Kapitel 16
Jess schlich auf Zehenspitzen durch den Flur, um Lena nicht zu wecken. Das Licht der Morgendämmerung reichte aus, um zu sehen, dass die Küche und das Wohnzimmer leer waren. Lena hatte das Geschirr von letzter Nacht weggeräumt. Jess schluckte und spürte plötzlich ihre ausgedörrte Kehle. Wie konnte sie erklären, warum sie nicht zurückgekommen war?
Aber zuerst musste sie sich stärken. Auch wenn sie sich noch kein Koffein erlaubte, startete sie den Tag besser mit einem heißen Getränk. Als sie nach dem Wasserkocher griff, war er noch warm. Ihr Magen zog sich zusammen. Lena war also schon wach und unterwegs.
Seufzend öffnete Jess ein paar Hängeschränke, bis sie Tassen und einen Stapel bunter Teeschachteln fand. Sie suchte sich eine Packung aus, die so optimistisch aussah, wie sie sich gern fühlen würde. Ein frischer und scharfer Duft stieg ihr in die Nase, als sie das kochende Wasser in die Tasse goss. Ingwer, nett. Vielleicht würde es ihren aufgewühlten Magen beruhigen.
Ja, klar. Wem willst du hier was vormachen? Nur ein Gespräch würde das erreichen. Und eine Entschuldigung. Schon wieder. Sie straffte ihre Schultern und öffnete die Terrassentür, um Lena zu suchen.
Und da war sie, auf der kleinen Wiese vor der Veranda, nach Osten gewandt, wo die Sonne durch die Kiefern schien und lange Schatten warf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entspannt und ein friedliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Lippen, die Jess geküsst hatten, bis sie jedes Gefühl für Zeit verloren hatte.
Jess atmete tief ein. Blöde Idee. Sie war noch nicht bereit für ein Gespräch.
Bevor sie wieder weglaufen konnte, öffnete Lena ihre Augen und sah sie an. Sie hielt einen Finger an ihre Lippen und winkte Jess mit der anderen Hand näher.
Ihr Unbehagen legte sich wie Laub, nachdem der Wind nachgelassen hatte. Jess befreite das Babyphon vom Bund ihrer Jogginghose und stellte es zusammen mit ihrer dampfenden Tasse auf das hölzerne Verandageländer neben eine kleine Sammlung von Muscheln und Treibholz. Das Gras war kühl unter ihren nackten Füßen, als sie ihren üblichen Platz an Lenas Seite einnahm und die Sonne begrüßte.
Eine Stunde später war die Sonne über die Baumwipfel gestiegen und hatte Jess ausreichend aufgewärmt, sodass sie sich jetzt auf ihren abgekühlten Tee freute. Dank ihrer neuen Morgenroutine und Lenas ruhiger Ausstrahlung hatte sich ihre Verlegenheit ausreichend gelegt und sie fand es einfacher, ein Gespräch anzufangen. »Wegen gestern Abend … Es tut mir leid.«
»Okay.« Lena ging in die Küche, bevor Jess die Gelegenheit hatte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten.
War das alles, was sie zu sagen hatte? War sie nicht sauer oder enttäuscht oder vielleicht sogar froh, dass sie unterbrochen worden waren? Jess sammelte ihre Sachen ein und ging ihr nach. »Okay? Ist alles in Ordnung zwischen uns?«
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in Lenas Augen auf, zu schnell, um es zu deuten, dann ließ sie ihre Schultern hängen und sah nach unten. »Es war nur ein Kuss. Keine große Sache. Es tut mir leid, dass ich geweint habe und so mitleiderregend rüberkam.«
Moment mal, was? »Denkst du, dass das ein Mitleidskuss war?«
»Etwa nicht?« Lena sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
»Verdammt, nein. Es tut mir leid, dass ich abgehauen bin, nicht, dass ich dich geküsst habe.«
Ihre Augenlider zuckten minimal, als Lena Jess für einen Moment musterte. Dann nickte sie. »Entschuldigung angenommen. Und warum bist du abgehauen?«
Jetzt war Jess an der Reihe, nach unten zu blicken. »Das war nicht geplant. Meine Libido ist mit mir durchgegangen und ich habe gehandelt, ohne vorher darüber nachzudenken. Das hat mich irgendwie überrumpelt.« Sie drückte eine Hand an ihre Magengrube, als könnte sie damit das flaue Gefühl dort vertreiben. Normalerweise würde Jess mit einer sarkastischen Bemerkung und einem Themenwechsel die Kontrolle über die Situation zurückgewinnen. Aber so wollte sie Lena nicht behandeln. »Ich … ähm … ich bin nicht bereit für eine Beziehung und − nicht, dass ich anmaßend sein will − aber ich bin im Moment auch nicht bereit für Sex. Und gestern habe ich mir selbst nicht getraut. Ich hatte Angst, dass ich mich in meinen Gefühlen verlieren könnte. Deswegen bin ich nicht mehr zurückgekommen.«
»Danke für die Erklärung. Und vielleicht ist es auch besser so.« Lena zuckte halbherzig mit den Schultern. »So viel Spaß Sex auch gemacht hätte, ich denke auch, dass es nicht die klügste Entscheidung gewesen wäre.«
Spaß. Das Wort katapultierte Jess’ Vorstellungskraft in ganz unangemessene Regionen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um die Erinnerung an Lenas Kuss zu tilgen. Sie sollte froh sein, dass sie am selben Strang zogen. Jess brauchte nicht noch eine Komplikation in ihrem Leben und Lena spielte keine Spielchen, sondern gab ihr die Gelegenheit, das, was gestern zwischen ihnen passiert war, hinter sich zu lassen.
