Kapitel 17
Ein Auto hupte zweimal, dann dröhnte sein Motor, als es Jess’ BMW auf dem Highway überholte. Sie kontrollierte den Tacho. Ja, okay, sie fuhr leicht unter dem Limit, aber das war kein Grund, sich wie ein Idiot aufzuführen. Sie öffnete gerade den Mund, um jeden klar und deutlich darüber zu informieren, was sie über Typen wie diesen dachte, als Lena leise neben ihr lachte.
»Ich hoffe, die fünf Minuten, die er gewinnt, sind den Ärger wert, der ihn auffrisst.«
Jess klappte ihren Mund zu. Richtig. Wenn sie jetzt fluchte, wäre sie auch nicht besser. Und hatte sie nicht beschlossen, ihre Wut loszulassen? Sie schaute nach hinten zu Ella. Sie schlief noch. Das Mädchen mochte es wirklich, herumkutschiert zu werden, egal ob in einem Auto oder einem Kinderwagen.
Beim Anblick ihrer Tochter, die die Fahrt friedlich genoss, löste sich Jess’ Ärger so schnell auf, wie er entstanden war. Lena hatte recht. Blödes Verhalten anderer war es nicht wert, sich aufzuregen. Ohne sich darum zu kümmern, was andere von ihrem Tempo hielten, fuhr sie entspannt weiter, bis sie das Café erreichten.
»Wenn du in diese Straße einbiegst, kannst du am Hintereingang parken. Da wird heute keiner stehen.« Lena wies auf eine schmale Gasse.
Jess manövrierte ihren BMW nach rechts und hoffte, dass die Außenspiegel die Mauern an beiden Seiten heil überstehen würden. Nach ein paar Sekunden erreichten sie den Parkplatz des Cafés, der groß genug für zwei Lieferwagen schien. Sie parkte rückwärts ein, um ihnen einen besseren Zugriff auf den Kofferraum zu ermöglichen.
»Ich schließe die Tür auf. Wenn du willst, kannst du drinnen mit Ella warten, während ich alles auslade.« Lena sprang aus dem Auto und ging zu einer großen Metalltür. Die ausgeblichene blaue Farbe blätterte stellenweise ab, aber die Umgebung sah sauber aus und der kleine Grünstreifen neben dem Beton war frei von Unkraut.
Da Ella immer noch schlief, beschloss Jess mit den Kisten zu helfen, bevor sie ihre Tochter hineinholte. Sie hatten kleine Einmachgläser und einen unanständig großen Sack Zucker gekauft. Die Eimer mit Obst und Beeren warteten im Kofferraum und der Duft überwältige Jess, als sie die Kofferraumtür öffnete. Er beschwor ein Bild von Lena mit niedlich blau gefärbten Lippen, Fingerspitzen und sogar einer Haarsträhne herauf und ihre Gedanken gingen unaufhaltbar zum herben Weingeschmack und zum Kuss über.
Das Knarren der Tür riss sie aus ihrem Tagtraum. Mit zusammengepressten Lippen stapelte sie drei der Kisten übereinander und trug sie nach innen. Leise fluchend stellte sie fest, dass es zwei auch getan hätten.
»Wo willst du sie haben?« Jess bemühte sich, nicht angestrengt zu klingen, denn sie wollte sich nicht erneut blamieren. Lena hatte in den letzten Wochen schon genug ihrer Schwächen gesehen.
»Neben den Geschirrspüler, da drüben.«
Gut, dass Lena mit ihrem Finger auf das Gerät zeigte. Hier sah nichts wie irgendein Geschirrspüler aus, den sie jemals gesehen hatte. Jess stellte die Kisten mit den Gläsern auf die Arbeitsfläche daneben und atmete tief ein. Unter dem Vorwand, sich das Edelstahlungetüm genauer anzuschauen, streckte sie ihren Rücken durch. »Warum willst du sie spülen? Sie sind brandneu.«
»Ich lasse immer einen speziellen Reinigungs- und Sterilisationsgang laufen. Du weißt nie, wie sie gelagert wurden.«
»Gute Idee.« Jess hatte für hausgemachte Marmelade nicht so viel Aufwand erwartet, aber Lena schien ihr Geschäft ernst zu nehmen.
Sie räumten rasch den restlichen Kofferraum aus und stapelten alles, was Lena brauchte, in der Küche. Auf der letzten Tour nahm Jess die immer noch schlafende Ella mit, während Lena eine Einkaufstasche aus grobem Leinen trug.
