Kapitel 22
Lenas Auto ächzte und stöhnte, als es sich das letzte steile Stück Straße vor Maggies Einfahrt hochkämpfte. Es schien zu wissen, dass es sich jetzt, nach der harten Arbeit, ausruhen durfte. Lena seufzte mit ihm. Die Einfahrt war leer. Nicht ungewöhnlich an einem Montagmorgen, aber das ganze Wochenende hatte sie sich davor gescheut, Jess wiederzusehen. Es war eine Erleichterung, dass sie vor der nächsten Konfrontation mindestens zehn Stunden Aufschub hatte.
Lena stieg aus und streckte Rücken und Nacken. Sie wünschte wirklich, sie hätte noch Zeit für Tai-Chi, aber sie war mit Maggie verabredet und schon spät dran.
Rachels altes Sofa war unbequem gewesen, aber ausreichend. Lena hatte vergessen, dass Rachel bei ihrer Mutter lebte, als sie einen Schlafplatz fürs Wochenende gesucht hatte. Aber sie hatte Lena ohne Zögern aufgenommen und ihr Zeit und Abstand zum Nachdenken gelassen. Weglaufen war nicht Lenas übliche Reaktion, aber sie wollte sich Jess nicht stellen, solange sie noch dermaßen wütend und verletzt war. Und der Abstand hatte geholfen. Das ganze Wochenende war sie all die Dinge durchgegangen, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Bei jeder Aussage hatte sie die aufkommenden Gefühle untersucht und sie im Geist hin und her gewälzt, um zu ergründen, ob sich hinter ihnen vielleicht noch tiefere Ängste versteckten.
Jess hatte einige wunde Punkte getroffen. Lena war auf der Suche nach einer eigenen Familie, aber das war ja nichts Falsches. Suchte nicht jeder nach etwas Ähnlichem? Aber sie wollte ihre Großmutter oder Mutter nicht ersetzen. Sie versuchte, ihren eigenen Weg zu gehen, wo auch immer er sie hinführte.
Normalerweise führte er sie nicht zu tieferen Beziehungen mit anderen Menschen. Sogar ihre vielen Freundschaften blieben oberflächlich. Sie hielt sich fern von Menschen, da sie immer Zurückweisung befürchtete. Also war sie von Stadt zu Stadt und Haus zu Haus gezogen, ohne Wurzeln zu schlagen. Bis jetzt. Hier, in Maggies Garten, wollte sie bleiben und ihre Freundschaft vertiefen.
Das war der Grund, warum sie sich nicht mit Jess einlassen sollte. Alles war zu verflochten: ihr Haus, ihre Arbeit, ihre Freundschaft mit Maggie. Sie mochte Maggie und schätzte ihre Meinung, sie liebte Ella und Jess … Es wäre so einfach, sich in sie zu verlieben, wenn Jess weiter charmant und aufmerksam blieb. Aber Jess hatte klargestellt, dass sie Lena nicht als gleichberechtigt ansah. Sie hatte Lenas Leben verplant, ohne sie zu fragen, als wäre Lena nicht in der Lage, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen.
Auf halber Strecke zum Haupthaus kämpfte Lena mit jedem Schritt, als würde sie durch kniehohen Schlamm waten. Was, wenn Jess mit ihrer Mutter gesprochen hatte und Maggie den Plan unterstützte? Lena konnte sich nicht zwischen Mutter und Tochter stellen und erwarten, dass Maggie ihre Partei ergriff.
Sie ließ sich auf die Bank neben dem Weg fallen und vergrub ihren Kopf in den Händen. Was hatte sie erwartet? Sie rieb sich die Augen, als könnte das die Tränen aufhalten.
Jess’ Plan war zu viel gewesen. Plötzlich war alles wie damals mit ihrer Mutter, nur konnte Lena jetzt bereits die bevorstehenden qualvollen Konsequenzen sehen. Jess wollte sie als Babysitter, genau wie ihre Mutter damals, nur dass sie diesmal bezahlt werden sollte. Und Lena wusste, wie das enden würde. Sie würde Ella über alles lieben und vermutlich auch Jess. Dann würde Ella älter werden oder Jess eine Partnerin finden, die Ella eine Mutter sein würde, oder irgendetwas anderes würde passieren. Lena würde gehen müssen und einen weiteren Teil ihres Herzens zurücklassen.
Ihr Herz war schon so oft zerrissen worden, sie spürte immer noch die Folgen. Sie hatte sich nicht wieder so verletzlich machen wollen, aber es war zu spät. Alle Frauen der Familie Riley hatten sich einen Weg durch ihre Schutzmauern gebahnt.
Und jetzt brachen eben diese Mauern zusammen und begruben sie lebendig in ihrer Mitte. Sie versuchte, einzuatmen, sich zu beruhigen, aber ihr Brustkorb war so eng, als wäre sie tatsächlich unter Steinen eingeklemmt.
Ein Stöhnen − halb Schrei, halb Weinen − brach aus ihr heraus und sie presste ihre Hand über den Mund. Sie durfte jetzt nicht weinen. Sie konnte nicht zusammenbrechen.
Hör auf! Steh auf! Aber ihre Beine gehorchten nicht und waren so schwer, als wären sie mit Ketten an die Bank gefesselt.
»Lena, Liebes.« Maggie setzte sich auf die Bank neben sie und schlang einen Arm um ihre Schultern.
Sie war zu erschöpft, um noch um ihre Beherrschung zu ringen, und ließ sich in die Umarmung ziehen. Die Tränen flossen weiter, strömten über ihr Gesicht.
Maggie hielt sie fest und streichelte ihren Rücken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Lena keine Tränen mehr übrig und der Schmerz war von Taubheit abgelöst worden. Sie befreite sich aus Maggies Armen und trocknete ihre Augen. Ihre Nase war verstopft und sie suchte in ihrer Hose nach einem Taschentuch.
»Hier.« Maggie reichte ihr ein Stofftaschentuch − weiß, mit einem gestickten Lavendelzweig darauf.
Lena fuhr mit ihrer Fingerspitze über die handgefertigte Stickerei. »Das ist zu kostbar.«
»Hier«, wiederholte Maggie und drückte es in ihre Hand. »Du bist auch kostbar.«
Das ließ die Tränen erneut aufsteigen, aber Lena kniff die Augen zusammen, um sie zurückzuhalten. »Danke.« Sie trocknete ihr Gesicht, putzte ihre Nase und faltete das Tuch sorgfältig, um es in ihre Tasche zu stecken. Sie würde es später waschen. »Es tut mir so leid.«
Maggie schüttelte den Kopf. »Das muss es nicht. Komm mit. Ich habe vielleicht, was du jetzt brauchst.« Sie stand auf und bot ihre Hand an.
Auch wenn sie nicht bedürftig erscheinen wollte, griff Lena nach der Hand wie nach einer Rettungsleine und ließ sich von Maggie auf die Terrasse führen. Der Tisch war für zwei gedeckt, mit einem Stapel Zimtschnecken in der Mitte.
»Hast du schon gefrühstückt? Ich hatte heute Morgen Lust zu backen.« Maggie hielt ihr den Teller entgegen.
