Kapitel 23
Lena saß mit einem Glas Wasser, von dem sie wünschte, dass es Wein wäre, auf der Veranda. Ihre Zeichensachen lagen neben ihr, aber für den Moment ignorierte sie ihre Stifte. Die Sonne ging unter und die flach einfallenden Strahlen intensivierten die Farben im Garten wie in einem Feenreich. Vögel nutzten die letzten Minuten des Tageslichts, um zu singen oder sich über ihren Tag zu unterhalten oder zu flirten. Was auch immer sie taten, es war beruhigend und sie wollte jede Sekunde davon genießen.
Und warum auch nicht? Sie hatte nichts anderes zu tun, als ihre Füße hochzulegen. Das hatte sie als Erwachsene noch nicht oft erlebt.
Die letzte Woche war eine Gefühlsachterbahn gewesen. Durch den Streit mit Jess hatte sie mit einem ruckelnden Tief begonnen, dann einen Höhepunkt im Gespräch mit Maggie erreicht und war schließlich wieder abgestürzt, als sie mit ihrer Mutter telefoniert hatte. Oder war das auch ein Aufstieg gewesen? Vielleicht nur ein wellenreicher Abschnitt, der sie durchgerüttelt hatte, bis ihr schlecht wurde.
Ihr Versuch, sich von Ellas Gegenwart zu entwöhnen, war auf jeden Fall ein Tiefpunkt. Sie vermisste die Abendspaziergänge, Ella die Flasche zu geben oder einfach mit ihr zu kuscheln. Stattdessen hatte sie ihre Zeichnungen verbessert, da das die einzige Ablenkung war, die ihre Aufmerksamkeit fesseln konnte.
Und das hatte zum nächsten Höhepunkt geführt, ihrem Treffen mit Joanne. Sie war nett und bodenständig − keine Überraschung, da sie Maggies Freundin war. Und sie schien aufrichtig interessiert an Lenas Zeichnungen, lobte ihre botanischen Details und ihren Einsatz von Farbe. In den wenigen Stunden, die sie zusammen verbracht hatten, hatte sie Lena bereits mehr hilfreiche Ratschläge und Anleitung gegeben, als sie jemals von irgendjemand anderem erhalten hatte. Und Joanne hatte die Einladung zur kostenlosen Teilnahme an ihrem Kurs wiederholt.
Deshalb saß Lena jetzt am Ende der Woche hier, mit der Hoffnung, dass ihre Zukunft etwas anderes bot außer Arbeit, obwohl ihr Privatleben einsamer war als zuvor. Sie hatte Jess seit ihrem zweiten Streit nicht mehr gesehen und auch wenn sie mit ihr reden wollte, war das keine Unterhaltung, die man am Telefon führen sollte.
Schritte auf dem Weg kündigten einen Besucher an. Lena stand auf, um Maggie zu begrüßen.
Aber es war nicht Maggie.
Jess kam näher, eine Weinflasche in der einen Hand und zwei Gläser in der anderen. Sie hielt vor der Veranda an. »Ähm, hi.«
Es war schwierig, ihrem zaghaften Lächeln zu widerstehen, aber Lena hatte die ganze Woche an Ella geübt, um ihr Herz vor dem Charme der Riley-Frauen zu beschützen. Zuerst mussten sie miteinander reden. »Hi.«
Jess’ Lächeln verschwand, aber sie hielt weiterhin Blickkontakt. »Ich habe gehofft, dass ich mich entschuldigen darf. Schon wieder. Und ich bringe Geschenke.« Sie hielt die Flasche hoch.
Es war der Wein, den sie im Strandhaus zusammen getrunken hatten. Dass Jess sich erinnerte und sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu finden, schmeichelte Lena mehr, als sie zugeben wollte. Sie trat von dem Geländer zurück und lud Jess mit einer Geste ein, sich ihr anzuschließen. »Der Wein ist ein gutes Argument.« Sie setzte sich seufzend.
Jess stellte die beiden Gläser auf den Tisch und fischte ein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche. Die Flasche war schnell geöffnet und sie schenkte beiden ein. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich.« Die Förmlichkeit war süß und nervig zugleich. Obwohl Lena vor allem von sich selbst genervt war, weil sie es süß fand. »Bist du dir sicher, dass Wein eine gute Idee ist? Du könnest mit einem weiteren ruinierten Oberteil enden.«
Jess hatte ihr Glas hochgenommen und schwenkte die dunkelrote Flüssigkeit herum. »Ich vertraue dir, dass du deine Macht nicht missbrauchst.«
»Okay.« Lena nahm einen Schluck Wasser. Sie brauchte einen klaren Kopf für diese Unterhaltung.