Als Jess die Babyschale auf einen Tisch am Ende des Raumes stellte, öffnete Ella die Augen, ohne wirklich etwas zu fokussieren. Jess beugte sich hinunter, bis sie in Ellas Blickfeld war, und flüsterte: »Schlaf weiter. Ich bin hier.«
Ella gähnte, blinzelte zweimal und schlief wieder ein.
»Geht das in Ordnung, wenn ich die Spülmaschine benutze?« Lena band ihre Haare zu einem Knoten und zog eine Schürze an.
»Vermutlich.« Jess ging zu ihr. »Ich habe noch nicht herausgefunden, was sie aufweckt. Meistens schläft sie selbst bei grässlichem Lärm durch, wie letzte Woche, als Moms Nachbar die Kettensäge im Garten benutzt hat. Manchmal scheint ein Windhauch sie zu wecken. Wir probieren es einfach aus. Wie kann ich helfen?«
Lena hob die größte Schüssel, die Jess jemals gesehen hatte, von einem Regal und stellte sie in die Spüle. Dann füllte sie die Brombeeren um und bedeckte alle Früchte mit Wasser. »Du musst nicht helfen. So verdiene ich schließlich meinen Lebensunterhalt. Du musst noch nicht mal bleiben. Das hier wird eine Weile dauern.« Sie zeigte auf die Eimer mit Äpfeln und Birnen auf der Arbeitsfläche.
»Hatten wir diese Diskussion nicht schon?« Jess rollte ihre Augen und grinste. Sie hielt ihre Hand hoch, um die Punkte an ihren Fingern abzuzählen. »Ich habe angeboten, dir zu helfen; du hast mich nicht gefragt. Ich habe nichts zu tun, außer meine Tochter beim Schlafen zu beobachten. Ich werde noch wahnsinnig zu Hause. Ich muss trainieren, länger als eine Stunde am Stück arbeiten zu können. Du kannst das Ganze also als Rehamaßnahme betrachten.«
Lachend gab ihr Lena eine Schürze. »Okay, okay. Danke. Willst du die Brombeeren waschen? Äpfel und Birnen schälen? Oder die Gläser in den Geschirrspüler räumen?«
Jess stöhnte, als sie die Schürze umband. »Wir müssen die alle selbst schälen? Gibt es dafür keine clevere Maschine?«
»Nein, das Obst ist zu unregelmäßig gewachsen. Deswegen sind wir ja den ganzen Tag hier. Immer noch bereit zu helfen?« Lenas Augen funkelten herausfordernd.
Jess hatte noch nie gern gekocht oder die Vorbereitungen genossen, aber sie freute sich tatsächlich darauf, einen Nachmittag mit Lena in der Küche zu verbringen. »Lass mich mit dem Geschirrspüler anfangen. Wenn ich Glück habe, hast du vielleicht schon die meisten Äpfel geschält, bis ich fertig bin.«
»Das hättest du wohl gern.« Lena kam zu ihr. »Lass mich dir zeigen, wie das funktioniert.«
Bis Jess alle Gläser in die großen Plastikkörbe einsortiert und den Spülgang gestartet hatte, hatte Lena bereits einen erstaunlich großen Teil des Obsts geschält, aber es waren noch mehr als genug Äpfel für Jess übrig. Sie schaute kurz nach Ella, ob ihr die Geräusche etwas ausmachten, aber ihre Tochter schlief ruhig weiter.
Lächelnd schaute Lena auf, ohne das Schälen zu unterbrechen, und lud Jess mit einem Kopfnicken ein, näher zu kommen. Ihre Hände flogen förmlich über den Apfel und entfernten die Schale in einem Stück. Spiralförmige Streifen fielen auf die Arbeitsfläche und verbreiteten ein leicht säuerliches, aber erfrischendes Aroma. Nachdem sie mit dem Apfel fertig war, warf Lena ihn in einen Topf mit Wasser, wo er an der Oberfläche schwamm.