Plötzlich erwachte in Jess der Drang, in den Tag zu starten. Ein Neuanfang. »Lass mich schnell Frühstück machen. Danach können wir dann ans Meer gehen, bevor wir deine Brombeeren sammeln.«
»Das wäre großartig.« Lena lächelte.
Ein leises Geräusch kam durch das Babyphon, als würde Ella sie daran erinnern wollen, dass sie auch noch da war.
»Jemand anderes will auch ihr Frühstück. Ich hole Ella.« Lena wies auf das Babyphon. »Wenn du willst, kann ich sie füttern, während du kochst.«
»Ähm … ich weiß nicht. Hast du so etwas schon mal gemacht?« Ein Baby füttern, war nicht schwierig, sie war sich nur nicht sicher, ob sie wollte, dass jemand anderes das für sie übernahm. Das war ihre gemeinsame Zeit mit Ella, die intimen Momente, wenn sie ihre Tochter dabei beobachtete, wie sie etwas so Einfaches wie eine Mahlzeit genoss. Das überließ sie noch nicht einmal gern ihrer Mutter, wenn Jess da war und es selbst tun konnte.
Allerdings rief die Möglichkeit, das mit Lena zu teilen, keinen wirklichen Widerstand in ihr hervor. Vielleicht wegen der Sehnsucht, die Lena gestern gezeigt hatte, als sie über ihre kleine Schwester gesprochen hatte, oder vielleicht wegen der offensichtlichen Zuneigung, die sie für Ella hegte.
Woran auch immer es lag, Jess machte es nichts aus, diesen Moment an Lena abzugeben.
»Unzählige Male, mit Tammy.« Lenas Traurigkeit vom Vortag stieg mit dem Namen wieder auf.
Jess hätte sich selbst in den Hintern treten können, weil sie das Thema aufgebracht hatte. »Super. Toll. Klar, du kannst ihr die Flasche geben. Ich mache sie dir warm.« Sie eilte in die Küche.
Lena ging direkt in Ellas Zimmer und Jess konnte durch das Babyphon hören, wie sie leise mit ihr sprach. Lena sagte nichts Wichtiges, aber die sanfte Stimme löste trotzdem ein warmes Kribbeln in Jess aus.
Lächelnd schaltete sie den Lautsprecher aus, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren und die Fertigmilch zu erwärmen.
Bevor sie die Temperatur kontrollieren konnte, kam Lena mit Ella im Arm, nahm die Flasche aus dem Wärmer und spritzte ein paar Tropfen auf ihren Unterarm.
»Perfekt. Macht es dir etwas aus, wenn wir rausgehen?« Lena balancierte die zappelnde Ella, die warme Flasche und ein Kissen ohne Schwierigkeiten.
»Geh ruhig.« Was sollte sie auch sonst sagen?
Voller Sehnsucht sah sie Lena und ihrer Tochter hinterher, bevor sie sich um das Erwachsenenfrühstück kümmerte. Besonders viel Auswahl hatten sie nicht, weil sie kaum Proviant mitgebracht hatten. Es gab Rührei, den Rest des köstlichen Käses vom Wochenmarkt, zusammen mit dem Brot, das Lena für Sandwiches besorgt hatte. Das würde reichen müssen. Das Brot sah verdächtig gesund aus, mit Vollkorn oder so etwas, aber es würde sie nicht umbringen.