Nach einem großen Schluck stellte Jess das Weinglas auf den Tisch und wischte ihre Hände an ihren Shorts ab. »Es tut mir leid, was ich gesagt habe und wie ich unser Gespräch letzte Woche angegangen bin.«
Die Worte sprudelten aus ihr heraus und die Zeichen ihrer Nervosität untergruben Lenas Entschlossenheit, Abstand zu wahren. Sie traute ihrer Stimme nicht zu, neutral zu klingen, also schwieg sie und wartete.
Jess lehnte sich nach vorn und legte ihre Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben. »Ich war eine arrogante Idiotin. Ich habe dir Egoismus vorgeworfen, aber das war alles ich. Anstatt mich aufrichtig bei dir zu entschuldigen, habe ich versucht, dir meine Lösung für meine Probleme aufzudrücken. Und es tut mir leid, dass ich gesagt habe, dass du dich nur um Maggie sorgst, weil du eine Ersatzmutter haben willst.« Sie atmete tief ein. »Das war falsch.«
»Warum hast du das gesagt?«
»Hauptsächlich aus egoistischen Gründen.« Jess zuckte zusammen, hielt aber den Blickkontakt. »Ich wollte dich verletzen, weil du eine Wahrheit ausgesprochen hast, die ich nicht hören wollte. Du hast mich herausgefordert und mich zur Rechenschaft gezogen. Das ist mir schon sehr lange nicht mehr passiert und ich habe das gebraucht. Ohne dich hätte ich mich nicht geändert. Danke.« Etwas Neues klang in Jess’ Stimme mit. Respekt.
Bis zu dieser Sekunde hatte Lena nicht gewusst, dass sie das hören musste. Es beruhigte ihre blank liegenden Nerven besser, als irgendwelche Vögel, Sonnenuntergänge oder Wein es vermochten. Bevor sie das in Worte fassen konnte, fuhr Jess fort.
»Du hattest recht. Ich habe zu viel von meiner Mom gefordert. Dann habe ich arrogant gedacht, ich könnte alle Probleme lösen, indem ich dir eine Lösung aufzwinge, die du weder willst noch brauchst. Und als du mir gesagt hast, dass ich damit aufhören soll, habe ich nicht zugehört. Ich entschuldige mich auch dafür.« Jess’ Augen waren mit einer Unzahl Emotionen gefüllt wie die Schattierungen eines sturmgeplagten Himmels im Gemälde eines alten Meisters. Bedauern. Selbstverachtung. Angst. Vertrauen. Und wieder Respekt.
Lena suchte nach einer passenden Formulierung für ihre Antwort. Die Entschuldigung war aufrichtig und anders als letzte Woche. Jess hatte darüber nachgedacht.
Der Drang, Jess zu vergeben, kämpfte mit ihrem Instinkt, ihr eigenes Herz vor Schmerz zu schützen. Dafür musste sie Abstand halten. Um etwas Zeit zu gewinnen, nahm sie einen kleinen Schluck Wein. Er war so gut wie in ihrer Erinnerung und rief den ersten gemeinsamen Kuss zurück in ihr Gedächtnis. Das war ganz und gar nicht hilfreich. Sie verzog das Gesicht angesichts ihres verräterischen Gehirns.
»Okay. Ich habe gesagt, was ich sagen musste, und ich lasse dich in Frieden.« Jess stand seufzend auf und nahm ihr Weinglas. »Heute Nacht bleibe ich in meinem Zimmer und morgen fahre ich in meine Wohnung. Ich gebe dir Abstand.«
Oh, nein. Jess dachte, dass Lena noch wütend auf sie war. »Nein, warte. Ich habe nicht deinetwegen so geschaut, nur wegen meiner Gedanken und … Bleib, bitte.«
Jess setzte sich wieder und wartete.
»Ich nehme deine Entschuldigung an und ich schulde dir auch eine. Ich …« Lena schluckte, um ihren plötzlich trockenen Hals zu benetzen. Die ganze Woche hatte sie über die Entschuldigung nachgedacht und jetzt, da sie Jess gegenübersaß, fehlten ihr die passenden Worte. »Als du mir die Stelle als Kindermädchen angeboten hast, ist einiges aus meiner Vergangenheit wieder hochgekommen und ich habe rotgesehen. Du konntest nicht wissen, was du wirklich von mir verlangt hast, da ich dir nicht meine ganze Vergangenheit anvertraut habe. Anstatt das zu erklären, habe ich die ganzen Gefühle von damals und heute vermischt und überreagiert. Und was ich gesagt habe …, dass du deine Mutter umbringst … Es tut mir so leid, das war schrecklich.« Sie blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten.
»Danke. Also ist alles gut zwischen uns?« Jess’ Stimme überschlug sich.
»Wir sind auf dem besten Weg dahin.« Lena hielt ihr Weinglas in einer Friedensgeste hoch.
Jess stieß mit ihrem an und ein klarer Ton erklang.