»Zitronenwasser, um braune Flecken zu vermeiden.«
»Clever. Zitronensäure als Antioxidans.«
»Wenn du das sagst. Ich weiß nur, was mir meine Oma beigebracht hat, was sie wiederum von ihrer Mutter gelernt hat.«
»Das klingt nach einem vernünftigen Rat.« Jess lächelte und streckte ihre Hand aus. »Darf ich es mal versuchen?«
»Klar. Schäl, was einfach geht, und kümmere dich nicht um den Strunk. Den schneiden wir später raus.«
Jess nahm den Schäler. Wie hatte Lena ihn gehalten? Sie hatte das noch nie gemacht, aber das wollte sie lieber nicht gestehen. Beim ersten Versuch blieb sie nach zwei Zentimetern im Apfel stecken und entfernte nur ein kleines und ungleichmäßiges Stück Schale. Sie veränderte den Winkel und versuchte es erneut. Diesmal schaffte sie es ein paar Zentimeter weiter, bevor sie wieder stecken blieb. Das sollte nicht so schwierig sein. Menschen auf der ganzen Welt machten das jeden Tag! Aber mit Lenas Blick auf ihr breitete sich eine Hitze in Jess aus, die von ihrem Nacken zu ihren Wangen aufstieg.
»Darf ich?« Lena streckte ihre Hand aus, ohne Jess zu berühren.
Jess hatte ein spöttisches Grinsen erwartet, aber Lena sah sie nur ermunternd an. Sie wollte ihr den Schäler reichen, aber Lena nahm stattdessen Jess’ Hand und drehte das Gerät in die richtige Position. Als sich ihre Finger berührten, spürte Jess ein leichtes Kribbeln im Arm. Na super, die Funken waren wieder da und das, während sie mit scharfen Instrumenten spielten. Sie musste vorsichtig sein, damit sie heute nicht diejenige war, die zu bluten anfing.
Lena ließ sie los. »Versuch es noch einmal.« Ihre Stimme war rau und hatte denselben Effekt auf Jess wie ihre Berührung Momente vorher.
Jess musste tief einatmen, bevor sie sich zutraute, ihre Hände ohne Zittern zu bewegen. Überraschenderweise schälte sie gleich auf Anhieb fast den ganzen Apfel.
»Gut. Du bekommst den Dreh raus, wenn du ein paar mehr gemacht hast.« Lena trat zur Seite und holte einen zweiten Schäler aus einer Schublade.
»Ein paar oder ein Dutzend, aber wer zählt schon mit?« Jess musste die Stimmung auflockern. Diese ständigen Kribbel- und Wärmeanfälle verwirrten sie. Seit wann hatten Frauen diesen unkontrollierbaren Effekt auf sie? Normalerweise war sie diejenige, die verführte und die andere aus der Fassung brachte, selten war es umgekehrt. Ein Themenwechsel war dringend notwendig. »Hast du mit deiner Großmutter viel gekocht?«
Lena nahm ihren Platz auf der anderen Seite des Topfes wieder ein. »Ich habe immer geholfen − schälen, schneiden, umrühren. Mein Opa hat oft in der Spätschicht gearbeitet und wir haben die Abende in der Küche verbracht, die Mahlzeiten für den nächsten Tag vorbereitet oder Früchte eingekocht. Meine Oma hatte nie viel Geld und ist in einer ländlichen Gegend aufgewachsen. Sie wollte immer auf das Schlimmste vorbereitet sein, auch wenn meine Großeltern ein stabiles Einkommen und einen Supermarkt um die Ecke hatten.«
»Benutzt du ihre Rezepte?« Jess warf ihren Apfel in den Topf und suchte sich den nächsten aus. Sie war nicht so schnell wie Lena, aber langsam bekam sie ein Gefühl für das Instrument.
»Nicht wirklich.« Lena lachte. »Sie glaubte an die magische Wirkung von Zucker und wollte, dass ihre Konserven mindestens fünfzig Jahre halten, falls ein Krieg ausbricht oder so. Ich habe viel Zucker aus den Rezepten gestrichen und benutze mehr Äpfel, um die Marmelade einzudicken. Die sind eine natürliche Pektinquelle. Aber die Grundlagen habe ich von ihr gelernt.«
Lenas Stimme war leise und warm wie ein Sommerabend. Die Liebe zu ihrer Familie war offensichtlich. Trotzdem sprach sie selten über ihre Mutter und Jess wollte nicht nachfragen. Aus den Bruchstücken, die Lena erwähnt hatte, hatte Jess den Eindruck gewonnen, dass sie nicht bei ihrer Mutter aufgewachsen war. Und jetzt war sie im Gefängnis, aber Lena hatte nicht gesagt, wie lange schon. Jess unterdrückte ihre Neugier. Sie wollte die Stimmung nicht ruinieren. Lena würde ihr mehr erzählen, wenn sie dazu bereit war.