»Danke.« Lena nahm eine der angebotenen Zimtschnecken, obwohl ihr Magen zu verkrampft war, um zu essen. Der Duft von Zimt und Zucker erfüllte die Luft mit Erinnerungen an ihre Großmutter. Anstatt ihrem ersten Impuls zu folgen und die Erinnerung wieder sicher in ihrem Inneren zu verstauen, ließ Lena sich von ihr einhüllen wie von einer Umarmung. Sie brauchte das heute.
Maggie goss ihnen beiden Kaffee ein. »Ich habe dich das ganze Wochenende nicht gesehen.«
»Ich, ähm, ich war bei Rachel.« Lena riskierte einen Bissen, um etwas Zeit zu gewinnen, auch wenn sie nicht sicher war, ob ihr Magen mitspielen würde.
»Du musst nichts erklären, aber … Hat Rachel dich zum Weinen gebracht oder ist etwas anderes passiert? Kann ich helfen?«
Also hatte Jess nicht mit ihrer Mutter geredet. Lena war sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder enttäuscht war. Sie legte die Zimtschnecke auf ihrem Teller ab, nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Er war zu bitter nach der intensiven Süße. »Ich musste über ein paar Sachen nachdenken und … Ich denke, ich sollte ausziehen.« Jetzt da sie gesagt hatte, wovor sie sich das ganze Wochenende gefürchtet hatte, stellte sich nicht die erhoffte Erleichterung ein. Sollten Dinge nicht einfacher werden, indem man sie laut aussprach?
»Was? Warum?« Maggie stellte ihre Kaffeetasse so schnell auf den Tisch, dass der Inhalt überschwappte und ein kleiner Tropfen an der Tasse herunterlief. »Ist etwas passiert?«
»Jess und ich hatten ein paar Diskussionen am Freitag und Samstag und wir haben beide verletzende Sachen gesagt. Aber ein bisschen Wahrheit war schon dabei in ihren Vorwürfen.«
»O nein!« Maggie tupfte mit ihrer Serviette den verschütteten Kaffee auf. »Es tut mir so leid, dass ihr beide Probleme habt. Aber das ist kein Grund, auszuziehen. Könnt ihr euch nicht aussprechen? Lass mich mit ihr reden.«
Lena blinzelte, als schon wieder Tränen aufstiegen. Sie sollte Maggie nicht mit ihren Problemen belasten. »Nein, nein. Das ist meine Sache. Ich bin viel zu sehr mit euch allen verstrickt, besonders mit Ella. Es ist besser, wenn ich etwas Abstand halte.«
»Hat Jess das gesagt?« Maggie knurrte fast.
»Ich will dich da nicht mit hereinziehen.«
»Ich bin schon mittendrin.« Maggie zeigte auf den Tränenfleck auf ihrer Bluse und seufzte. »Was ist los?«
»Sie hat diesen Plan, dass ich Vollzeit als Kindermädchen bei ihr arbeiten und zu ihr ziehen soll.« Lena gab ihr Bestes, um neutral zu klingen, aber sie konnte Maggie nicht in die Augen sehen.
»Ist das etwas, worüber ihr beide vorher schon geredet hattet? Würdest du das gern machen?«
Lena schob den letzten Rest Zimtschnecke von einer Seite des Tellers auf die andere. In ihrem Magen war kein Platz neben der zunehmenden Angst. »Nein. Keine Frage, ich liebe Ella sehr, aber für Jess zu arbeiten, bei ihr als Angestellte zu leben? Das fühlt sich einfach falsch an.«
»Das glaube ich gern. Insbesondere, wenn ihr zusammen auf Dates geht.«
»Wir gehen nicht auf Dates.« Wie könnte sie mit Jess ausgehen, wenn sie beide komplett andere Dinge wollten und brauchen?
»Nun ja, wie auch immer ihr das nennt, es ist keine Arbeitsbeziehung, oder?«
Lena schnaubte. »Auf gar keinen Fall.«
»Und lass mich raten, dieser Plan löst alle Zeitmanagementprobleme von Jess? Meine Kleine plant immer sehr effektiv.«
Trotz ihres Dilemmas musste Lena lächeln. »Sie würde die Art hassen, wie du sie Kleine nennst.«
»Sie benimmt sich in der letzten Zeit nicht sehr erwachsen. Aber ich sollte ihr das vielleicht nicht auf diese Weise ins Gesicht sagen.« Maggies trockener Tonfall klang so nach Jess, dass er keinen Zweifel ließ, von wem ihre Tochter ihren Humor geerbt hatte.
»Vermutlich nicht.«
»Aber zurück zu deinem Problem. Was du bisher gesagt hast, ist, dass sie dir einen Job angeboten hat und du abgelehnt hast. Das ist noch kein Grund, zu verzweifeln und auszuziehen. Was ist sonst noch geschehen?«
»Du bist ihre Mutter. Solltest du nicht auf ihrer Seite stehen?«
»Das tue ich, aber du bist auch meine Freundin und ich will immer beide Seiten hören. Und es tut mir weh zu sehen, wie du leidest.« Die Aufrichtigkeit in ihrer Stimme ließ Lenas Beherrschung bröckeln.
Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten und sie wollte es auch nicht. Sie vertraute Maggie. »Es ist nur … Vor ein paar Tagen habe ich ihr von der komplizierten Beziehung zu meiner Mutter erzählt. Ich bin nicht bei ihr aufgewachsen und als sie mich zu sich holte, um bei ihr zu leben, war ich überglücklich …« Ihre Augen brannten wieder und Lena drückte die Lider zusammen. Sie hatte schon zu viele Tränen an ihre Mutter verschwendet. »Ich habe zu spät gemerkt, dass sie mich nur als kostenlosen Babysitter wollte. Ich dachte, ich wäre darüber hinweg, aber offensichtlich bin ich das nicht. Jess hat eine alte Wunde geöffnet.«
»Jess hat dich gefragt, ob du ihr Kindermädchen werden willst, nachdem du ihr das von deiner Mutter gesagt hast?« Maggie schlug mit der Hand auf den Tisch und schüttelte den Kopf.
Lena sah zu Boden. »Sie wusste nicht, wie meine Mutter mich ausgenutzt hat, zumindest nicht die ganze Geschichte.« Weil sie selbst getan hatte, was sie Jess vorwarf: Sie war an der Oberfläche geblieben und hatte sich nicht genug geöffnet. »Und ich habe Jess auch verletzt. Ich habe Sachen gesagt, die sie nicht hören wollte. Dass ihre Organisation von Ellas Betreuung nicht gut sei. Und ich habe sie beschuldigt …« Lena vergrub ihr Gesicht in den Händen und rieb ihre Augen.
»Aber vielleicht musste sie das hören.« Maggie seufzte. »Jess hat das ganze Wochenende gegrübelt und geschmollt und das hätte sie nicht, wenn du nicht einen Nerv getroffen hättest. Die Wahrheit kann wehtun, aber letztendlich wird sie davon profitieren.«
Sie hatte Jess vorgeworfen, ihre Mutter umzubringen. Das war nicht nur verletzend und falsch, sondern auch unnötig. Wusste Maggie davon? Sie schluckte und ließ ihre Hände fallen, um Maggie ins Gesicht zu sehen. »Hat sie mit dir geredet?«
»Noch nicht. Sie braucht normalerweise Zeit.« Maggie lächelte resigniert.