Für einen Augenblick war es genug, den Wein schweigend zu trinken, während die Entschuldigung sich um ihre Schultern legte wie ein warmer Mantel. Der Abendhimmel verdunkelte sich von Pink zu Indigo. Die Dunkelheit gab Lena den Mut, sich zu öffnen und Jess’ Respekt mit Vertrauen zu würdigen.
»Ich habe dir von Tammy erzählt, aber nicht die ganze Geschichte. Als meine kleine Schwester geboren wurde, bin ich nur allzu gern zu meiner Mutter gezogen. Tammy war bezaubernd. Es war, als ob mein Traum von einer glücklichen Familie wahr geworden wäre. Aber dann ging alles den Bach runter. Ich hatte Angst, es meiner Großmutter zu sagen, weil sie mich vor meiner Mutter gewarnt und ich sie ignoriert hatte.« Lena nippte an dem Wein und seufzte. Sie war froh, dass Jess’ Gesicht im Schatten lag. Sie wollte das Mitleid nicht sehen.
»Ich habe dir erzählt, dass ihr Mann nach Hause kam und ihre Abhängigkeit entdeckte und sich scheiden ließ. Er hat Tammy mitgenommen. Was ich dir noch nicht gesagt habe, war, dass er mich nicht zu Tammy ließ, obwohl ich sie so sehr liebte. Er sagte, ich wäre genauso unzuverlässig wie meine Mutter, weil ich sie unterstützt und gedeckt hatte, statt ihn zu informieren. Das war nicht fair. Ich war noch ein Teenager, die sich zu sehr in alle Richtungen verbogen hatte, aber er sah das nicht so. Meine Mutter hat mich überzeugt, ihren Sorgerechtskampf zu unterstützen, als einzige Möglichkeit, Tammy je wiederzusehen. Ich habe ihr für den Scheidungsanwalt alle meine Ersparnisse und das Collegesparbuch von meinen Großeltern gegeben. Ich habe gearbeitet, um die laufenden Rechnungen für uns beide zu bezahlen. Und als das Geld weg war, hat sie versucht, mich in einen Betrug mitreinzuziehen. Als ich mich geweigert habe, bei ihren Plänen mitzumachen, war ich wertlos für sie. Ballast.« Lena knirschte mit den Zähnen. »Sie sagte mir, sie hätte sowieso nur einen Babysitter gebraucht. Ein Kindermädchen. Und dann hat sie mich rausgeworfen.«
»Das tut mir so leid.« Jess streckte ihre Hand aus. In der Dunkelheit brauchte sie ein paar Versuche, bis sie Lenas Hand fand.
»Es ist schon lange her. Ich bin darüber hinweg.« Wenn sie das oft genug wiederholte, würde Lena das vielleicht eines Tages selbst glauben und der Schmerz würde verschwinden. Heute war noch nicht dieser Tag.
»So etwas zu sagen, ist grausam und es tut mir sehr leid, dass deine Mutter dich so verletzt hat.« Jess’ Fingerspitzen fuhren über Lenas Fingerknöchel. Die Berührung war sanft und hypnotisierend. »Siehst du sie noch?«
»Nein, sie hat in den letzten Jahren ein paarmal versucht, den Kontakt wieder aufzunehmen, aber es stellte sich immer heraus, dass sie irgendetwas brauchte. Geld oder einen Platz zum Wohnen. Die ersten Male war ich so doof und glaubte ihren Entschuldigungen, bis ich meine Lektion gelernt habe. Das ist der Hauptgrund für meine Schulden. Sie schreibt manchmal aus dem Gefängnis, aber ich ignoriere die Briefe.« Lena hätte es dabei belassen können, aber sie wollte ehrlich zu Jess sein. »Ich ignorierte sie, weil ich immer noch wütend war und nicht damit umgehen konnte. Letzte Woche habe ich zum ersten Mal seit zwei Jahren einen Anruf angenommen. Nachdem ich bei dir ausgeflippt bin, habe ich gemerkt, dass ich lernen muss, den Ärger loszulassen und ihr zu vergeben.«
»Wie lief der Anruf? Hat er geholfen?« Jess’ sanfter Druck auf ihrer Hand ließ nicht nach.
»Ich glaube schon. Ich bin jetzt eher traurig als wütend. Aber es wird noch ein langer Weg. Und ich glaube, dass ich ihr nie wieder voll vertrauen werde.« Als sie die Worte laut aussprach, war es, als würde sich in ihr ein Schalter umlegen.
Lena hatte sich die Lektion zu Herzen genommen und aufgehört, allen zu vertrauen. Zumindest was ihre finanzielle Sicherheit und ihr Herz betraf. Erst war Maggie durch ihren Schutzwall gebrochen und dann Ella und jetzt Jess … Jess wollte ihr Vertrauen, aber Lena war sich nicht sicher, ob sie ihr Herz wieder öffnen konnte.