Seite an Seite arbeiteten sie sich durch den Stapel an Äpfeln, während Lena lebhaft von ihrer Großmutter und deren Lieblingsmahlzeiten berichtete. Jess konnte sich gut vorstellen, wie Lena als Kind am Küchentisch gesessen und über ihren Tag geredet hatte.
Würde Jess diese Art von Erlebnissen mit Ella teilen können, wenn sie älter war? Wer würde mit Ella reden, während Jess im Krankenhaus war? Zu ihren Zwölf-bis-Vierzehn-Stunden-Schichten zurückzukehren, klang gar nicht mehr so verlockend.
»Kannst du den Rest fertig machen? Ich schneide sie klein und koche schon mal die erste Fuhre.« Lena holte ein Schneidebrett und eines dieser Kochmesser hervor, die Jess eher mit Krimisendungen verband.
Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an das Messer in der Nähe ihrer Finger. »Sei vorsichtig. Meine Nähkünste sind etwas eingerostet.«
»Keine Sorge. Das ist nicht mein erstes Mal.« Lena verwandelte die Äpfel schneller in kleine Stücke, als Jess es für möglich gehalten hatte. »Kannst du bitte die Minze waschen?«
»Minze? Wolltest du nicht Brombeermarmelade machen?« Jess sah sich nach den Kräutern um.
»Ich habe sie aus Maggies Garten mitgebracht.« Lena zeigte auf die Leinentasche. »Und ich mache immer etwas Besonderes mit rein. Das unterscheidet meine Konfitüren von dem, was du im Supermarkt kaufen kannst.«
»Was sind deine beliebtesten Sorten?«
»Erdbeer-Jalapeño und Aprikose-Vanille-Earl-Grey-Tee. Aber ich habe noch genug davon auf Lager. Ich variiere meine Aufstriche mit jeder Saison, im Herbst und Winter verkaufe ich auch viele Chutneys. Heute fangen wir mit Brombeere-Apfel-Minze an und danach machen wir Birne-Brombeere-Rosmarin.«
Jess nahm das Bündel Minze − komplett mit Stängeln und Blättern − aus dem Beutel und wusch es. »Ich habe immer nur Erdbeer- oder Blaubeermarmelade gekauft, das Exotischste war mal ein Hauch Vanille. Vielleicht bin ich etwas langweilig.« Sie schüttelte die Kräuter aus und legte sie neben Lenas Schneidebrett.
Ohne Jess anzusehen, befreite Lena die Minze von den Stängeln und schnitt die Blätter in feine Streifen. »Oh, langweilig ist gar nicht so verkehrt. Aber manchmal ist was Schärferes auch aufregend.«
Die Hitze bahnte sich schon wieder ihren Weg durch Jess’ Körper, als hätte sie einen Bissen von der Jalapeño genommen, die Lena erwähnt hatte. Flirtete Lena mit ihr oder klammerte sich ihre wiedererwachte Libido einfach an irgendwelche Aussagen?
»Soll ich die Brombeeren waschen?« Vielleicht half es ja, wenn sie ihre Hände in kaltes Wasser tauchte. Mit etwas Glück würde sich dann bestimmt auch ihr restlicher Körper abkühlen.
Lena konnte nicht anders, als Jess bei der Flucht zuzusehen. Ihr Ausdruck, als Lena sie geneckt hatte, war zu lustig gewesen. Mit Mühe wandte sie ihren Blick ab und stellte einen der riesigen Edelstahltöpfe auf den Herd.
Sie sollte damit aufhören. Ihre Ausrede, dass sie gern an der Beherrschung der anfangs zu ernsten, zu angespannten Frau rüttelte, war wirklich nur genau das – eine Ausrede. Sie hatte Jess’ Maske für einen Moment lüften und ihr so das arrogante Benehmen heimzahlen wollen. Aber seit sie Freunde geworden waren, war das nicht mehr notwendig. Jess hatte sich ihr geöffnet und ihr mehr als nur einen kurzen Blick hinter die Kulissen angeboten. Dabei dachte Lena noch nicht einmal an den Kuss, der ihre Beziehung auf eine andere Stufe gehoben hatte. Oder sie zumindest auf irgendeiner Kante balancierte. Also warum tat sie das noch immer? Wollte sie in die Mehr-als-nur-Freundinnen-Ebene aufsteigen?
