Ich hole das Tuch.«
Ella war fertig mit der Flasche und Jess hielt sie gegen ihre Schulter. Tuch? Bevor sie sich entscheiden konnte, ob das eine gute Idee war oder nicht, kam Lena mit einem sehr, sehr langen Schal in allen Farben des Regenbogens zurück.
Jess starrte sie an. »Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas benutzt. Ich habe ein Tragegestell zu Hause, das ist wie ein Rucksack.«
»Das ist ganz einfach, wenn du es ein paarmal gemacht hast. Ich habe Tammy immer so getragen.« Lenas Mund öffnete und schloss sich, als wäre sie von ihren eigenen Worten überrascht. »Meine kleine Schwester.«
Die Traurigkeit in ihrer Stimme ging Jess zu Herzen. Sie hätte zu gern gewusst, was mit Tammy passiert war und warum sie kein Teil mehr von Lenas Leben war, aber mehr noch wollte sie Lenas Lächeln zurückbringen. »Okay, warum nimmst du sie nicht und zeigst es mir beim nächsten Mal? Wir sollten gehen, bevor es zu spät ist. Ich will nicht, dass du im Dunkeln von der Klippe fällst.«
Ella schien es nichts auszumachen, als Lena sie festhielt und den Schal in einem komplizierten Zickzackmuster um sie beide herumwickelte. Ganz im Gegenteil – mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht legte sie den Kopf an Lenas Brust ab.
Du Glückliche.
Jess zwang sich, wegzusehen.
»Willst du schauen, ob alles so in Ordnung ist, bevor wir losgehen?«
»Nein, sie sieht zufrieden aus und ich vertraue dir.« Auch wenn sie es vor allem sagte, um Lenas Stimmung zu verbessern, meinte Jess es ernst. Sie hatte nicht gedacht, dass sie jemand anderem als ihrer Mutter so schnell die Verantwortung für Ella überlassen konnte.
Lena führte sie auf einen Pfad zwischen den alten Kiefern. Es war kühl und schattig. Trockene Kiefernnadeln knirschten unter ihren Füßen auf dem sandigen Boden.
Fast ohne Vorwarnung traten sie aus dem Schatten der Bäume heraus. Hohe Gräser und einige robuste Pflanzen, die Jess nicht benennen konnte, klammerten sich an die Steine und verbargen teilweise den Zaun, der aus alten Holzpfosten und Draht bestand und sich stellenweise gefährlich über den Klippenrand neigte. An einer Seite stand eine stabil wirkende Holzbank, die nach Westen zeigte. Sie bewies, dass Lena mit ihrer Vorliebe für Sonnenuntergänge am Meer nicht allein war.
»Wow.« Jess setzte sich und sog die Aussicht auf. Der Himmel war fast dunkelviolett und die Sonne tauchte schon halb im Meer unter.
»Ja. Ich kann es gar nicht beschreiben …« Lena schlang beide Arme um Ella und trat näher an den Zaun.
»Komm hierher.« Jess hatte noch nie Höhenangst gehabt, aber als sie Lena ansah, mit ihrem faszinierten Gesichtsausdruck, fing ihr Inneres an zu flattern wie ein Schwarm betrunkener Schmetterlinge. »Setz dich.«
Lena schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Ups, ihr Tonfall war wohl harscher als beabsichtigt gewesen. »Ähm, bitte?«
»Alles in Ordnung?« Lena setzte sich neben sie auf die kleine Bank, nah genug, dass sich ihre Arme berührten.
Der Schmetterlingsschwarm beruhigte sich augenblicklich und summte zufrieden. Viel besser. »Ja, entschuldige, aber als ich dich am Zaun gesehen habe …« Sie zeigte auf den durchhängenden Draht. »Ich will Ella nicht in Gefahr bringen.«
»Natürlich.« Lena rollte mit den Augen, milderte aber die Geste mit einem Grinsen ab, bevor sie sich wieder dem Sonnenuntergang zuwandte.