Erleichterung durchflutete Lena, direkt gefolgt von ihrem schlechten Gewissen.
Maggie schien beides nicht zu bemerken. »Warum wartest du nicht ein paar Tage, bevor du dich entscheidest, ob du ausziehst oder nicht? Und rede noch mal mit Jess, nachdem ihr beide Zeit zum Nachdenken hattet. Vielleicht findet sich eine Lösung für euer Problem. Jess wird diese Woche ohnehin nicht viel hier sein, da sie zwei Nächte Rufbereitschaft hat.«
Gestern hatte sich ein Umzug noch wie die beste Lösung angefühlt, aber vielleicht hatte Maggie recht. Das Gartenhaus war ihr Zuhause geworden. Wegzurennen, war keine Lösung, sondern eine kindische Art, ihre Probleme zu ignorieren. Sie sollte ihr Leben nicht länger von der Angst, verletzt zu werden, regieren lassen. »Okay. Ich bleibe und schaue, wie es wird.«
Maggie nippte an ihrem Kaffee und musterte Lena für einen Moment. »Sag mir, wenn ich irgendetwas für dich tun kann. Willst du den Tag freinehmen?«
»Nein, ich würde lieber arbeiten und mich auf andere Dinge konzentrieren.« Die nächsten Abende und Nächte boten noch genug Zeit zum Grübeln. »Ist das in Ordnung?«
»Natürlich. Und wenn du etwas komplett anderes hören willst, habe ich ein Angebot für dich. Freitagabend war ich mit ehemaligen Kollegen von der Universität essen. Ich habe ihnen Bilder von Ella auf meinem Telefon gezeigt und ein paar Fotos deiner Zeichnungen waren dazwischen. Meine Freundin Joanne findet sie großartig.«
»Danke.« Lena hatte schon vor sehr langer Zeit ihren Traum aufgegeben, ihre Kunst mit anderen zu teilen, aber das hieß nicht, dass sie keine Komplimente zu schätzen wusste. »Das bedeutet mir viel.«
»Du hast das Angebot noch nicht gehört. Joanne ist Kunstprofessorin an der Universität von Washington und sie unterrichtet dieses Semester einen Kurs für botanische Illustrationen. Sie hat angeboten, dich am Kurs teilnehmen zu lassen, falls du Interesse hast.«
»Kunstprofessorin? An der Universität?« Lenas Stimme zitterte und sie unterdrückte den Drang, sich zu kneifen. Sie beugte sich im Gartenstuhl nach vorn. »Aber ich habe keine Abschlüsse oder formelles Training.«
»Aber du hast Talent und ein Auge für Details.« Maggie zuckte mit den Achseln. »Joanne mochte wirklich, was sie gesehen hat, und denkt, du bist mehr als ausreichend qualifiziert.«
Für einen Moment erlaubte sich Lena zu träumen. Sie würde den Kurs besuchen, andere Kunststudenten treffen, neue Techniken lernen. Aber dann meldete sich die Realität zurück. »Danke. Aber ich kann es mir nicht leisten und ich habe auch keine Zeit, weil ich arbeite.«
»Du musst nichts zahlen, du kannst kostenlos am Kurs teilnehmen. Und wir schaffen die Zeit. Vorausgesetzt, du willst weiter mit mir arbeiten.«
»Ja, auf jeden Fall. Auch wenn Jess mir nicht verzeiht, würde ich gern weiter mit dir arbeiten.« Eine Last hob sich von Lenas Schulter. Maggie würde sie wegen Jess nicht entlassen. »Aber das andere Angebot … Ich bin überwältigt. Ich muss darüber nachdenken.«
»Lass dir Zeit. Sie wird es nicht zurücknehmen. Wenn du willst, kann ich sie auch einladen und ihr beide könntet euch einfach unterhalten. Sag mir, was dir am liebsten ist.«
»Danke.« Lena nahm das letzte Stück Zimtschnecke. Das Angebot war verführerisch, aber sie musste darüber schlafen. Heute war sie emotional zu ausgelaugt, um eine Entscheidung zu treffen. Ein Blick auf Maggies Tasse und Teller bestätigte, dass sie auch ihr Frühstück beendet hatte. »Können wir anfangen zu arbeiten? Ich muss etwas machen, das überhaupt nichts mit meinem Gefühlsleben zu tun hat.«
Maggie lachte. »Wie wäre es damit, meine handschriftlichen Notizen zu sortieren? Das ist zwar problematisch, aber nicht emotional.«
Beim Anblick von Lenas Auto schlug Jess’ Herz schneller. Nicht aus Wut, sondern vor Erleichterung und Vorfreude. Nicht zu wissen, wo Lena die letzten Tage gewesen war, war schwierig gewesen. Jess hatte keinen Anspruch darauf, über ihr Kommen und Gehen informiert zu werden, aber die Möglichkeit, dass sie der Grund für Lenas Abwesenheit war, füllte ihren Magen mit Blei.
Jess war noch nicht bereit, sich ihr zu stellen. Sie hatte über die zwei Gespräche ausführlich nachgedacht, hatte aber immer noch nicht das Gefühl, dass sie die Probleme komplett verstanden hatte. Deswegen hatte sie die Arbeit heute früher beendet, um mit ihrer Mutter zu reden.
Die Terrasse war leer, aber die Glastüren zur Küche standen weit offen. Jess folgte dem Duft von frischem Gemüse und Kräutern. Ihre Mutter kochte und Ella lag in ihrer Babyschale auf dem Tisch und betrachtete die bunte Fischkette, die Lena ihr geschenkt hatte. Obwohl Jess darauf bestand, dass das Haus ihrer Mutter gehörte und nicht ihr, sagte ihr in diesem Moment das warme und wohlige Gefühl in ihrem Inneren, dass sie nach Hause kam.
»Hi, Mom.«
»Jess, du bist ja schon da.« Ihr Tonfall war frei von Vorwürfen, aber es fühlte sich trotzdem an wie einer.
Vielleicht, weil das Thema den ganzen Tag Jess’ Gedanken beherrscht hatte. »Ja, es war nicht viel los auf der Arbeit.« Sie hatte alles, was nicht dringend war, auf morgen verschoben. Ihre Assistenzärzte waren sauer, aber Jess hatte noch nie beabsichtigt, einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen, und würde jetzt nicht damit anfangen.
»Hi, Süße, hattest du heute Spaß?« Jess hob Ella hoch. Sie küsste die zarte Wange und atmete tief ein. Zu Hause.
Ella öffnete ihre Hände und griff nach ihr und Jess gab ihr einen Finger, den sie umklammern konnte.
Mit Ella auf dem Arm ging sie zum Herd. »Was kochst du?« Der Topf war riesig, als ob ihre Mutter vorhätte, ihr altes Leichtathletikteam aus Schulzeiten zu füttern.