Lenas leises Gemurmel, das durch die offene Terrassentür zu hören war, begleitete Ellas glückliche Schmatzgeräusche.
Jess konnte nicht aufhören zu lächeln, während sie die Eier zubereitete. Familie. Dieser Morgen war genau so, wie sie sich immer das Gefühl einer eigenen Familie vorgestellt hatte.
Jess, reiß dich zusammen. Ein Kuss und du spielst in deiner Fantasie glückliche Familie. Ein unglaublicher Kuss, aber trotzdem … Kopfschüttelnd stellte Jess den Herd aus und verteilte die Eier auf zwei Teller.
Während des Frühstücks richtete Jess ihren Blick auf das Essen und lenkte die Unterhaltung auf das Wetter. Was machte das schon, wenn Lena sie dabei merkwürdig anstarrte? Sie hatte keine Energie für eine tiefsinnige Unterhaltung, während all ihre Gedanken und Gefühle durcheinanderwirbelten, als ob ein Tornado sie mitgerissen und irgendwo wieder ausgespuckt hätte.
Nachdem sie gegessen und die Reste in der Küche verstaut hatten, setzte Jess Ella einen Sonnenhut auf und schmierte sie gründlich mit Sonnencreme ein.
Lena hielt den Schal hoch. »Willst du sie zum Strand tragen?«
So sehr sie es auch wollte, Jess war sich nicht sicher, ob sie es tatsächlich konnte. Zwar ging es ihrem Herzen besser, aber sie hatte noch nie einen so langen Spaziergang mit Ella im Arm gemacht, anstatt den Kinderwagen zu schieben. »Nein, nimm du sie.«
Ella schien das Eingewickeltwerden genauso zu genießen wie Jess das Betrachten von Lenas geschickten Fingern.
Der Weg durch die Kiefern wirkte heute kürzer als gestern Abend. Unter ihren Füßen knirschten alte Nadeln und verströmten einen betörenden Geruch nach Sommer und Sonne am Meer. Als sie die Bank erreichten, folgten sie einem weiteren Pfad nach links entlang der Klippen bis zu einer hölzernen Treppe.
Ohne zu zögern, betrat Lena die überraschend stabil wirkende Treppe und stieg zum Wasser hinab. Sie hielt eine Hand am Geländer und die andere beschützend um Ella.
Jess folgte langsamer. Sie wollte lieber nicht an den Rückweg nach oben denken, der vermutlich schmerzhaft werden würde. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Ella nicht selbst zu tragen; sie war noch nicht wieder bei ihrer alten Form angelangt, als sie noch ganz selbstverständlich die Treppe zur kardiologischen Station im vierten Stock genommen hatte. Zumindest bis zum letzten Monat der Schwangerschaft.
Am Fuß der Stufen wartete Lena mit dem Blick aufs Wasser gerichtet. »Ist das nicht umwerfend?« Ihre Stimme war leise, als ständen sie in einem Museum vor einem Meisterwerk.
Der Anblick ihrer leicht geöffneten Lippen und großen Augen war unwiderstehlich und Jess versuchte noch nicht einmal, wegzuschauen. Lena war wunderschön, vielleicht sogar noch mehr als gestern. Wenn sich ihr Blick nur mit der gleichen Bewunderung auf Jess richten würde.
»Umwerfend, ja.« Jess wusste nicht, warum sie auch flüsterte.
Lena schlüpfte aus ihren Sandalen. »Ooh, der Sand ist warm.« Sie ging ein paar Schritte Richtung Wasser. Als sie die geschlängelte Grenze zwischen trockenem und nassem Sand erreichte, zögerte sie.
»Das ist bestimmt kalt.« Jess musterte den Boden genauer. Wegen der Steine, Muscheln und dem Treibholz, die am Strand verteilt waren, hatte sie nicht vor, ihre Schuhe auszuziehen.
»Das ist mir egal.« Lena machte einen großen Schritt und schüttelte sich, als ihre Füße den nassen Sand berührten. »Autsch. Du hast recht, das ist ganz schön kalt.« Lachend ging sie in die Brandung, bis ihre Knöchel überflutet waren. »Hey, Ella, schau dir das an. Das Meer.« Sie beugte sich nach vorn, sodass Ellas Blickwinkel auf das Wasser fiel.