Das Spektakel war viel zu schnell vorbei und die Brise war merklich frischer, als hätte das Meer wirklich das Feuer der Sonne gelöscht. Nur Lenas Seite war noch warm und Jess musste sich zusammenreißen, um sich nicht anzukuscheln. Woher kamen diese Gedanken? Vielleicht war es wie eine Art Nestbautrieb. Nachwehen ihrer Schwangerschaft? Aber sie hatte sich mit niemandem so gefühlt, außer mit Ella. Während des letzten Jahres war sie eher wie ein stacheliger Kaktus auf Speed gewesen.
Sie streckte die Hand aus, um Ellas Kopf zu streicheln, und vermied dabei sorgsam jeden Kontakt mit Lenas Haut. »Ich habe vergessen, ihr eine Mütze aufzusetzen. Und es wird kälter.«
»Ich glaube, es geht ihr noch gut. Aber lass uns zurückgehen. Und etwas essen.«
Bei der Erwähnung des Abendessens knurrte Jess’ Magen. Vielleicht war das merkwürdige Gefühl Hunger gewesen?
Während Jess Ella fürs Bett fertig machte, schnitt Lena den Käse und das Gemüse, das sie auf dem Wochenmarkt gekauft hatte, in kleine Stücke und Streifen. Dann füllte sie zwei niedrige Gläser mit Karotten-, Gurken- und Selleriesticks, bevor sie das Hummus mit gegrillter Paprika vom wiederverwendbaren Behälter in eine schöne Keramikschüssel umfüllte. Die orangefarbenen und roten Farbschattierungen machten dem umwerfenden Sonnenuntergang Konkurrenz, den sie gerade gesehen hatte.
Leise vor sich hin summend, drapierte sie den Käse und ein paar Apfelscheiben auf die Teller und stapelte alles auf einem Tablett, das sie auf der Küchenablage gefunden hatte.
Jess’ Sorge wegen des Zaunes war irgendwie niedlich gewesen. Lena hatte die Schärfe in ihrer Stimme nichts ausgemacht. Es war mittlerweile so einfach für sie, die wahre Intention in Jess’ Augen zu lesen. Sie war so verdammt attraktiv, wenn sie sich intensiv auf etwas oder jemanden konzentrierte.
Waren Lenas Gedanken und Gefühle genauso einfach zu lesen? Es wäre nicht gut, wenn Jess ihr Interesse entdecken würde. Ganz und gar nicht gut.
Lena trug das Tablett ins Wohnzimmer und musterte die Sitzgelegenheiten. Im warmen Schein der beiden kleinen Tischlampen sah alles noch gemütlicher und sogar romantisch aus. Kurz war sie versucht, das grelle Deckenlicht anzuschalten. Die vernünftige Wahl wäre, in einem sehr hellen Zimmer auf den beiden Sesseln zu sitzen, aber dann wäre es für eine von ihnen schwierig, an das Essen zu gelangen. Sie setzte sich seufzend auf das Sofa und stellte das Tablett vor sich auf dem Holztisch ab.
»Hmm, das sieht köstlich aus.« Jess’ leise Stimme erklang direkt hinter ihr. Sie schlich auf fluffigen blauen Socken um das Sofa herum und setzte sich neben Lena.
»Du siehst sehr gemütlich aus.« Der Anblick von Jess in einem Kapuzenpulli mit dem verwaschenen Logo irgendeiner Universität führte sie in Versuchung, sich auch etwas Wärmeres anzuziehen. Aber das flaue Gefühl in ihrem Magen überzeugte Lena, damit bis nach dem Essen zu warten.