»Gemüsesuppe. Die Ernte ist dieses Jahr üppiger, als erwartet, also dachte ich, dass ich schon mal ein paar Portionen für den Winter einfrieren kann. Sie ist fast fertig. Willst du mit mir zu Abend essen?«
Das wäre die perfekte Gelegenheit, ihrer Mutter ein paar Fragen zu stellen. Zumindest wenn sie zu zweit wären. »Wird Lena nicht mit dir essen?«
»Nein, sie wollte heute Abend lieber allein sein.« Ihre Mutter schenkte ihr den Blick. Der Blick, der sie dazu brachte, alles zu gestehen.
Jess wurde prompt in ihre Teenagerzeit versetzt, als sie versucht hatte, etwas vor ihr zu verbergen, oder irgendetwas Blödes angestellt hatte. Sie schaffte es gerade so, nicht mit den Augen zu rollen, aber es war schwierig.
»Ich decke den Tisch.« Sie wechselte Ella auf die andere Hüfte und verteilte Besteck, Wassergläser und Servietten mit einer Hand. Eine weitere Erinnerung an ihre Jugendjahre, aber diesmal erledigte sie die Aufgabe, ohne zu schmollen, weil sie dankbar war, dass jemand für sie gekocht hatte und sie es nicht selbst tun musste. Vielleicht war es an der Zeit, das laut auszusprechen. »Danke fürs Kochen, Mom. Mir schmeckt wirklich immer sehr.«
Ihre Mutter stellte zwei Keramikschüsseln mit dampfender Suppe auf den Tisch. Sie setzte sich und lächelte. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du so etwas schon mal gesagt hast. Gern geschehen.«
Beide langten zu und für ein paar Minuten transportierten die Geräusche der klappernden Löffel und der zufriedenen Seufzer Jess wieder zurück in die Kindheit.
»Mom, wie hast du das gemacht? Deine Karriere mit dem Muttersein vereinbart?« Jess hielt den Löffel außerhalb von Ellas Reichweite, um die Suppe abkühlen zu lassen.
»Hmm, ich schätze, ich hatte Glück. Ich hatte gerade eine sichere Stelle an der Uni bekommen und konnte ein Jahr freinehmen. Du warst so ein braves Baby und dein Vater hat immer lange gearbeitet, also hatte ich viel Zeit, um mein erstes Buch zu schreiben. Das hat sich gut verkauft, nicht nur in akademischen Kreisen, und die Universität war mehr als glücklich, mich hinterher wiederzubekommen. Später habe ich meine Vorlesungen und Sprechstunden um deine Betreuung und Schulzeit herum geplant. Aber wir waren auch eine sehr privilegierte Familie. Geld war nie ein Problem und wir konnten immer Leute engagieren, die geputzt, gekocht und mit anderen Aufgaben geholfen haben.«
»Das klingt alles so einfach.«
»Nun ja, ich habe die ermüdenden Details weggelassen.« Ihre Mutter lächelte und trank einen Schluck Wasser. »Du hast mich das noch nie gefragt.«
»Ich habe immer alles für selbstverständlich gehalten. Warme Mahlzeiten, wenn ich nach Hause kam, frische Wäsche, Hilfe bei den Hausaufgaben. Ich habe mich nie gefragt, wie du das alles unter einen Hut gebracht hast.«
»Und jetzt suchst du einen Weg, das selbst besser mit deiner Karriere zu vereinbaren?«
»Ja. Ich bin die ganze Zeit erschöpft und ich weiß nicht, ob das noch Folge meiner Krankheit ist oder einfach nur normal.«
»Ich war die ersten fünf oder sechs Jahre andauernd müde. Es wurde besser, als du mit der Schule angefangen hast.«
Jess rieb mit der Hand über ihren Nacken. Das waren keine sehr verlockenden Aussichten. »Was hast du noch beschönigt?«
»Ich habe mich oft allein gefühlt. Ich habe deinen Vater geliebt, aber er war sehr auf seine Arbeit fokussiert und wir haben uns kaum gesehen, meistens nur am Wochenende. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber in den ersten Jahren hat er auch noch samstags gearbeitet.«
Diese Samstage waren das Highlight von Jess’ Woche gewesen. »Ich erinnere mich daran, dass er mich manchmal mitgenommen hat. Er hat mir immer gesagt, ich soll in seinem Büro bleiben und etwas malen, aber ich habe mich ins Untersuchungszimmer geschlichen und versteckt, während er mit seinen Patienten geredet hat. Er hatte so eine beruhigende Ausstrahlung. Ich habe es geliebt, ihm zuzuhören.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und lächelte nachsichtig. »Ich bin so froh, dass ich das erst Jahre später erfahren habe.«
»Weißt du, als ich ein Teenager war, wollte ich immer ein Elternteil wie Dad sein. Entspannt, lustig am Wochenende, immer geduldig. Er hatte abends immer Zeit für mich.« Mit den Augen einer alleinerziehenden Mutter nahmen diese Erinnerungen eine andere Form an, als hätte jemand einen Farbfilter entfernt. »Aber er war seltener zu Hause, als ich mich erinnere, oder? Hat er dir mit den Alltagsdingen geholfen?«
»Deine Frage sagt schon alles. Er war immer für dich da und er hat etwas geholfen. Aber wenn du wissen willst, ob es eine gleichberechtigte Partnerschaft war … nein. Ich habe die meisten der alltäglichen Arbeit erledigt und er hat den spaßigen Teil übernommen. Ich bin nicht nachtragend, aber vielleicht solltest du nicht deinen Vater und mich als Vorbild nehmen. Andere Zeiten, andere Umstände. Was willst du? Was für eine Art Mutter willst du sein?«
Die Frage verschlug ihr die Sprache. Jess aß noch ein paar Löffel Suppe, um Zeit zu gewinnen, dann legte sie ihn zur Seite. »Ich dachte, ich wüsste es, aber … ich habe eigentlich keine Ahnung.«
»Jess, Liebes, vor deinem ersten Schultag hast du mir eine Liste gezeigt von all den Dingen, die du lernen musst, um Ärztin zu werden. Bevor du mit dem Studium angefangen hast, hattest du alle deine Kurse für die nächsten Jahre vorgeplant. Warum hast du für alles Pläne und Alternativkonzepte, hast aber nicht darüber nachgedacht, wie du dein Leben als Mutter gestalten willst, bevor du schwanger wurdest? Oder während der Schwangerschaft?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Ich dachte immer, ich hätte mehr Zeit und alles würde sich von selbst ergeben.« Jess fuhr mit der Hand durch ihre Haare. Ihre Mutter hatte recht. Der Mangel an konkreten Plänen und Vorbereitungen passte gar nicht zu ihr und sie verstand sich selbst nicht. »Oder vielleicht wollte ich mir nicht selbst eingestehen, dass ich es nicht allein schaffe. Ich hatte so eine einfache und glückliche Kindheit. Ich habe nie gesehen, dass du oder Dad Schwierigkeiten hattet.«
»Ich glaube, ich muss mich dafür entschuldigen.« Das traurige Lächeln ihrer Mutter unterstrich die Tatsache, dass Jess einen wichtigen Teil ihrer Kindheit fehlinterpretiert hatte. »Wir haben immer versucht, unsere Probleme von dir fernzuhalten.«
»Und dafür bin ich auch dankbar. Aber hätte ich richtig hingeschaut, hätte ich die ganze Arbeit sehen können, die es dich gekostet hat. Ich war wohl blind und naiv. Und das klingt vielleicht vermessen, aber ich habe immer alles erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Leichtathletikteam, Medizinstudium, Dates, auf die alle neidisch waren. Ich war die jüngste Kardiologin in unserem Krankenhaus, die sich auf TAVIs spezialisiert hat. Ich dachte, ich könnte alles.« Hitze stieg in Jess’ Wangen. Ja, das klang vermessen, privilegiert und ziemlich oberflächlich. Wann hatte sie sich in eine Frau verwandelt, die sie selbst nicht respektieren konnte?