Ellas fröhliche Glucksgeräusche waren eher eine Reaktion auf Lenas seltsame Drehbewegungen und die Begeisterung in ihrer Stimme, aber Lena schien es als Bestätigung zu nehmen. Sie ging in die Hocke und tauchte beide Hände ins Wasser, dann stupste sie vorsichtig mit einem Finger Ellas Nase an.
Jess musste lachen, als Ella die Nase rümpfte. Würde es immer so sein, wenn Ella älter wurde und sie mehr und mehr erste Male zusammen erlebten? Genau das hatte sie immer gewollt: einem Kind all die großartigen Sachen zu zeigen, die das Leben zu bieten hatte. In der letzten Zeit hatte sie sich mehr um ihre Genesung und die grundlegenden Alltagsbedürfnisse gekümmert und nicht um die schönen Entdeckungen, die sie zusammen machen konnten.
Lena fischte eine Muschel aus dem Wasser und trocknete sie an ihrem T-Shirt ab. Dann hielt sie sie für Ella hoch und half ihrer kleinen Hand, über die glatte Innenseite und raue Außenseite zu fahren.
Der Anblick von Lena, die ihre ersten Momente am Meer mit Ella teilte, wärmte Jess mehr, als es die Sonnenstrahlen vermochten. Anstatt das Baby als störend zu empfinden oder zumindest als notwendiges Übel, involvierte Lena sie aktiv in ihre eigenen Entdeckungen und teilte die Freude mit ihr.
Jess’ Augen fingen an zu brennen. Die Reflexion des Sonnenlichtes musste so nah am Wasser schlimmer sein. Sie zog ihre Sonnenbrille aus den Haaren und setzte sie auf. Viel besser.
Aus den Augenwinkeln riskierte sie einen weiteren Blick auf Lena, die ihre Augen mit der Hand abschirmte und den Horizont musterte. Sie lachte, als ein Schwarm Möwen nach unten stürzte, um zu fischen. Sie schien ihre eigene Sonnenbrille vergessen zu haben.
»Hier.« Jess setzte ihre ab und hielt sie ihr hin. »Nimm meine.«
»Nein, dann siehst du weniger.«
»Aber du hast Ella und ich würde es bevorzugen, wenn du nicht über einen Stein stolperst und kopfüber im Wasser landest oder so.«
»Wenn du es so ausdrückst …« Lena nahm die Brille und setzte sie auf. Sie rutschte bis zu ihrer Nasenspitze und sie musste den Sitz etwas anpassen. »Ich habe ja schon immer gedacht, dass du dickköpfig bist, aber jetzt habe ich den Beweis.«
Jess lachte. »Ich würde dich ja für diese Bemerkung büßen lassen, aber du versteckst dich hinter einem menschlichen Schutzschild. Nicht fair.«
»Lass uns ein bisschen am Strand entlanggehen. Ich verspreche auch, Ella nicht zu ertränken.«
Jess schaute nach unten, wo Lena immer noch hockte und mit einer Hand im nassen Sand spielte. »Brauchst du Hilfe beim Aufstehen?« Jess wies auf Ella. »Ist sie zu schwer?«
»Nein, alles gut.« Lena stand ohne Unterstützung auf, obwohl die Muskeln in ihren Beinen leicht zitterten.
Ihre langen, wohlgeformten Beine, von denen Jess nicht den Blick lassen konnte. Sie hatte sie schon vorher bemerkt, da Lena im Garten oft Shorts trug oder wie heute einen ihrer asymmetrischen, knielangen Röcke. Aber jetzt wusste sie, wie zart ihre Haut war, sogar, wenn sie mit Gänsehaut überzogen war. Lenas nackte Zehen gruben sich in den Sand und sie trug wieder diesen erotischen, dunkelvioletten Nagellack.
Jess’ Füße waren immer noch vernünftig in Turnschuhe eingesperrt und ihre Jeans bedeckte ihre Knöchel. Sie waren schon seit ein paar Wochen nicht mehr geschwollen, aber sie hatte noch immer das Bedürfnis, sie zu verstecken. Nun ja, kaltes Wasser sollte ja gut für die Durchblutung sein. Sie beugte sich hinab, zog Schuhe und Socken aus und krempelte die Hosenbeine hoch.