»Und hier sitze ich und denke, wenn ich mich entschuldige, wird auf magische Weise alles wieder gut.« Jess schnaubte verächtlich. »Versteh mich nicht falsch, es tut mir immer noch leid, aber ich verstehe, wenn du meiner Entschuldigung nicht trauen kannst. Ich habe dich quasi das Gleiche wie deine Mutter gefragt.«
Stimmt, Lena hatte reagiert, als wäre es das Gleiche, aber das war es nicht. »Das konntest du nicht wissen.«
»Nein.« Jess’ Stimme war heiser und sie räusperte sich. »Aber ich habe trotzdem nicht darauf gehört, was du wolltest.«
»Es ist nicht das Gleiche. Du warst ehrlich. Du hast mir einen Job angeboten − ohne Hintergedanken. Sie hat mich mit dem Versprechen, eine Familie zu sein, eingewickelt, obwohl sie nur einen kostenlosen Babysitter wollte.«
Jess’ Hand zitterte auf ihrer. »Es war die richtige Entscheidung, den Job nicht anzunehmen. Ich habe mehr an meine Bedürfnisse gedacht als an deine.«
Und hier war der Grund, warum Lena niemandem vertraute. Jeder folgte seinen eigenen egoistischen Pfaden und Jess hatte eben zugegeben, dass sie nicht anders als alle anderen war.
Aber war Lena so viel besser? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war − und dieser Abend stand ganz im Zeichen der Ehrlichkeit − lebte sie hier nicht nur wegen der Bequemlichkeit, ein nettes Haus zu haben. Sie genoss Maggies Freundschaft, weil sie Lena ernst nahm und sie so akzeptierte, wie sie war. Ella heilte ein Loch in ihrem Herzen, das Tammy hinterlassen hatte. Und Jess … Sie hatten sich gegenseitig geholfen. Beide hatten Unterstützung angeboten und angenommen und das hatte Lena mehr bedeutet, als sie oberflächlich ausgedrückt hatte.
Auch Lenas Handlungen und Gedanken waren mit versteckten Bedeutungen und Motiven durchdrungen, die ihr selbst nicht immer klar waren, aber das bedeutete nicht, dass sie andere ausnutzen wollte. Warum sollte es also bei Jess und ihren Motiven anders sein?
Lena verflocht ihre Finger mit Jess’. Ihre Hand war warm und sanft, vibrierte mit Energie und Stärke und es fühlte sich richtig an, sie zu halten. »Danke für die Entschuldigung. Schon wieder. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich ausgeflippt bin. Das war nicht fair.«
»Vielleicht …« Jess räusperte sich erneut. »Vielleicht können wir daran arbeiten, uns zu öffnen.«
Die Achterbahn war zurück und schleuderte Lena in Sekundenschnelle von Furcht in Richtung Hoffnung und wieder zurück. Mit dem Schleudertrauma wurden ihre Gedanken durcheinandergewirbelt. Aber es gab nur eine Antwort, die sie geben wollte. »Ja.«
Wenn es nach Jess ginge, hätten sie hier die ganze Nacht sitzen und sich an den Händen halten können, aber sie hatte versprochen, Lenas Grenzen zu respektieren. Sie zog ihre Hand zurück und plötzlich war die Abendkühle spürbar. Ein Schauer lief durch sie hindurch. »Ich gehe lieber und überlasse dich deinem Abend. Genieß den Wein.«
»Warum bleibst du nicht und teilst ihn mit mir?« Lenas Stimme war so warm und willkommen wie eine sommerliche Brise.
»Sehr gern.« Für eine kurze Zeit tranken beide den Wein wortlos, als wäre das der eigentliche Grund, weshalb sie zusammensaßen. Er war exzellent, aber nicht die Quelle der schwindelerregenden Freude, die in Jess aufstieg. Lena hatte ihr nicht nur zugehört und die Entschuldigung akzeptiert, sondern es ihr gleichgetan und sich erklärt. Die Einladung zum Bleiben zeigte, dass auch Lena ihre Freundschaft fortsetzen wollte. Oder ihr Flirten oder was auch immer sie miteinander verband.
»Ich hole etwas Licht.« Lena verschwand im Haus und kehrte rasch mit zwei Kerzen zurück.
Das flackernde Licht erinnerte Jess an die Massagen und ein Funken Erregung entzündete sich tief in ihr. Denk nicht daran.