Seufzend griff Lena nach der Küchenwaage und wog die Äpfel ab, dann schüttete sie das Obst in den Topf. Nach einer kurzen Berechnung gab sie Zucker dazu, schloss den Deckel und ging zu Jess, um zu schauen, wie weit diese war.
Sie hatte die Blätter und den Schmutz entfernt und platzierte die Brombeeren in ein Sieb. Ganz vorsichtig, jede einzeln. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und sie biss sich konzentriert auf die Unterlippe, als sie jede nach schlechten Stellen absuchte.
Lena trat neben sie, um sich die Hände in der zweiten Spüle zu waschen.
»Wie mache ich mich, Chefin?« Jess grinste. »Entspricht alles deinen Ansprüchen?«
»Gut. Du könntest eine neue Karriere als Küchenhelferin anstreben.« Lena trocknete ihre Hände an einem sauberen Handtuch ab. »Würdest du sie für mich wiegen? Ich muss mir meine Notizen ansehen, um herauszufinden, wie viele ich letztes Mal genommen habe.«
»Mach ich.« Jess sortierte seelenruhig weiter.
Lena holte ihr Notizbuch und einen Stift aus ihrem Rucksack. Sie machte einen kleinen Umweg, um nach Ella zu sehen, die immer noch tief schlief. »Du hast Glück, dass sie so gern schläft. Wie ist es nachts?«
»Am Anfang, als ich mit ihr allein zu Hause war, hatte ich das Gefühl, sie schläft nie. Immer wenn ich für eine Sekunde meine Augen geschlossen habe, hat sie ihre geöffnet und geschrien. Aber im Moment scheint sie in einer entspannteren Phase zu sein. Ich hoffe, das hält noch eine Weile an.« Jess schüttete die Hälfte der Brombeeren in eine Schüssel auf der Waage. »Wie viele brauchst du?«
Lena blätterte suchend im Buch, bis sie die richtige Seite fand, und warf einen Blick auf die Waage. »Noch eine Handvoll.«
Jess hob eine Augenbraue. »Eine Handvoll? Was für eine Maßangabe ist das denn?«
»Die stammt von meiner Oma. Wenn sie gekocht und gebacken hat, benutzte sie immer Händevoll und Prisen. Einfach dies und das dazugeben, bis ihr Bauchgefühl ihr sagte, dass es genug sei. Ich versuche zumindest, mich an die richtigen Verhältnisse zu halten, wenn ich ein Rezept wiederhole.«
»Nun ja, es ist dein Name auf der Marmelade. Als Wissenschaftlerin ist das alles sehr beunruhigend für mich.« Jess schüttelte sich übertrieben und gab eine kleine Handvoll Brombeeren in die Schüssel. »Wie fühlt sich dein Bauch jetzt?«
»Perfekt.« Lachend hob Lena den Deckel und rührte die Äpfel um. Sie fingen schon an zu zerfallen und ein himmlisches Aroma stieg mit dem Dampf auf. »Du kannst jetzt die Brombeeren dazugeben.«
»Hmm.« Jess lehnte über ihrer Schulter und ihr Stöhnen vibrierte auf der empfindlichen Haut hinter Lenas Ohr.
Der Holzlöffel fiel ihr aus der Hand.
Heißer Apfelbrei spritzte nach oben.
Lena sprang zurück und stieß gegen Jess, die sie mit einem Arm um ihre Hüfte vor dem Fallen bewahrte.
»Vorsicht«, murmelte Jess und griff um sie herum, um den Löffel mit ihrer freien Hand zu retten. »Verbrenn dich nicht.«
Obwohl kein Tropfen der heißen Flüssigkeit ihre Haut berührt hatte, war es zu spät für die Warnung.
Jess ließ sie los, um die Brombeeren in den Topf zu geben. »Und jetzt?«
»Jetzt warten wir. Schließ den Deckel und lass es köcheln.« Würde das auch mit ihrer Beziehung funktionieren? Wenn sie lang genug warteten, würden sich die verschiedenen Zutaten dann gut genug mischen, um sich in etwas Neues, etwas Köstliches zu verwandeln?