»Und du kannst auch alles, aber vielleicht nicht auf die Weise, die du dir vorgestellt hast. Wandel ist ein Teil unseres Lebens. Es ist nicht zu spät, um dich zu fragen, wo deine Prioritäten im Leben liegen und wie du weitermachen willst.«
Das war erschreckend nah an dem, was Lena zu ihr gesagt hatte. Jess nickte. »Und ich muss beachten, was meine Entscheidungen für andere bedeuten. Mom, wird es zu viel für dich, tagsüber auf Ella aufzupassen?«
»Im Moment nicht.«
Jess hätte es dabei belassen können. Sie hatte eine Antwort, die ihr schlechtes Gewissen beruhigen konnte, aber sie schuldete es ihrer Mutter, etwas tiefer zu bohren. »Aber für wie lange? Was ist in ein paar Monaten oder in einem Jahr?«
»Das ist noch lange hin, aber du hast recht. Wir müssen darüber reden. Ich zapfe meine Energiereserven an. Das ist jetzt kein Problem, aber ich kann nicht sagen, wie lange sie reichen werden. Aber du weißt, dass ich mich liebend gern jederzeit um Ella kümmere. Ich liebe sie so sehr, wie ich dich liebe, und ich würde alles für meine Mädchen tun.«
Tränen sammelten sich in Jess’ Augen und sie blinzelte. »Danke, aber ich glaube, es ist keine so gute Idee, dass wir beide herumrennen und unsere Reserven aufbrauchen. Ich muss eine Alternative finden. Ich dachte, ich hätte eine, aber …« Sie schluckte und sah nach unten. Sie wollte jetzt nicht mit ihrer Mutter über die Diskussionen mit Lena sprechen. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst genug davon verstanden hatte, was passiert war.
»Ich unterstütze dich bei allem, was du tust. Diese Alternative … Meinst du das Angebot, das du Lena gemacht hast?«
»Sie hat dir davon erzählt?« Jess drehte den Löffel in der Suppe hin und her, ohne zu essen. »Was hat sie dir gesagt?«
»Nicht viel. Sie sagte, dass du ihr einen Job als Kindermädchen angeboten hast. Warum hast du das gemacht?«
»Ich dachte, sie würde gern für Ella da sein, und ich vertraue ihr mehr als jedem anderen außer dir.« Jess seufzte. »Ich habe sie verletzt, aber ich bin mir nicht sicher womit. Wie geht es ihr?«
»Als ich sie heute Morgen sah, war sie verletzt und verwirrt. Sie denkt sogar darüber nach, umzuziehen.«
»Was? Warum?« Der Löffel fiel in die Schüssel und warme Suppe spritzte auf Jess’ Hand. Das war ihr völlig egal.
»Damit sie dir aus dem Weg gehen kann. Zumindest sagte sie das.«
»Aber sie liebt das Gartenhaus und die Arbeit mit dir. Warum würde sie das alles aufgeben, nur um mir aus dem Weg zu gehen?« Jess’ Atem stockte. Hatte sie Lena verjagt?
»Das musst du sie fragen, nicht mich.«
»Denkst du, sie redet mit mir?« Der Gedanke, dass Lena das ablehnen würde, dass es zu spät war, schmerzte, als würde ein Messer in Jess’ Herz umgedreht.
»Ja, natürlich. Lena braucht nur etwas Zeit. Und im Gegensatz zu dir spricht sie über ihre Probleme und brütet nicht stumm vor sich hin.«
Seit wann kannte ihre Mutter Lena so gut? Aber sie hatte recht. Zeit war etwas, das sie geben konnte, obwohl es all ihre Willenskraft kostete, nicht sofort zu Lena zu rennen. »Ich lasse ihr Zeit und dann entschuldige ich mich. Vielleicht bekommen wir unsere Freundschaft zurück.«
»Ist Freundschaft alles, was zwischen euch ist?«
Die Erinnerung daran, in Lenas Armen aufzuwachen, blitzte in Jess’ Gedanken auf, gefolgt von dem Bild, wie sie zu Lenas Füßen auf dem Hocker im Schlafzimmer gesessen hatte. Jess konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so durchschaut und trotzdem geschätzt gefühlt hatte. Aber sie war wie ein Feigling geflohen. Nur weil sie Angst hatte, zu schnell die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. »Vielleicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich ihr mehr bieten kann. Ich bin im Moment nicht in bester Verfassung.«
»Aber vielleicht musst du das jetzt auch nicht sein. Sie scheint dich so zu mögen, wie du bist. Du sie anscheinend auch. Das ist ein Anfang.«
Jess lehnte sich im Stuhl zurück. »Vielleicht.« Eine weitere Sache, die sie auf ihre innere Liste setzen musste. Auch wenn sie nicht in bester Verfassung war, würde sie Lena etwas bieten können? Würde Lena ihre Schwächen und Verfehlungen übersehen können oder würde sie das Wenige, was sie zu bieten hatte, zurückweisen? Und wie konnte sie Zeit für eine Beziehung finden, wenn sie sich noch nicht einmal um ihr Kind kümmern konnte?
Lena schlitzte den großen Umschlag auf und schüttete den Inhalt auf den Küchentisch. Ihre ehemalige Mitbewohnerin hatte alles, was unter ihrem Namen im Briefkasten gelandet war, weitergeleitet. Sie konnte sich viel bessere Abendbeschäftigungen vorstellen, als Post zu sortieren, aber sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass Verdrängung keine Rechnungen bezahlte.
Werbung, China-Restaurant-Menü, Werbung, eine Rechnung, die sie schon bezahlt hatte, Pizzamenü. Lena seufzte erleichtert. Ausnahmsweise schien sie einen Schritt voraus zu sein. Sie hob das Pizzamenü auf, um es in den Papiermüll zu legen, und zuckte zurück, als hätte sie eine Schlange aufgedeckt.
Der weiße Umschlag mit ihrem getippten Namen und Adresse sah nach nichts Besonderem aus. Aber ein Blick auf den Absender reichte, um sie erstarren zu lassen.
Ihre Mutter hatte geschrieben. Schon wieder. Hatte sie nicht begriffen, dass Lena keinen Kontakt haben wollte? Sie hatte keinen der vielen Briefe beantwortet und alle Telefonanrufe ignoriert. Was konnte Lena sonst noch tun?
Du könntest dich wie eine Erwachsene benehmen und es ihr sagen. Die Stimme der Vernunft klang verdächtig nach ihrer Großmutter. Lena legte das zerknitterte Pizzamenü zur Seite und nahm stattdessen den Brief in die Hand.
Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, riss sie ihn auf und fischte das einzelne Blatt heraus, das unsauber von einem Notizblock abgetrennt worden war. Die krakelige Handschrift ihrer Mutter bedeckte den größten Teil des Zettels. Die Worte stolperten über die Seite wie betrunkene Tänzer und das Zittern von Lenas Fingern half nicht beim Entziffern des Textes.
Lena atmete tief ein und drückte das Blatt auf den Tisch. Du schaffst das. Sie überflog die Seite.
Nichts Neues. Nur die übliche Erinnerung, dass ihre Mutter im Gefängnis litt, weil sie kein Geld hatte, um alltägliche Kleinigkeiten zu kaufen.
Wie Schmerzmittel und Drogen. Nicht, dass ihre Mutter das so deutlich sagen würde. Schließlich lasen die Wachen mit.
Es folgte der Vorwurf, dass Lena ihr etwas schuldete, da sie die Alleinerbin ihrer Großmutter gewesen war.
Ja, klar. Als ob sie einen Cent ihres Erbes gesehen hätte, nachdem sie die Schulden ihrer Mutter abbezahlt hatte.
Der Brief endete mit der Aufforderung, den nächsten Anruf anzunehmen.
Keine einzige Frage zu Lenas Leben oder ihrer Gesundheit oder ihren finanziellen Schwierigkeiten.
Kein einziges Wort der Zuneigung.
Sie zerknüllte den Brief in einen festen Ball und schmiss ihn in den Papiermüll. Er prallte vom Korbrand ab und rollte über die Dielen, bis er wieder vor ihren Füßen landete. Wie der Kiefernzapfen, den sie auf dem Spaziergang mit Jess malträtiert hatte.
Ein ersticktes Lachen entfuhr Lena. Es klang fast wie ein Schluchzen.
Warum ließ sie zu, dass ihre Mutter das mit ihr machte? Sie war stolz darauf gewesen, dass sie darüber hinweg war, wie ihre Mutter sie behandelt hatte, aber das stimmte nicht. Die Wut war da und sie drängte sich zwischen Jess und sie. Das war nicht fair, für keine von ihnen. Sie musste daran arbeiten, ihren Schmerz zu überwinden.
Lena sprang auf und lief zwischen Küche und Wohnzimmer auf und ab. Im Vorbeigehen sammelte sie den weggeworfenen Brief ein. Ihre Mutter hatte recht, obwohl Lena das nur ungern zugab. Sie mussten miteinander reden.
Bevor sie den Mut verlor, kramte sie ihr altes Handy aus der Tiefe ihrer Schreibtischschublade hervor und schloss es an das Ladekabel in der Küche an. Nach einem Moment erwachte es mit lauten Piepstönen zum Leben.
Zehn verpasste Anrufe in den letzten drei Tagen. Lena musste die Nummern nicht kontrollieren, denn es gab nur eine Person, die sie auf diesem Telefon anrief. Ihre Mutter musste wirklich verzweifelt sein. Wie lange würde es dauern, bis sie es wieder versuchte?
Bitte bald. Der Gedanke, tagelang warten zu müssen, immer angespannt und nervös, erfüllte sie mit Schrecken. Wenn Lena nur den Zeitpunkt des Gespräches kontrollieren könnte, aber sie konnte das Gefängnis nicht einfach anrufen und eine Fahrt nach Illinois zu einem persönlichen Gespräch war nicht in ihrem Budget.
Als ob das Universum ihre Bitte erhört hätte, klingelte das Telefon. Der schrille Ton ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
Sie war noch nicht bereit. Sie wollte es ausschalten, in ihr Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.
O nein. Das wirst du nicht. Bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte, drückte Lena die Taste, um das Gespräch anzunehmen. »Walker.«
Eine mechanische Stimme informierte sie darüber, woher der Anruf stammte und dass er aufgezeichnet werden wurde, dann sprach ihre Mutter. »Lena? Bist du das wirklich?«
»Ähm, hi, Caroline.«
»Warum hast du meine Anrufe ignoriert? Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, sich hier anzustellen?« Ihre Mutter schnaubte verächtlich, ein so vertrautes Geräusch, dass Lena schon fast das dazugehörige Augenrollen in ihren Gedanken sah. »Natürlich nicht. Du bist ja frei und kannst kommen und gehen, wie du willst.«
»Es tut mir leid.« Lena lehnte sich gegen die Küchenarbeitsplatte. Das Holz hinter ihrem Rücken war solide und diese Stütze brauchte sie ganz dringend.
»Ja, ja. Ich rufe an, weil du auf mein Konto einzahlen musst. Hast du meinen Brief bekommen?«
Das war es nicht, worüber sie reden mussten. Lena wickelte das Ladekabel um ihren Zeigefinger, bis der Blutfluss abgeschnürt war. Der stechende Schmerz war eine willkommene Ablenkung. »Habe ich, aber …«
»Und warum hast du mir noch kein Geld geschickt?« Die Stimme ihrer Mutter klang noch rauer als beim letzten Gespräch. Rauchte sie mehr?
»Ich kann nicht.« Lena flüsterte die Worte, aber das war nicht genug. Sie schluckte und versuchte es noch einmal, diesmal lauter. »Ich kann dir kein Geld schicken.«
»Kannst du nicht oder willst du nicht? Du hast keine Ahnung, wie es hier drinnen ist. Wenn du nicht gekniffen hättest, wäre ich nicht hier. Du schuldest mir was, weil du meine Tochter bist und –«
»Hör auf.« Lena hatte genug. Sie ließ das Kabel von ihrem Finger schnellen und richtete sich gerade auf, auch wenn ihre Mutter sie nicht sehen konnte. »Du bist im Gefängnis, weil du beschlossen hast, Leute zu betrügen, anstatt ehrlich für dien Geld zu arbeiten. Ich habe Schulden, weil ich mich entschieden habe, dir zu vertrauen und dich zu unterstützen. Wir zahlen beide für unsere Entscheidungen. Ich kann dir kein Geld geben und selbst wenn ich könnte, würde ich nicht. Ich bin deine Tochter, aber ich schulde dir gar nichts.«
Ihre Mutter antwortete nicht. Hatte sie aufgelegt? Nein. Statisches Knistern und leises Atmen bewiesen, dass sie noch in der Leitung war.
Lena hielt sich mit einer Hand an der Arbeitsplatte fest. »Caroline?«
»Nenn mich nicht Caroline! Ich bin deine Mutter.«
»Wirklich? Du willst jetzt diese Karte ziehen?« Lena knirschte mit den Zähnen. »Ich bin kein Kind mehr. Ich warte nicht mehr darauf, dass du endlich nach Hause kommst. Warte nicht mehr auf Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ich musste schnell erwachsen werden, um deine Schwächen auszugleichen.«
Wieder antwortete ihr nur Knistern.
Lena nutzte die Pause, um sich zu sammeln. Sie hatte noch nie zuvor so mit Caroline gesprochen. Ihre Wut verringerte sich mit jedem Satz, als ob die ausgesprochenen Wörter ihr die Chance gaben, dieses furchtbare Gefühl gehen zu lassen.