Jess suchte nach einem Thema, das sie ablenken würde. »Mom hat gesagt, dass du darüber nachdenkst, wegzuziehen. Stimmt das?«
Lena seufzte und ließ ihren Wein im Glas kreisen. »Nein. Es war ein kindischer Impuls, wegzulaufen. Alles ist so kompliziert und ich habe Angst davor, alle Bereiche meines Lebens mit deiner Familie zu verknüpfen. Aber ich bekomme das hin. Zunächst war ich Maggies Freundin, aber jetzt arbeite ich mit ihr und sie hilft mir sogar, in einen Kurs an der Uni zu kommen. Und die letzten Monate hast du einen Großteil meiner Zeit belegt. Ich beschwere mich nicht, es haben sich tolle Sachen daraus ergeben. Ich habe deine Tochter kennen- und lieben gelernt und dir Tai-Chi beizubringen, hat mir auch geholfen. Und jetzt haben wir diese Freunde-mit-Vorzügen-Sache am Laufen …« Lena seufzte erneut und betrachtete ihr Glas. »Ich glaube nicht, dass es für mich funktioniert.«
Die Enttäuschung ließ den Wein in Jess’ Magen sauer werden. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch und legte ihre Hände auf ihren Oberschenkeln ab.
Also kein Flirten. Oder mehr. »Es tut mir leid. Wir haben gesagt, dass es uns beiden Spaß machen soll, und wenn das für dich nicht der Fall ist, werde ich dich nicht wieder belästigen.«
»Du belästigst mich nicht. Durch all die Sachen, die sonst noch passieren, habe ich Schwierigkeiten, mich abzugrenzen. Vielleicht würde etwas Abstand helfen, damit ich nicht alle diese Gefühle durcheinanderbringe und mich zu sehr binde.« Lenas Tonfall war so neutral, als spräche sie über die Arbeit oder irgendetwas anderes ohne tiefere persönliche Bedeutung.
Jess verpasste fast den leichten Seufzer im letzten Wort. Sie sah auf. Was meinte Lena wirklich? Hatte sie gerade gesagt, dass sie sich zu sehr an Jess band? Eine Leichtigkeit durchströmte sie, als wären all ihre Probleme weggefegt worden. »Lena?«
Lenas Lippen zitterten und ihre Augen waren weit aufgerissen, als ob sie vor etwas Angst hätte. Oder vor jemandem.
Das Letzte, was Jess wollte, war, Lena noch mehr Stress und Schmerzen zu bereiten. »Ich werde jede Grenze respektieren, die du setzt. Aber ich muss etwas gestehen.« Sie schluckte und zwang sich, Lenas Blick zu erwidern. Die Furcht, sich verletzlich zu zeigen, rasselte in ihr wie eine Klapperschlange kurz vor dem Zubeißen. Aber sie vertraute Lena. »Ich habe auch Probleme mit unserer Freunde-mit-Vorzügen-Sache. Es fällt mir schwer, Abstand zu dir zu halten. Wenn ich nicht hier bin, denke ich die ganze Zeit an dich. Und deine Meinung bedeutet so viel mehr für mich, als es unter Freundinnen üblich ist. Mir wird ganz warm und kribbelig, wenn ich dich sehe, und wenn du mich anlächelst, werden meine Knie weich. Du bist die schönste, herzlichste und wärmste Frau, die ich je getroffen habe, und ich bin schon weit über bloße Anziehung hinaus. Ich bin dabei, mich in dich zu verlieben.«
»Oh.« Lenas Mund stand offen und sie betrachtete Jess mit einem benommenen Gesichtsausdruck, als hätte sie ein Wunder gesehen und könnte sich noch nicht entscheiden, ob es eine gute oder schlechte Sache war.
Jess’ Herzschlag hämmerte so hart und schnell wie vor drei Monaten, als sie in Ohnmacht gefallen war. Aber diesmal versagte ihr Herz nicht, sondern wurde von Hoffnung und Vorfreude angetrieben. Als Lena nicht antwortete, schien sich ein Loch unter Jess zu öffnen, aber sie weigerte sich, darin zu versinken. »Wie ich sagte, ich respektiere, was auch immer du willst. Ich werde nicht im Garten herumhängen und dich stalken oder so etwas. Wenn du willst, dass ich Abstand halte, überlasse ich dir diesen Teil des Gartens. Wenn du willst, dass wir nur Freunde bleiben, arbeite ich an meinen Gefühlen und werde das nicht mehr erwähnen. Ich kann verstehen, warum du mich nicht für mehr als Freundschaft haben willst.« Jess öffnete ihre Hand, um die Punkte an ihren Fingern abzuzählen. »Ich bin alleinerziehende Mutter und habe nicht viel Zeit. Eigentlich weiß ich nicht, was ich sonst zu bieten habe. Geld vielleicht, aber … Mein Körper ist nach der Schwangerschaft nicht in guter Form. Ich bin eine egoistische Idiotin. Ich …«
»Hör auf!« Lena stellte ihr Glas so schnell auf den Tisch, dass es fast überschwappte, und sprang auf.