Lena trat zurück. Sei nicht albern. Das hatte bei ihr noch nie funktioniert. Jede einzelne ihrer früheren romantischen Affären war ungenießbar geworden, nachdem sie zu lange gezogen hatten. Sie hatte weder Zeit noch Energie, um in eine Beziehung zu investieren, während sich ihre Schulden über ihr auftürmten und sie jede Sekunde des Tages damit beschäftigt war, sich nicht lebendig davon begraben zu lassen.
Und sie war heute hier, um zu arbeiten − nicht um zu flirten. Sie griff nach ihrem Notizbuch. »Ich muss die Mengen für das nächste Mal aufschreiben.«
Das Notieren der Zahlen dauerte nicht lange genug, also skizzierte sie ein paar Brombeeren daneben, bis sie ihre emotionale Distanz wiedergefunden hatte.
Jess war auf die andere Seite der Küche gegangen und sprach mit Ella in diesem leisen, tröstenden Tonfall. Als Antwort auf das Gemurmel ihrer Mutter gab Ella ein paar glucksende Geräusche von sich.
»Wäre es okay, hier etwas Milch warm zu machen?« Jess holte Ella aus ihrer Babyschale.
»Klar. Kein Problem.« Lena füllte einen kleinen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.
Jess kam mit Ella im Arm und der Babytasche über der Schulter zu ihr. »Würde es dir etwas ausmachen, sie für einen Moment zu halten?«
»Ausmachen?« Lena nahm Ella in die Arme. »Ich liebe es. Hi, Süße.«
Ella antwortete mit einem entzückenden Lächeln.
»Hast du das gesehen? Sie lächelt.«
Jess füllte die Fertigmilch in eine Flasche und stellte sie ins Wasser. »Sie weiß, dass sie in guten Händen ist. Gib sie zurück, wenn du wieder etwas arbeiten musst.«
»Die Birnen können warten.«
Jess’ Blick fiel auf das offene Buch. »Kann ich mir die anderen Rezepte ansehen?«
»Klar.«
Jess blätterte ein paar Seiten durch, blieb dann aber an einer Zeichnung hängen. Sie pfiff anerkennend. »Hast du das gezeichnet? Das ist unglaublich.«
»Ähm, ja. Ich habe nur ein paar Ideen für die Etiketten ausprobiert.«
»Warte, du machst deine eigenen Etiketten? Ich dachte, du hast einen Designer beauftragt oder sie aus dem Internet heruntergeladen oder so was.«
»Nein, ich könnte mir keinen Designer leisten.«
»Und du brauchst auch keinen. Sie sehen absolut professionell aus. Du solltest das zu deinem Beruf machen.«
»Danke, aber … Es zum Beruf zu machen, bedeutet, dass ich Zeit und Geld investieren muss, die ich nicht habe. Ich habe auch keine Ausbildung. Und Zeichnen kann ich immer als Hobby betreiben.« Lena hoffte, dass Jess das Thema fallen ließ. Sie war gerade glücklich, Ella im Arm zu halten, und wollte den Moment nicht mit Gedanken an ihre finanzielle Situation verderben.
Jess betrachtete sie zweifelnd, akzeptierte aber ihre Antwort und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Milch. Sie nahm die Flasche aus dem Topf und trocknete sie ab. »Willst du sie wieder füttern?«
Lena schluckte und hoffte, dass ihre Stimme nicht brüchig wurde. »Ja. Sehr gern.«
Ella griff sich einen Träger von Lenas Schürze und umklammerte ihn mit ihrer winzigen Faust. Ihre Augen waren so groß und voller Vertrauen. Für sie war Lena ein sicherer Mensch, der sie mit warmen Armen hielt, mit sanfter Stimme beruhigte und ihr Milch gab. Weder ihre Vergangenheit noch ihre gegenwärtigen Probleme waren wichtig.
Gestern hatte sie Schwierigkeiten gehabt, sich auf den Moment einzulassen, als die Erinnerung, wie sie Tammy das erste Mal die Flasche gegeben hatte, sich in den Vordergrund gedrängt hatte. Tammy war damals erst seit einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden und sollte nur dann Fertigmilch bekommen, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war. Aber ihre Mutter hatte getrunken und schlief ihren Rausch aus, ohne auf Tammys Weinen zu reagieren. Lena hatte damals das Pulver angerührt und sich ganz sorgfältig an die Packungsanweisung gehalten. In ihren siebzehn Jahren hatte sie noch nie einem Baby die Flasche gegeben, auch wenn sie schon öfter auf Kinder aus der Nachbarschaft aufgepasst hatte. Sie war mit ihren Nerven am Ende gewesen, aber in der Sekunde, in der Tammy ihre Lippen um die Flasche legte und den ersten Schluck nahm, hatte sie ihr Herz verloren.