»Redest du von Tammy?« Caroline seufzte, aber diesmal zog ihre überdramatische Art nicht an Lenas Herzen. »Du weißt doch, dass ich Migräne hatte. Ich hab sie immer noch, deswegen brauche ich Medikamente. Das ist teuer. Deswegen rufe ich an, Süße. Du bist die Einzige, die mir helfen kann.«
Vor zwanzig Jahren hätte Lena alles dafür gegeben, von ihrer Mutter Süße genannt zu werden. Noch vor zehn Jahren wäre sie überglücklich gewesen. Jetzt empfand sie nur Traurigkeit. Trauer um die verpassten Chancen und die Frau, die nie gelernt hatte, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Migräne war nicht ihr Problem. War es nie gewesen. Aber Lena wollte nicht darauf eingehen. »Nein, ich kann dir nicht helfen. Du musst dir zuerst selbst helfen. Bitte kontaktiere mich nicht mehr, wenn du nur Geld willst.«
»Du bist wie deine Großmutter, immer denkst du, dass du alles besser weißt.« Carolines Stimme hatte die gekünstelte Wärme verloren. »Undankbare Schlampe.« Sie legte auf.
Die letzten Worte hätten eigentlich wie ein Schlag ins Gesicht wirken sollen, aber sie rauschten einfach an Lena vorbei. Sie konnte jetzt klar sehen, wo sie herkamen, und sie würde sich nicht mehr von ihrer Mutter in diese Spirale aus Wut und Ärger ziehen lassen. Traurigkeit hatte diese Gefühle ersetzt und das war etwas, an dem sie arbeiten konnte. Ihre Probleme mit ihrer Mutter waren noch nicht gelöst, aber immerhin war sie auf dem richtigen Pfad, um ihr gebeuteltes Herz zu heilen.
Jess zog den sterilen Papierkittel und ihre Handschuhe aus und warf alles in den Müll. Sie hörte einen Moment lang dem Assistenzarzt zu, als er dem Patienten erklärte, was sie gerade getan hatten. Der Neue, Marc, ging erfrischend empathisch mit den Patienten um, obwohl er für ihren Geschmack zu viel redete. Besonders mitten in der Nacht.
Jess tauschte einen amüsierten Blick mit Kayla aus, als Marc versprach, den Patienten persönlich in sein Zimmer zu begleiten.
»Fährst du nach Hause?« Kayla gähnte.
Jess schaute auf die Wanduhr. Es wäre vernünftig, in ihre Wohnung zu fahren und noch zwei Stunden zu schlafen. Sie zuckte mit den Achseln. »Nein. Ich bin hellwach. Ella ist bei meiner Mom, deshalb habe ich gute sechs Stunden durchgeschlafen, bevor ich angerufen wurde. Eine Dusche, Kaffee und ich bin so gut wie neu.« Wenn sie jetzt lästigen Papierkram erledigte, konnte sie heute Nachmittag früher gehen. »Willst du zusammen einen Kaffee trinken?«
Kayla schüttelte grinsend den Kopf. »Ich räume hier fertig auf und dann lege ich mich im Bereitschaftszimmer ins Bett. Ich habe nachher ein Date.«
»Herzlichen Glückwunsch. Kenn ich den oder die Glückliche?« Jess öffnete ihre Bleiweste und lehnte sich gegen den Türrahmen. Kayla war berüchtigt dafür, sich sekundenschnell in ihre Kollegen zu verlieben.
»Nein. Sie hat nichts mit Medizin zu tun. Sie ist Polizistin.« Kayla lächelte verträumt. »Aber es ist erst das erste Date. Zu früh, um etwas zu sagen.«
»Okay. Viel Spaß.« Jess winkte zum Abschied.
Auf ihrem Weg zur Umkleide machte sie einen Umweg in die Notaufnahme, um nachzusehen, ob die Nacht ihr noch weitere Patienten bescherte.
Diana saß am Pflegetresen und tippte schnell etwas in den Computer. Ihr Kopf wippte im Rhythmus eines Liedes, das nur sie hören konnte.
Jess wartete auf der anderen Seite des Tresens, bis sie mit dem Tippen fertig war. »Hi, hast du heute Nacht noch mehr Fälle für die Kardiologie eingesammelt?«
Grinsend schaute Diana auf. »Noch nicht. Lass mich meinen Bericht speichern, dann schaue ich nach, ob jemand anderes Patienten für dich hat.« Sie klickte ein paarmal mit der Maus, während sie den Monitor studierte. Schließlich hielt sie den Daumen hoch. »Alles gut. Gehst du jetzt nach Hause?«
»Lohnt sich nicht. Ich hole mir Kaffee und arbeite durch.«
»Willst du mit mir ins Café in der Eingangshalle gehen? Ich könnte auch etwas Nachschub gebrauchen.«
»Gern.« Jess wartete, während Diana einer Kollegin sagte, wohin sie ging.
Der Blick der Frau folgte ihnen durch die Tür zur Eingangshalle. Jess schnaubte. »War das nicht die Assistenzärztin, die fast über ihre eigenen Füße gestolpert ist, als ich Ella bekam?«
Diana hielt ihr die Tür zum Café auf. »Ja, Courtney. Ich vermute, sie setzt in diesem Moment ein neues Gerücht in die Welt.«
»Oh, haben wir jetzt eine Affäre? Weiß Emily das schon?« Jess lachte. Es tat gut, mit einer Freundin Scherze zu machen. Ihre zwischenmenschlichen Kontakte in den letzten Tagen waren entweder streng professionell auf der Arbeit oder sehr angespannt zu Hause gewesen.
»Sie wird es bald herausfinden.« Diana zwinkerte und wandte sich dann dem jungen Mann hinter der Kasse zu, der kaum alt genug schien, um in der Nachtschicht zu arbeiten. »Morgen, Kevin. Flat White, bitte.«
Er grunzte und schaute Jess erwartungsvoll an.
»Für mich auch bitte. Und eine Flasche Wasser.« Eine doppelte Portion Espresso war genau das, was sie jetzt brauchte. Und rein theoretisch würde es auch nicht gegen das Limit von einer Tasse Kaffee am Tag verstoßen, das sie sich selbst gesetzt hatte. Sie holte ihr Portemonnaie aus der Tasche, aber Diana war schneller und winkte ab.
»Du kannst das nächste Mal zahlen.« Diana sah sich im leeren Café um. »Ist es okay, wenn wir hier etwas sitzen? Ich habe keine Lust, heute Nacht noch mal mit Courtney zu reden.«
Jess nickte und sie nahmen auf einem Paar dick gepolsterter Sessel am anderen Ende des Cafés Platz. Leise Musik spielte im Hintergrund, irgendetwas mit vielen Gitarren, das sie nicht erkannte, und das Licht war angenehm gedimmt. Gar nicht so schlecht für ein Krankenhaus mitten in der Nacht. Sie öffnete ihre Wasserflasche und trank sie auf einmal aus.
Als Kevin ihre Getränke an den Tisch brachte, dankte Diana ihm. »Coole Musik.«
Er hielt seine Faust hoch und Diana stieß mit ihrer dagegen, dann ging er wortlos.
»Nicht sehr gesprächig?« Jess nippte an ihrem Kaffee und stöhnte. Zu heiß, aber sonst genau richtig.