»Ella hat über mein ganzes T-Shirt gesabbert, deshalb musste ich mich ohnehin umziehen.« Jess sah sich um. »Was willst du trinken?«
»Oh, tut mir leid. Das habe ich vergessen. Was haben wir mitgebracht?«
»Nichts. Diana sagte, wir können alles trinken, was wir finden. Ich glaube, ich habe Wasser, Limo und Bier im Kühlschrank gesehen. Und etwas Wein auf der Ablage.«
»Ich habe seit einer Ewigkeit keinen Wein mehr getrunken.«
»Ich auch nicht. Seit meiner Schwangerschaft hatte ich keinen Alkohol mehr, aber ich habe gehört, dass ein Glas Wein gut fürs Herz sein soll.«
»Solltest du nicht deinen Arzt vorher fragen?«
Jess lachte. »Diese Kardiologin hier ist ganz dafür.«
»Ich hole uns welchen.« Lena machte Anstalten, aufzustehen.
»Nein, bleib. Es dauert nur eine Minute.« Auf ihren Socken glitt Jess mehr in die Küche, als dass sie ging. »Ist Rotwein okay?«
»Klar.« Lena plante, sich auf ein Glas zu beschränken. Sie war Alkohol nicht gewohnt und der Wein würde sie bestimmt leicht beschwipst machen. Eine dumme Idee, wenn sie es vermeiden wollte, ihr aufblühendes Interesse an Jess zu offenbaren.
Momente später kam Jess mit zwei leeren Weingläsern in der einen und einer offenen Flasche Pinot Noir in der anderen Hand zurück. Zwei kleine Wasserflaschen ragten aus der Fronttasche ihres Kapuzenpullis. Sie stellte alles auf den Tisch und goss dann den Rotwein in die Gläser.
Dankbar für das Wasser nahm Lena zuerst davon einen Schluck. Sie war ausnahmsweise bereit, über die Tatsache hinwegzusehen, dass es sich um Plastikflaschen handelte. Immerhin würde das Wasser dafür sorgen, dass sie einen klaren Verstand behalten würde.
»Danke für das Abendessen.« Jess erhob ihr Weinglas. »Auf unseren Kurzurlaub.«
»Danke, dass du mich hierhergebracht hast.« Lena stieß mit ihrem Glas an Jess’ und sah ihr in die Augen.
Das Kornblumenblau war nicht so strahlend wie im Sonnenlicht, aber die warme Beleuchtung glättete die Fältchen um Jess’ Augen und verlieh ihr eine alterslose Schönheit, warm und einladend.
Als Jess ihre Augen schloss, um den Wein zu schwenken und daran zu riechen, flatterten ihre dunklen Wimpern.
Bevor Lena auch nur einen Tropfen Wein genossen hatte, war ihr bereits schwindelig. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, um das Aroma zu genießen. Oh, ja. Diana und ihre Partnerin waren nicht geizig, wenn es um Wein ging. Schon der erste Schluck überwältigte Lenas Sinne mit etwas Fruchtig-Herbem, das sie an den Geschmack von Cranberry oder schwarze Johannisbeeren erinnerte. Dann schmeckte sie etwas Warmes, Sanftes, fast wie Vanille. »Hmm. Ich glaube, das ist der beste Wein, den ich je getrunken habe.«
Jess brummte zustimmend. »Der ist super. Es wird schwierig werden, mich auf ein Glas zu beschränken.« Sie nahm ein Stück Karotte und dippte es in das Hummus. Nachdem sie ihr Gemüse in zwei Bissen verschlungen hatte, dippte sie zwei weitere Stücke und seufzte. »Ich glaube, das ist das beste Hummus, das ich je gegessen habe. Also sind wir quitt.«
»Hey, du hast den Wein nicht mitgebracht.«
»Hab ich wohl. Aus der Küche.«
Lena lachte. »Oh, ich freue mich schon sehr darauf, wenn Ella den Spruch zum ersten Mal bei dir versucht.«
»Nö, wird sie nicht. Sie bleibt für immer ein süßes und knuddeliges Baby.«
»Wirklich? Würdest du das wollen?«
Jess knabberte an einem Stück Gurke. »Tatsächlich kann ich es kaum erwarten, dass sie spricht, ihre Gedanken ausdrückt, mir zeigt, dass sie eine Persönlichkeit mit eigenem Willen ist.« Sie lachte leise. »Wir werden bestimmt öfter aneinandergeraten, wenn sie auch nur ein bisschen nach mir kommt. Zumindest wenn ich nach dem gehe, was Mom erzählt hat. Sie sagte, mein erstes Wort war Nein