»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal die Zeit genommen habe, um an einem Strand spazieren zu gehen.« Jess schüttelte den Kopf über sich selbst. »Ich habe das Meer meist aus der Ferne betrachtet.«
»Das ist schade.« Sie hatten den steinigeren Teil erreicht und Lena wählte ihre Schritte mit mehr Bedacht. »Und jetzt?«
»Ich würde nirgendwo anders lieber sein wollen.« Jess hielt den Atem an und tat einen Schritt in die Brandung. Der erste Kontakt mit dem Wasser stach wie mit tausenden eisigen Nadeln in ihre Zehen, aber dann, nach einigen Sekunden, ersetzte ein nicht unangenehmes Kribbeln den Schmerz.
Manchmal war es die Belohnung wert, über ihren Schatten zu springen.
Die Brombeersträucher waren am westlichen Ende des Grundstücks versteckt und so überladen, wie Diana es versprochen hatte. In einem windgeschützten Gebiet wuchs die Hecke höher, als Lena greifen konnte, und viele der langen Ranken wurden durch das Gewicht der Beeren zu Boden gezogen.
Jess staunte mit offenem Mund. »Das ist mehr als genug, um eine Armee zu versorgen.«
»Selbst wenn wir nur die ernten, die leicht zu erreichen sind, sollten wir mehr als genug Beute machen.« Lena grinste und stupste Jess mit ihrem Ellenbogen leicht in die Seite. »Keine Sorge. Wir müssen nicht alle pflücken.«
»Puh.« Jess wischte sich mit einer übertriebenen Bewegung die Stirn ab. »Ich dachte, wir verbringen die nächsten paar Wochen hier.«
»Nein, ich will Maggie nicht verärgern, indem ich ihre Familie entführe.«
Jess breitete eine Decke im Schatten einer Kiefer aus und legte Ellas Babyschale darauf. »Sie schläft schon wieder. Das faule Mädchen will uns nicht helfen.« Sie beugte sich nach unten, um ein dünnes, weißes Baumwolltuch über die Öffnung zu legen, damit Ella vor der Sonne geschützt wurde. Jess’ verwaschene Jeans sah so weich aus wie das Tuch. Ein weites, dunkelblaues T-Shirt versteckte den Rest ihrer Figur, aber Lena erinnerte sich nur allzu gut an das Gefühl dieses Körpers unter ihren Händen.
Ihre Fingerspitzen prickelten mit dem Bedürfnis, zu Jess zu gehen und die Entdeckungsreise fortzusetzen. Stattdessen trank Lena einen großzügigen Schluck aus der Flasche, die sie mitgebracht hatte. Das Wasser war immer noch kalt, half aber nicht, das Feuer zu löschen, das seit diesem Kuss in ihrem Inneren glomm. Hör auf damit.
Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter hatte sie sich besser unter Kontrolle und gab nicht jeder Versuchung nach, egal wie verführerisch sie auch war. Seitdem Jess zugegeben hatte, sich von ihr angezogen zu fühlen, hatte Lena das Wenn-dann-Spiel in ihrem Kopf gespielt. Wenn Lena das vermasseln würde, dann würde sie ihre Unterkunft und ihren Job bei Jess’ Mutter gefährden. Oder schlimmer noch, wenn Lena ihrer Anziehungskraft nachgeben und sich verlieben würde, dann würde Jess ihr sicherlich das Herz brechen. Jess hatte es selbst gesagt − sie war nicht bereit für eine Beziehung. Aber was wäre, wenn sie es schaffen würden, fantastischen Sex zu haben und Freunde zu bleiben?
Bevor ihre Libido das Argument gewinnen konnte, zwang sie sich, wegzuschauen. Konzentrier dich auf die Brombeeren. Deshalb bist du hier, nicht für ein romantisches Wochenende am Meer.
Jess gesellte sich kurz darauf zu ihr und hob ihren eigenen Eimer auf. Entweder spürte sie Lenas Bedürfnis, konzentriert zu arbeiten, oder sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Wortlos pflückten sie Seite an Seite und hatten bald alle Behältnisse, bis auf zwei, gefüllt.