Sie trat näher, direkt an Jess heran. Ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit, als ihr Blick über Jess wanderte, dann nahm sie Jess’ Gesicht in beide Hände und küsste sie.
Bevor sich Jess auf den Kuss einlassen konnte, war er auch schon wieder vorbei.
Lena lehnte sich zurück, sah in Jess’ Augen und vergrub die Hände in ihren Haaren.
Diese Bestimmtheit war neu und total heiß. Jess leckte ihre Lippen.
»Du hast viel zu geben und Geld ist der am wenigsten interessante Aspekt von dir.« Lenas Hände hielten sie fester. »Ich kämpfe andauernd gegen die Gefühle an, nichts wert zu sein, dass emotionale Bindungen nur vorübergehend und bedingt sind und dass mich jeder sofort verlässt, wenn ich mich öffne. Aber ich will nicht mehr kämpfen.«
»Wir haben beide dieselben Ängste.«
»Ja. Wir fürchten uns beide vor Zurückweisung.« Lena massierte sanft Jess’ Kopfhaut.
Ihr Duft umhüllte Jess und sie musste sich zwingen, die Augen geöffnet zu halten. Alles, was sie wollte, war, in Lenas Umarmung zu sinken und loszulassen. Aber es war wichtig, dass Lena das Tempo vorgab.
Lena küsste sie sanft auf den Mund. »Willst du zusammen mutig sein?«
»Ja.« Jess erwiderte den Kuss. »Ja, ja, ja.« Es war nur eine kurze und keusche Berührung der Lippen, aber sie war eine Bestätigung und ein Versprechen für die Zukunft.
Auf dem Rückweg von ihrem Morgentraining tätschelte Lena den Gartenstuhl auf ihrer Veranda liebevoll. Gestern Abend war der übergroße Stuhl jede Stunde wert gewesen, die sie in sein Abschleifen und Streichen investiert hatte. Er hatte sich nicht nur als stabil, sondern auch als überraschend bequem für zwei Personen herausgestellt, die aufeinandersaßen und stundenlang rummachten.
Jess war schließlich in ihr Zimmer zurückgegangen, nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, es langsam angehen zu lassen. Diese schlaue Idee hatte zu einer schlaflosen Nacht geführt. Lena hatte Jess vermisst.
Als sie sich heute Morgen zum Tai-Chi getroffen hatten, hatte Jess immerhin genauso müde ausgesehen, wie sich Lena fühlte. Aber nach zehn Minuten hatte Ellas Weinen durch das Babyphon die friedliche Atmosphäre zerstört und Jess war gegangen, um nach ihr zu sehen. Sie hatte versprochen, Frühstück zu machen, und wartete vermutlich schon auf Maggies Terrasse.
Lena duschte so schnell wie möglich. Da es ein weiterer warmer Oktobertag zu werden schien, zog sie sich in Lagen an. Das Trägershirt direkt an ihrer Haut war aus Seide und sogar der weite Pullover darüber minderte nicht das Gefühl, sexy zu sein. Wie würde es sich anfühlen, wenn Jess ihre Hände unter den Pullover schob und Lenas Haut durch die Seide hindurch streichelte? Lena stöhnte. Warum hatten sie gestern beschlossen, die Nacht nicht gemeinsam zu verbringen? Ihr fiel kein guter Grund mehr dafür ein.
Sie schlüpfte in ihre Sandalen und hastete die Stufen hoch zum Haupthaus.
Wie versprochen wartete Jess auf der Terrasse. Sie hatte den Tisch für zwei gedeckt und sogar eine kleine Vase mit Gartenblumen in die Mitte gestellt. Ellas Kinderwagen stand an der Seite, aber es drangen keine Geräusche heraus.
Mit einem breiten Lächeln stand Jess auf und öffnete ihre Arme.
Lena umarmte sie und seufzte gegen die weiche Schulter. So viel besser als letzte Woche. Sie neigte ihren Kopf für einen Kuss.
Jess’ Lippen waren so sanft und zärtlich wie gestern Abend, aber statt nach Wein schmeckte sie nach Paprika, Tomaten und Neuanfang.
Nach einer Weile trennten sie sich und Lena sah in Ellas Richtung. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Sie war nur hungrig. Apropos hungrig … Wie wäre es mit einem Omelett?«
»Ich bin am Verhungern.«
»Setz dich und nimm dir Tee. Ich bin gleich wieder da.«
Anstatt sich zu setzen, ging Lena zu Ella und schaute in den Kinderwagen. Sie schlief, deshalb widerstand Lena der Versuchung, sie hochzunehmen, um mit ihr zu kuscheln, und genoss den Anblick auf Abstand. Ellas Hände öffneten und schlossen sich und ihre Augen bewegten sich hinter geschlossenen Lidern. Vielleicht träumte sie. Verschiedene Emotionen flackerten über ihr Gesicht.