.«
Hoch
. Tammys erstes Wort war hoch
gewesen und sie hatte es zu Lena gesagt. Sie wollte hoch in Lenas Arme genommen werden, nicht in die ihrer gemeinsamen Mutter. Bei der Liebe und dem Vertrauen, die sie in Tammys Augen gesehen hatte, war ihr Herz fast geplatzt. Ihre Mutter hatte diese Willensbekundung gar nicht zu schätzen gewusst und ihnen beiden den Rest des Tages die kalte Schulter gezeigt. »Ich glaube, du wirst eine wunderbare Mutter.«
»Ich weiß nicht.« Jess schwenkte den Wein in ihrem Glas, ohne zu trinken. »Manchmal kommen mir Zweifel, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe oder einfach egoistisch war. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und habe so wenig Zeit zur Verfügung.«
»Das stimmt vielleicht, aber du bist nicht die erste Frau, die vor diesem Problem steht. Und du hast eine tolle Mutter, die dir hilft. Aber du gibst Ella jetzt schon etwas anderes, das genauso wichtig ist, nicht nur Zeit und Liebe. Du respektierst sie als Person.«
»Danke, dass du das sagst, aber ich bin mir nicht sicher, ob das genug ist.« Jess nahm einen kleinen Schluck Wein, ganz langsam, als ob sie jeden einzelnen Tropfen auskosten wollte. »Mein Herzversagen hat mich erschreckt. Nicht nur wegen der Probleme, die auf mich zukamen, sondern auch, was das für Ella bedeuten könnte. Wenn man jung und gesund ist, hält man sich für unsterblich.« Sie schnaubte verächtlich. »Ich hätte es besser wissen sollen. Ich habe Patienten behandelt, die deutlich jünger waren als ich. Aber irgendwie …«
»Irgendwie hast du nie gedacht, dass es dich auch treffen könnte?« Lena lehnte sich nach vorn und legte eine Hand auf Jess’ Oberschenkel. Die Muskeln waren angespannt, als ob sie jeden Moment aufspringen wollte.
»Genau. Bescheuert.«
»Oder menschlich? Wenn du dir wegen jeder Kleinigkeit Sorgen machen würdest, wärst du keine gute Mutter und kein gutes Vorbild.« Die Anspannung unter Lenas Fingern ließ nach und sie nahm widerstrebend ihre Hand zurück.
»Ein gutes Argument.« Jess streckte ihre Beine aus und drehte sich so, dass ihre rechte Seite an der Rückenlehne ruhte. »Jetzt aber genug von meinem traurigen Leben. Willst du Kinder?«
Warum musste heute alles in dieselbe Wunde bohren? Lena lief ein Schauer über den Rücken und sie stellte das Weinglas auf dem Tisch ab, bevor sie etwas verschüttete. »Ja, schon. Irgendwann.« Sie seufzte.
»Warum nicht jetzt?«
»Abgesehen davon, dass ich single und pleite bin und zu viele Jobs habe?« Lena zog ein Bein an die Brust und schlang ihre Arme darum.
»Abgesehen davon. Wenn du in der Lotterie gewinnst oder eine Millionärin auf einem weißen Pferd dein Herz im Sturm erobert, würdest du dann jetzt Kinder haben wollen?«
Lena dachte über die Frage nach. Es war Jahre her, seitdem sie sich zuletzt solche Träume erlaubt hatte. Ellas Lächeln, ihre winzigen Fäuste, wenn sie Lenas Finger umklammerten, die Tränen ihrer Schwester, als deren Vater sie weggebracht hatte − all das flackerte durch ihren Kopf wie ein Werbetrailer für einen kitschigen Film. »Ich würde wirklich gern zwei oder drei Kinder haben. Ich wollte immer mit einer Schwester oder einem Bruder aufwachsen und würde dasselbe für meine Kinder wollen. Eine Ehefrau, zwei oder drei Kinder, eine Katze. Nicht unbedingt einen weißen Gartenzaun.« Sie lachte, um die Stimmung aufzulockern, aber selbst in ihren eigenen Ohren klang es gekünstelt.