Lena seufzte. Wie alle wichtigen Beziehungen in ihrem Leben hatte auch diese einfache Verbindung zu ihrer Schwester nicht gehalten. In den Augen ihrer Mutter und denen von Tammys Vater war sie nur die Babysitterin gewesen. Tammys Vater hatte das klargemacht, auch noch Jahre später, als sich Lena von dem destruktiven Verhalten ihrer Mutter distanziert hatte. Als ihr ihre Schwester genommen wurde, hatte sie auch einen Teil ihres Herzens verloren, den sie nie zurückbekommen würde.
Lena beugte ihren Kopf über Ella und atmete diesen unvergleichlich frischen Babyduft ein. Kein anderer Geruch auf der Welt war so beruhigend. Sie schluckte ihr Selbstmitleid hinunter und küsste stattdessen Ellas Bauch.
Jess schien nichts bemerkt zu haben. Sie prüfte die Temperatur der Flasche an der Haut ihres Unterarmes. »Perfekt.« Sie hielt sie Lena hin.
»Danke.« Lena konzentrierte sich auf das Baby vor ihr. Sie war nicht Tammy, sondern Ella, eine wundervolle, winzige Person. Sie würden ihre eigene Verbindung finden, solange sie die Chance hatte, ein Teil Ellas Lebens zu sein. »Hi, Ella, ich habe etwas für dich.«
Am Mittwochnachmittag kehrte Jess von ihrem Mittagsspaziergang zurück und hörte aufgeregte Stimmen, irgendwo im Erdgeschoss. Sie nahm Ella aus dem Kinderwagen und auf ihre Hüfte, dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter und Lena. Sie fand beide im Esszimmer.
Ihre Mutter sah von den Papieren auf, die sie und Lena auf der gesamten Länge des Zwölf-Personen-Tisches ausgebreitet hatten. »Wie geht’s meinen Mädchen?«
»Mom.« Jess rollte mit den Augen. »Nenn mich nicht so.«
Grinsend schob sie ihre Lesebrille in die grauen Locken. »Warte nur ab, bis Ella älter ist. Mal sehen, ob du dann aufhören kannst, sie dein kleines Mädchen zu nennen. Ich habe immerhin das Kleine weggelassen.«
Jess stöhnte und konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht mit dem Fuß aufzustampfen. Okay, wenn sie gegen die Bezeichnung Mädchen protestierte, sollte sie sich nicht wie eine Heranwachsende benehmen. Aber ihre Mutter wusste nur zu gut, wie sie Jess aufziehen konnte.
»Hier, konzentrier dich lieber auf deine Enkelin.« Sie reichte Ella weiter und musste lächeln, als sich die Aufmerksamkeit ihrer Mutter sofort auf das Baby richtete.
Jess ging zu Lena, die die Unterhaltung mit einem Grinsen beobachtet hatte. »Woran arbeitet ihr?«
»Wir sortieren ihre Notizen und arbeiten an einer Gliederung.« Kleine Lachfältchen bildeten sich um Lenas Augen, als sie auf die Papierstapel zeigte. »Maggie hat über die Jahre so viele Ideen gesammelt.«
Blätter mit der Handschrift ihrer Mutter waren überall auf dem Tisch verteilt, teilweise mit groben Skizzen, vermutlich von Pflanzenteilen. Auf einigen klebten bunte Haftnotizen, mit Beschriftungen in Lenas ordentlicher Handschrift. Jemand hatte ein riesiges Stück Papier an der Porzellanvitrine ihrer Urgroßmutter befestigt und die gleichen bunten Haftnotizen ergaben zusammen mit Verbindungslinien ein Muster, das hoffentlich für Lena mehr Sinn ergab als für Jess.
»Du meinst, du bekämpfst das Chaos? Meine Mom hat mit ihrer unwissenschaftlichen Herangehensweise schon mehr als einen Assistenten zum Weinen gebracht.« Jess grinste bei der Erinnerung an die vielen freundschaftlichen Diskussionen ihrer Eltern über die Arbeitsweise ihrer Mutter, die an diesem Esstisch geführt worden waren. Ihr Vater war wie Jess gewesen: sorgfältig, organisiert und linear. Ihre Mutter glaubte an Kreativität, Chaos und das organische Wachstum von Ideen. Aber angesichts der Tatsache, dass sie als angesehene Professorin nach einer langen Karriere an der Uni in Rente gegangen war, musste diese Vorgehensweise für sie funktioniert haben.