Jess kam zurück und stellte eine zugedeckte Pfanne auf den Tisch. Als sie den Deckel anhob, driftete das Aroma von Gemüse, Käse und Kräutern zu ihr herüber.
Mit grummelndem Magen ging Lena zurück zum Tisch. »Das duftet lecker.«
»Ich habe alles aus dem Garten, außer natürlich Eier und Käse. Ich hätte nie gedacht, dass frisches Gemüse einen solchen Unterschied machen würde.« Jess schnitt das Omelett und platzierte eine großzügige Portion auf Lenas Teller. »Brauchst du noch etwas?«
»Hmm, nein. Danke. Wo ist Maggie?«
»Eine Freundin von ihr hat Geburtstag und hat eine größere Gruppe zum Brunch eingeladen. Mom ist früher hingefahren, um mit den Vorbereitungen zu helfen.«
Beide langten zu und Lena stöhnte glücklich. Der Geschmack und die Konsistenz des Omeletts waren perfekt. »Du bist eine gute Köchin.«
»Ähm, nein. Nur Frühstück am Wochenende. Das habe ich von meinem Vater gelernt.« Jess sah über ihre Schulter zu Ella. »Aber ich muss wohl bald den Rest lernen.«
»Willst du alles selbst kochen?« Lena konnte sich nicht vorstellen, dass Jess jeden Tag Stunden in der Küche verbrachte.
»O Gott, nein. Ich bin teilweise mit Lieferservicemahlzeiten und Fertigessen aufgewachsen und trotzdem ist aus mir was geworden. Als ich klein war, hatte Mom nicht so viel Zeit zu kochen wie heute und mein Vater war auch erst spät zu Hause. Aber ich denke, ein ausgewogenes Gleichgewicht ist wichtig.«
»Stimmt. Meine Oma hat auf selbst gemachtes Essen bestanden und ich habe immer nach Ausreden gesucht, um bei meiner besten Freundin zu essen, wenn bei ihr Pizza oder Chinesisch auf dem Speiseplan stand. Ich denke aber, dass du noch etwas Zeit hast, um herauszufinden, was für dich funktioniert. Im Moment interessiert sie sich nur für eine Art Essen.«
Jess lachte. »Mein Glück. War sie gerade eben wach?«
»Nein, sie hat geträumt. Ich liebe es, wie ihr Gesicht zuckt.« Lena musste lächeln. »Ich frage mich, wovon sie wohl träumt.«
»Milch?« Jess zuckte mit den Achseln. »Das ist der wichtigste Teil ihres Tages.«
»Oder vielleicht träumt sie von dir? Du bist auch sehr wichtig.«
Jess’ Gesichtszüge wurden ganz weich und sie errötete. »Vielleicht.«
Diese Röte ließ Lena warm im Herzen werden. »Wovon träumst du?«
»Meinst du nachts?« Jess zog ihre Augenbrauen hoch. »Ist das eine Fangfrage, um zu schauen, ob ich von dir träume? Hast du von mir geträumt?«
»Das wüsstest du wohl gern.« So gern Lena auch mit ihr flirtete, sie wollte die Gelegenheit nutzen, um ihre Beziehung zu vertiefen. »Meine Frage war allgemeiner. Was sind deine Zukunftsträume?«
»Hm.« Jess schnitt ein kleines Stück Omelett ab und kaute. Ihr Blick war auf den Teller gerichtet, aber Lena würde ihre Stifterolle verwetten, dass Jess ihr Essen eigentlich nicht sah. »Meine Pläne ändern sich ständig. Sie sind nicht mehr dieselben wie im letzten Jahr oder sogar noch letzten Monat. Ich bin mir nicht sicher, wie meine Zukunft aussehen wird.«
»Aber was wünschst du dir? Was sind deine großen Träume?«
»Ich habe eigentlich schon alles, was ich immer wollte: meinen Traumjob, eine große Wohnung in der Stadt, ein gesundes Kind. So habe ich mir meine Zukunft schon vorgestellt, als ich meinen Highschoolabschluss gemacht habe, und dementsprechend habe ich mein Leben geplant.«
»Und ist das genug?« Lena lächelte und strich sanft über Jess’ Arm, als sie sich anspannte. »Ich will nicht aus Prinzip widersprechen. Aber du bist nicht mehr dieselbe Person, die du warst, als du diese Pläne gemacht hast.«
Jess neigte ihren Kopf zur Seite. Sie öffnete und schloss ihren Mund zweimal, bevor sie antwortete. »Du hast recht. Ich habe darüber nie nachgedacht. Ich war noch ein Teenager, als ich alles geplant habe.« Sie runzelte die Stirn. »Ich hatte ziemlich detaillierte Pläne für einige Sachen, komplett mit Zeitleisten und dutzenden Unterpunkten, aber nur vage Vorstellungen von anderen Aspekten.«
»Und was waren das für vage Ideen? Sind das deine Zukunftspläne?«