»Es scheint, als ob wir einiges gemeinsam haben. Ich wollte auch immer eine Schwester. Und eine Katze.« Jess streckte die Hand aus und fuhr vorsichtig über Lenas Schienbein. »Dir ist kalt. Überall Gänsehaut.« Sie zog eine Decke von der Rückenlehne und breitete sie über Lenas Beine aus.
»Danke.« Lena kuschelte sich in den alten Quilt. »Macht es dir etwas aus, allein zu sein?«
»Allein?«
»Ohne Partnerin? Würdest du diesen Abend lieber mit deiner Freundin verbringen? Ein romantisches Wochenende im Strandhaus von Freunden?«
Jess runzelte die Stirn, während sie ein Stück Apfel kaute. Schließlich umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel. »Nein, ganz und gar nicht. Ich wäre mit meiner Freundin vermutlich nicht hier. Wenn ich mit jemandem ausgegangen bin, war mir nie nach zu viel Nähe. Sogar am Wochenende über Nacht zu bleiben, war mir meistens zu intim. Vielleicht bin ich zu unabhängig. Oder ich war noch nie so richtig verliebt.«
»Noch nie?« Lena wusste nicht, ob sie Jess beneiden oder bedauern sollte. Sie hatte sich immer Hals über Kopf in Beziehungen gestürzt. Das war einer der Gründe, warum sie eine Pause beim Dating eingelegt hatte.
»Ich dachte, ich wäre es, aber ich habe wohl Lust mit Liebe verwechselt. Und das ist auch schon eine Ewigkeit her. Seit ich Ella zum ersten Mal im Arm gehalten habe, beutetet Liebe etwas ganz anderes für mich. Sie ist ein Teil von mir, lebt in meinem Herzen, wie das noch nie jemand getan hat.«
Tränen brannten in Lenas Augen und sie blinzelte schnell, um sie zu vertreiben. Jess’ Worte trafen sie tief in ihrem Inneren und zerrten an ihrem Herzen. Das war genau das, was sie in ihrem eigenen Leben wollte: jemanden, der in ihrem Herzen wohnte und umgekehrt. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Mutter jemals so über sie gedacht hatte, und ihre Großmutter hatte ihre Gefühle mit ins Grab genommen. Lena würde eines Tages ihre eigene Familie gründen müssen.
»Hey, warum weinst du? Habe ich etwas Falsches gesagt? Es tut mir leid.« Jess fuhr mit ihrem Daumen über Lenas Wange. Wärme breitete sich unter ihrer Berührung aus und vertrieb die Kälte in Lenas Herzen.
Sie konnte nicht die richtigen Worte finden, deshalb schüttelte sie den Kopf und lehnte sich nach vorn, in Jess’ Hand hinein.
Jess rutschte näher und umschloss Lenas Gesicht mit beiden Händen.
Es war das natürlichste Gefühl der Welt, sich darin sinken zu lassen. Lena verlor sich im blauen Meer von Jess’ Augen, als diese sie anblickten, als ob sie nach einer Antwort suchte. Sie hatte keine Ahnung, was die Frage war.
Ihr Atem vermischte sich und der berauschende Duft von Pinot Noir vernebelte Lenas Verstand. Sie leckte sich ihre trockenen Lippen.
Jess stöhnte und ihre Augen verdunkelten sich wie das Meer vor einem Sturm.
Lena wusste nicht, wer sich zuerst bewegte, aber plötzlich gab es keine Distanz mehr.