»Ich kann den wissenschaftlichen Inhalt des Buches nicht beurteilen, aber ich helfe ihr, alles mit einer Mindmap zu visualisieren, und wir codieren die verschiedenen Themen farblich.« Lena wies auf die Haftnotizen. »Sobald sie entschieden hat, was in das Buch kommt, fange ich an, die Notizen abzutippen. Es ist spannend zu lernen, was draußen direkt unter unserer Nase wächst.« Ihre Wangen waren gerötet und sie hatte sich beim Reden nach vorn gebeugt, näher an Jess heran.
Nah genug, dass ihr Duft − frische Seife mit einem Hauch Minze − Jess’ Sinne überflutete und ihre Gedanken wegfegte. Sie hielt den Atem an und ging ein paar Schritte weiter, zur Mindmap, in der Hoffnung, ihre Gedanken wieder in eine angemessene Bahn zu lenken. Logik war immer eine gute Ablenkung.
Je länger Jess die bunten Zettel und kurvigen Verbindungslinien betrachtete, desto mehr konnte sie die zugrunde liegende Struktur erkennen. Beeindruckend. Lena tolerierte es nicht nur, mit ihrer Mutter zu arbeiten, sie schien es tatsächlich zu mögen. Und war gut darin.
Ein Telefon piepte und Lena seufzte.
Jess drehte sich zu ihr um.
Während Lena eine Nachricht tippte, erlosch der Enthusiasmus auf ihrem Gesicht, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Sie ließ ihre Schultern hängen, als sie langsam zur Küchentür ging. »Maggie?«
»Ja, meine Liebe?«, antwortete ihre Mutter aus dem Nachbarraum.
»Es tut mir leid dich zu fragen, aber könntest du mir heute Abend um sieben bei einer Massageklientin helfen?«
»Sicher.«
»Warte, haben du und Ella nicht Pläne mit Clarissa?« Jess wusste, dass sich ihre Mutter darauf gefreut hatte, mit ihrer Enkelin anzugeben. »Ich kann einspringen.«
Von der Tür aus sah Lena Jess mit großen Augen an. Um es noch schlimmer zu machen, erschien ihre Mutter hinter Lena mit einem fast identischen Gesichtsausdruck.
Warum starrten sie so? Sie bot ihre Hilfe an, weil ihre Mutter ihre Freundin seit einiger Zeit nicht gesehen hatte. Jess widerstand dem Drang, wegzusehen, und straffte ihre Schultern. »Es ist ja nicht so, als ob ich es noch nie getan hätte. Es ist nur eine Massage.«
Sobald sie es ausgesprochen hatte, schlug ihr eine Hitzewelle ins Gesicht, als verließe sie mitten im heißen Sommer ein klimatisiertes Hotel. Es war nicht nur eine Massage. Vielleicht für Lena, die ihrer Arbeit nachging. Aber für Jess würde es eine Übung in Selbstbeherrschung werden. Lenas Berührung hatte sie schon vor dem Kuss erregt. Vielleicht war das eine dumme Idee. Vielleicht sollte sie ihr Angebot zurückziehen. Vielleicht …
»Oh, vielen Dank.« Lena strahlte über das ganze Gesicht und Jess war verloren.
»Großartige Idee. Aber du musst ihre Windel wechseln, bevor ich mit ihr angeben kann.« Ihre Mutter gab ihr Ella zurück.
Jess setzte ein fröhliches Lächeln auf, nachdem ihr so gar nicht war. »Ich lasse euch beide zurück an die Arbeit gehen und mache mit Ella ein Nickerchen.«
Sie würde sich keine Sekunde lang entspannen können, aber sie konnte eine Strategie entwickeln. Schließlich arbeitete sie in einem Beruf, bei dem es dazugehörte, ständig halb nackte Menschen anzufassen, und sie hatte noch nie auch nur den Anflug von Erregung dabei gespürt. Wenn sie Lena bei ihrer Arbeit assistierte, würde sie es einfach genauso angehen. Wie ihre eigene Arbeit.
Und sie hatte drei Stunden, um sich das glaubhaft einzureden.