»Warte.« Jess legte ihre Hand auf Lenas Arm, um sie davon abzuhalten, eine Beere in ihren leeren Eimer zu legen. »Was hältst du von einem Wettstreit?«
»Wettstreit?«
»Lass uns schauen, wer schneller ist. Wer zuerst den Eimer voll hat, bekommt eine Belohnung.«
»Oh, und was wäre das?«
Jess schnappte sich die Beere, die Lena noch in den Fingern hielt und warf sie sich in den Mund. »Hmm. Was würdest du wollen?« Ein winziger Tropfen des Fruchtsafts färbte ihre Lippe violett.
Der Drang, den Tropfen wegzuwischen, war überwältigend und Lena umklammerte den Eimer fester mit beiden Händen. Was wollte sie? Einen Kuss. Nein! Das war keine angemessene Belohnung. Irgendetwas Unschuldiges, wie zum Beispiel ein Essen. »Abendessen?«
Jess schob ihre Sonnenbrille in die Haare und musterte Lena für einen Moment. »Du meinst ein Date?«
Ups, das war plötzlich gar nicht mehr unschuldig. Lena wollte gleichzeitig Ja und Nein sagen, also machte sie stattdessen einen Witz. »Nur ein Abendessen. Zwei Freundinnen, vielleicht die Tochter der Verliererin …«
Jess lachte und ihre Augen funkelten. »Du meinst die Tochter der Gewinnerin.« Sie schob die Sonnenbrille wieder nach unten, als würde sie sich für ein Wettrennen startklar machen. »Auf drei. Eins, zwei …« Sie schubste Lena leicht zur Seite und griff nach einem Trieb voller reifer Beeren. »Drei!«
Lena streckte sich um Jess herum und schnappte sich die Beere, die sie gerade gepflückt hatte, dann floh sie ein paar Meter weiter zu einer anderen guten Stelle.
Sie arbeitete sich methodisch die Hecke entlang, bis der Eimer fast voll war. Nur noch ein paar Beeren fehlten ihr, aber sie hatte alles in Reichweite abgeerntet. Eine Ranke wölbte sich über ihr und lockte mit reifen Beeren. Aber sogar auf Zehenspitzen hingen sie noch zu hoch. Lena stellte ihren Eimer auf den Boden und sprang hoch um ein paar Blätter zu greifen und den Zweig nach unten zu ziehen. Perfekt.
Eine nach der anderen pflückte sie die Beeren und ließ sie in den Eimer fallen. Um die Letzten zu erreichen, musste sie die Hände wechseln. Die Ranke versuchte, in ihre natürliche Form zurückzuschnellen, und als sie mit der anderen Hand nach ihr griff, tat der Zweig genau das.
Instinktiv versuchte Lena, sie festzuhalten, und achtete nicht darauf, wo sie ihre Finger platzierte.
Mit aller Kraft packte sie die Ranke. Und bohrte sich ein paar Dornen in Handfläche und Daumen.
Sie ließ los, der Zweig peitschte nach oben und es regnete überall reife Beeren.
»Aua! Scheiße!« Lena ballte ihre Hand zur Faust, um den Schmerz zu lindern. Wie konnte sie nur so dumm sein? Hatte sie letzte Woche beim Apfelpflücken nichts gelernt?
Jess lief zu ihr herüber. »Lena? Was ist passiert?«
»Nichts. Nur ein Kratzer an der Hand.« Lena sprach durch zusammengebissene Zähne.
»Lass mich schauen.« Jess’ Stimme blieb ruhig.
Bevor sie nachdenken konnte, öffnete Lena ihre Hand und streckte sie aus. Eine feine rote Linie folgte ihrer Lebenslinie wie ein böser Zwilling und die Innenseite des Daumens blutete ziemlich stark. Ein Tropfen fiel auf den Boden und traf fast Jess’ Schuh. »Äh, entschuldige.« Lena zog ihre Hand zurück.
Jess stoppte sie mit einem sanften Griff um das Handgelenk. Mit ihrer anderen Hand fischte sie ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Hosentasche. »Halt das mal.«
»Aber …« Lena konnte sich auch selbst verarzten.
»Tu mir einen Gefallen und lass mich.« Jess grinste. »Ich bin schließlich ein hoch qualifizierter Profi. Und ich brauche die Übung als Mutter. Wenn Ella auch nur ein kleines bisschen nach mir kommt, werde ich mich in Zukunft um viele Kratzer kümmern müssen.« Sie ließ Lenas Handgelenk los.
»Na gut, Doktor Riley.« Lena lächelte und ergriff die Taschentuchpackung mit ihrer freien Hand.