Zögerlich, fast schon schüchtern, streifte Jess ihre Lippen über Lenas. Fragend, nicht fordernd. Einladend, nicht besitzergreifend.
Die Zärtlichkeit dieser Geste wischte Lenas Hemmungen beiseite und sie antwortete mit dem enthusiastischsten Oh, ja
, das sie ohne Worte vermitteln konnte. Als sie den Kuss vertiefte, stieß ihre Nasenspitze gegen Jess’ und sie drehte ihren Kopf ein Stück, bis sie passten. Perfekt.
Ihre Zungenspitze erkundete die Innenseite von Jess’ Oberlippe. So weich.
Stöhnend öffnete Jess ihren Mund, um Lena einzulassen. Sie schmeckte nach herbem Wein, süßem Apfel und ganz nach ihr selbst.
Jede Berührung von Jess’ Zunge ließ Lenas Zurückhaltung weiter schmelzen. Sie hob ihre Arme, um sich an Jess festzuhalten. Um ihr näher zu kommen. Um sich in der Hitze zu verlieren und alles andere zu vergessen. Sie hielt sich mit beiden Händen am dicken Sweatshirtstoff fest und die Andeutung von einem starken Körper darunter stärkte ihre Entschlossenheit.
Jess’ Hände glitten langsam nach oben, bis sie sich in Lenas Haare wühlten. Die Fingerspitzen schickten kleine Funken von Lenas Kopfhaut durch den ganzen Körper und entfachten ein Feuer, das schon viel zu lange nicht mehr gebrannt hatte.
Ohne Vorwarnung entzog sich Jess plötzlich der Umarmung. Stocksteif lehnte sie sich zurück und neigte den Kopf etwas zur Seite. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, aber ihre Pupillen waren immer noch geweitet und ihre Lippen leicht geschwollen.
»Entschuldige.« Ohne weitere Erklärung sprang sie auf und verließ das Zimmer.
Was ist gerade passiert?
Schwer atmend versuchte Lena, ihre verwirrten Gefühle und Gedanken zu ordnen. Erst hatten sie sich geküsst wie … Wie was? Geliebte? Teenager im Hormonrausch? Nichts, was sie jemals getan hatte, war mit diesem Gefühl vergleichbar gewesen. Und im nächsten Moment war Jess weggelaufen. Vor ihr? Vor sich selbst?
Ein leises Weinen drang durch das Pulsieren in ihren Ohren. Ella.
Vielleicht war Jess nicht von jemandem weg, sondern zu jemandem hingelaufen.
Aber was würden sie tun, wenn sie zurückkam? Darüber reden? Es ignorieren? Da weitermachen, wo sie aufgehört hatten? Bei dem Gedanken an einen weiteren Kuss brodelte die Vorfreude in ihrem Inneren wie flüssige Lava.
Lena trank einen großen Schluck Wasser, um sich abzukühlen, und griff nach den Gemüsesticks und der Hummusschüssel. Sie musste sich für die emotionale Achterbahnfahrt an diesem Wochenende stärken.
Nachdem sie fertig gegessen und den Wein ausgetrunken hatte, war Jess immer noch nicht zurückgekommen, obwohl Ella schon seit einiger Zeit nicht mehr zu hören war. Lena räumte den Tisch ab und spülte, um Jess noch ein wenig Zeit zu geben.
Waren dreißig Minuten vergangen? Vierzig? Lena schloss die Eingangs- und Terrassentür ab und schaltete das Licht aus.
Vor Jess’ Tür zögerte sie. Nichts zu hören. Noch nicht einmal ihr Atem.
Seufzend ging sie in ihr eigenes Zimmer. Es würde sehr lange dauern, bis sie einschlief, aber sie wusste aus Erfahrung, dass es irgendwann so weit sein würde. Es war nicht das erste Mal, dass sie allein und enttäuscht zu Bett ging, und es würde nicht das letzte Mal sein.