»Schüchtern. Aber er hat einen guten Musikgeschmack. Er erinnert mich an meinen jüngsten Bruder, als er in dem Alter war. Jetzt ist James mit einer super extrovertierten Frau verheiratet und hat drei Kinder. Es gibt keine ruhige Minute in seinem Haus, aber er liebt es.«
»Drei Kinder!« Jess spuckte fast ihren Kaffee aus. »Wie kann man Arbeit mit drei Kindern vereinbaren?«
»Er ist IT-Spezialist und arbeitet von zu Hause aus. Die erste Zeit hat er kaum gearbeitet. Jetzt, da die Kinder alle in der Schule sind, nimmt er mehr Aufträge an. Und drei Kinder sind nicht so schlimm. Ich bin mit fünf Brüdern aufgewachsen.«
»Fünf!« Schon der Gedanke daran raubte Jess’ Energie. »Wie haben deine Eltern das geschafft?«
»Sie hatten eine traditionelle Rollenteilung. Meine Mutter blieb fünfzehn Jahre zu Hause und hat später Teilzeit in der Hausarztpraxis meines Vaters gearbeitet. Ich denke, Medizin war für sie eher ein Hobby und Mutter war ihr Hauptberuf.«
Jess rührte ihren Kaffee um, damit er etwas abkühlte. Keine der Optionen kam für sie infrage. Sie könnte weder von zu Hause aus arbeiten, noch würde sie Vollzeitmutter werden. Es musste doch noch andere Alternativen geben.
»Ist alles in Ordnung? Du runzelst die Stirn«, sagte Diana leise.
»Ich habe Schwierigkeiten, mein Arbeitsleben mit Ellas Versorgung in Einklang zu bringen. Im Augenblick hilft mir meine Mom, aber das kann auch nicht ewig so weitergehen.«
»Was gibt es für Optionen?«
Jess hielt ihre Hand hoch und zählte ab, was sie bislang bedacht hatte. »Kindertagesstätte − ich habe noch nicht die richtige gefunden. Ich will warten, bis sie ein wenig älter ist. Meine Arbeitszeit ist einfach zu lang. Kindermädchen − wie findest du jemanden, dem du vertrauen kannst? Und ich weiß nicht, ob ich mit einer Fremden zusammenleben will. Meine Mutter − wie ich sagte, aber ich will sie nicht zu sehr belasten. Und zwischen ihrem Haus und meiner Wohnung hin und her zu fahren, ist angesichts der vielen Arbeitsstunden auch nicht ideal.«
»Was wäre, wenn du deine Stunden kürzt?«
»Ja, klar.« Jess wusste nicht, ob sie lachen oder stöhnen sollte. »Weißt du, was mit meiner Position in der Abteilung passieren würde?«
»Ich kenne deine Abteilung nicht so gut, aber das ist das einundzwanzigste Jahrhundert. Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?«
»Ich würde nicht mehr für meine Lieblingseingriffe eingeteilt werden.« Das war eine Tatsache. Einer von Jess’ Kollegen hatte darauf bestanden, ein paar Tage freizubekommen, um an der Uni zu unterrichten, und das war die Vergeltung gewesen.
»Vielleicht. Aber hast du mir nicht gesagt, dass dein Chef total verzweifelt war und dich so schnell wie möglich wieder zurückbekommen wollte? Also schätzt er deine Fähigkeiten und wäre möglicherweise bereit, einen Dienstplan auszuhandeln, der besser zu dir passt. Du könntest immer noch damit drohen, dich in einer Praxis niederzulassen. Ich bin mir sicher, dass es genug Praxen gibt, die dich sofort übernehmen würden.«
»Hm. Daran hatte ich gar nicht gedacht.« Jess ließ das Argument einen Moment sacken, während sie ihren Kaffee trank. Durch den Verlust ihres Selbstwertgefühls während der Krankheit hatte sie vergessen, wie sehr ihre Fähigkeiten geschätzt wurden.
»Und noch etwas anderes. Ich irre mich vielleicht, aber ich vermute, dass du schon die meisten der professionellen Ziele erreicht hast, die du dir gesetzt hast. Oder planst du, Chefärztin zu werden?«
»Nein, viel zu viel Papierkram. Ich bleibe lieber im Mittelfeld und mache die tatsächliche Arbeit mit meinen Patienten.«
»Also hast du den Facharzttitel in einer anspruchsvollen Spezialisierung, beherrschst alle fortgeschrittenen Interventionen und hast dich sogar auf ein kleines Feld spezialisiert, dass nur wenige interventionelle Kardiologen jemals erreichen. Richtig?«
»Richtig.«
»Und du bist wie alt, siebenunddreißig?«
Jess nickte. Sie war sich nicht sicher, worauf Diana hinauswollte.
»Hast du jemals drüber nachgedacht, wie wenig Zeit du gebraucht hast, um an diesen Punkt zu kommen, im Vergleich zu all den Jahren, die du noch bis zur Rente vor dir hast?«
»Ähm, nein.« Jess runzelte die Stirn.
»Das ist nur geraten, aber du hast vielleicht elf oder zwölf Jahre seit Beendigung des Medizinstudiums gebraucht, um dies hier zu erreichen. Und du musst vielleicht noch fünfundzwanzig, dreißig Jahre arbeiten.«
»Das ist eine lange Zeit.« Jess blinzelte. Sie hatte sich das noch nie ausgerechnet.
»Genau. Und was macht es, wenn du ein paar dieser Jahre Teilzeit arbeitest? Ist es wirklich wichtig, wenn du sechzig bist und auf deine Karriere zurückblickst? Es ist nicht dasselbe, aber ich habe meine medizinische Laufbahn neun Jahre lang pausiert, um in einer Rockband zu spielen. Heute bin ich vielleicht mit Ende dreißig eine viel zu alte Assistenzärztin. Aber in einem Jahr bin ich eine fertige Notfallmedizinerin mit dem Bonus von einigen tollen Erinnerungen. Die kann mir keiner nehmen.«
Konnte es so einfach sein? Warum hatte sie darüber noch nie nachgedacht? Und war es nicht das Gleiche bei ihrer Mutter? Die paar Jahre in der Mitte, die sie zu Hause geblieben war, hatten ihrer Karriere am Ende nicht geschadet.
Dianas Telefon unterbrach Jess’ Gedankenkreisen mit einer Serie von dringlichen Piepstönen.
»Es tut mir leid, ich muss los. Alles okay?«
»Nein.« Jess grinste. Sie fühlte sich leichter als in den letzten Tagen. Das Gewicht, das sie langsam erdrückte, seit sie angefangen hatte, ihr Leben als alleinerziehende Mutter zu jonglieren, hob sich ein wenig. »Aber das wird es sein. Danke für das Gespräch.«
»Jederzeit.« Diana eilte zum Ausgang.
Jess folgte ihr und zwang sich, nicht zu rennen. Sie wusste nicht, ob Koffein oder Adrenalin ihre Schritte beflügelte, aber sie vibrierte voller Energie. Es war noch sehr früh am Morgen und es würde Stunden dauern, bis ihr Chef zur Arbeit kam. Genug Zeit, um eine Liste zu erstellen und das Gespräch zu planen.