Jess zuckte zusammen. »Ähm, ja …« Sie sah überallhin, nur nicht in Lenas Augen. Seufzend zog sie ein Taschentuch aus der Packung und saugte damit das Blut von Daumen und Handfläche auf, um die Kratzer genauer inspizieren zu können. Dann hob sie Lenas Wasserflasche vom Boden und spülte ihre Hand, bevor sie die Innenfläche trocken tupfte. Ihre Finger waren warm und sanft. »Ich glaube, es ist nichts mehr in der Wunde«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Lena.
»Fühlt sich so an.« Lena konnte Jess’ Gesichtsausdruck nicht sehen, da diese ihren Kopf immer noch nach unten beugte, aber eine leichte Röte färbte ihre Ohren. Oder war das Sonnenbrand?
Jess zog ein weiteres Taschentuch aus dem Päckchen, öffnete es und faltete es der Länge nach in einen schmaleren, aber dickeren Streifen. Sie wickelte diesen um den blutenden Daumen und presste ihn mit der Hand fest gegen die Wunde. »Lass uns ein paar Minuten abwarten, das sollte reichen. Wann hattest du deine letzte Tetanusimpfung?«
Ungefähr als sie das letzte Mal einen Job mit einer Krankenversicherung gehabt hatte. Das würde sie aber nicht laut sagen. »Vielleicht vor vier oder fünf Jahren.«
»Das reicht.« Jess verlagerte ihr Gewicht und seufzte erneut. Dann straffte sie die Schultern und hob ihren Kopf. Ihr Blick war offen und direkt. »Ich entschuldige mich für mein arrogantes Benehmen, als wir uns kennengelernt haben. Ich könnte sagen, ich war wegen der Hormonschwankungen und der Diagnose schlecht drauf, aber das rechtfertigt nicht, wie ich dich behandelt habe.«
Lena suchte in ihrem Gesicht nach Hinweisen auf ihre Absichten, fand aber nur Ehrlichkeit und Bedauern. »Sagst du das, weil wir Freunde geworden sind und es dir jetzt, da du mich kennst, leidtut, wie du dich benommen hast? Oder bedauerst du aufrichtig, wie du andere Menschen behandelst?«
»Oh.« Jess runzelte die Stirn. »So genau habe ich darüber nicht nachgedacht. Vielleicht beides. Wenn ich dich nach unserem ersten Treffen nie wiedergesehen hätte, weiß ich nicht, ob ich mein Verhalten neu bewertet hätte. Wenn ich aber doch Zeit zum Reflektieren gehabt hätte, hätte ich es bereut. Ich war voller Wut und Frustration und habe das an allen ausgelassen, die mir über den Weg gelaufen sind. So jemand will ich nicht sein.« Während sie sprach, wurde der Griff um Lenas Daumen immer fester, bis er fast schmerzhaft war. »Was ich weiß, ist, dass es mir ehrlich leidtut.«
»Okay. Entschuldigung angenommen.« Lena lächelte und drückte sanft die Hand, die ihre hielt. Vielleicht verweilte sie länger, als es notwendig war, um ihre Botschaft zu vermitteln, aber ihre Hände fühlten sich zusammen einfach richtig an.
Erleichterung ersetzte die Anspannung in Jess’ Gesichtszügen. Ein zögerliches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.
Auf ihren sehr attraktiven Lippen. Eine rücksichtsvolle und charmante Jess war eine gefährliche Form von Ablenkung.
Lena wackelte mit dem Daumen. »Denkst du, es hat aufgehört zu bluten?«
»Ungeduldig?« Grinsend packte Jess den Daumen aus und inspizierte ihn. Als kein Blut mehr aufstieg, blies sie darüber. »So. Alles wieder gut.«
Die warme Luft von Jess’ Atem kitzelte auf ihrer Haut, aber Lena beschloss, das Gefühl zu ignorieren. »Du wirst eine super Mutter. Aber was ist Ihre professionelle Meinung, Frau Doktor? Werde ich überleben?«
Jess stöhnte. »Das habe ich wohl verdient. Ja, du wirst überleben, zumindest, bis du meine Kochkünste probiert hast.« Sie zeigte auf den Eimer, den sie fallen gelassen hatte, als sie zu Lena gerannt war. Brombeeren waren überall auf dem sandigen Boden verteilt. »Und wenn du mich weiter aufziehst, bekommst du das Gleiche, was ich jeden Abend koche: eine Flasche lauwarme Fertigmilch.«