»Vielleicht. Es ist albern, aber ich habe immer gedacht, dass ich eine Frau an meiner Seite haben würde, die mich unterstützt. Bevor ich Ella bekommen habe, war ich einsam und wusste nicht, wie ich das ändern soll. Ich wollte Liebe geben, mein Leben teilen … Ich habe mir nie die Details vorgestellt. Ich wusste nur, dass ich nicht allein sein wollte. Es war, als hätte ich durch dicke Fensterscheiben auf eine nebelbedeckte Landschaft geschaut. Ich wusste nicht, wie ich dort hingelangen konnte, wo ich wollte, also bin ich lieber auf der sicheren Seite geblieben.« Sie verzog das Gesicht. »Wenn ich das laut ausspreche, klingt das so kindisch.«
»Nein, gar nicht. Nur vorsichtig. Du hast Träume und die, die du nicht sorgfältig planen konntest, hast du zur Seite geschoben und gehofft, dass sich der Nebel eines Tages heben würde.«
»Das klingt so offensichtlich, wenn du das sagst.« Jess schob ihren halb vollen Teller zur Seite und nahm die Glaskanne mit Tee. »Willst du noch?«
Lena nickte und nutzte die Gelegenheit, Jess zu betrachten, als sie einschenkte.
Eine Spur Verwirrung zeigte sich noch in ihrem Ausdruck, aber langsam schob sich die Entschlossenheit, die Lena immer bewundert hatte, in den Vordergrund. Schließlich lehnte Jess sich auf ihrem Stuhl zurück. »Du stellst gute Fragen.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube eher, du bist bereit, diese Fragen zu hören.«
»Stimmt auch. Ich will meinen Blick nicht mehr durch eine Checkliste einengen lassen und einem Plan folgen, den ich geschrieben habe, als ich halb so alt war. Ich habe dir das noch nicht gesagt, aber ich hatte am Freitag ein Gespräch mit dem Chefarzt der kardiologischen Abteilung.«
»Worüber?« Lena hatte Schwierigkeiten, dem Themenwechsel zu folgen, aber Jess schien nicht das eigentliche Thema vermeiden zu wollen.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Stunden reduzieren muss, zumindest eine Zeit lang. Ein Jahr, vielleicht zwei.«
Lena blinzelte. Das hatte sie nicht erwartet. Jess hatte ihre Arbeit immer in den Mittelpunkt gestellt. »Wie fühlst du dich damit?«
»Überraschend okay. Ich dachte, ich würde mich verloren fühlen, weil mir etwas Lebenswichtiges genommen wird, aber eigentlich empfinde ich nur Erleichterung.«
Lena lächelte. »Ich freue mich für dich. Was hat dich dazu gebracht?«
»Du.«
»Oh.«
»Du hast mir in den Hintern getreten und die richtigen Fragen gestellt. Du hast mir geholfen zu erkennen, dass Ella wichtiger ist als jede Arbeit. Ich muss mehr Zeit mit ihr verbringen. Das ist für uns beide wichtig. Wenn sie älter und unabhängiger wird, kann ich die Arbeitsstunden wieder steigern. Und entweder übernehme ich dann meine alten Aufgaben oder ich finde etwas Neues. Die Medizin und die Kardiologie haben so viele verschiedene Möglichkeiten zu bieten. Ich finde etwas, das ich gern mache.«
»Das ist wunderbar. Es tut mir weh, dich immer so müde und zerrissen zu sehen.«
Jess zuckte mit den Achseln. »Ich werde immer noch müde sein, aber ich denke, das gehört dazu. Du kannst keine Kinder haben und erwarten, dass sie die ganze Zeit schlafen.«
Ella suchte sich diesen Moment aus, um zu weinen. Kein verzweifeltes Schreien, mehr ein leises Hey, ich bin wach, wo ist mein Unterhaltungsprogramm?
Jess lachte, hob sie aus dem Wagen und kuschelte sie an sich.
Der Anblick von beiden zusammen ließ Lena innerlich schmelzen. Sie sollte nicht starren, aber die Liebe, die diese beiden teilten, hypnotisierte sie immer.
Jess kehrte zu ihrem Stuhl zurück und setzte Ella auf ihren Schoß. Sie hielt sie mit einem Arm um die Mitte und streichelte ihr mit der anderen Hand über den Kopf, der an ihre Brust gekuschelt war. Als sie zu Lena aufblickte, hing immer noch ein Hauch der Liebe in ihrem Blick. »Und wovon träumst du? Was sind deine Zukunftspläne?«
Lena schloss ihre Augen, um sich konzentrieren zu können. Diese Fragen waren wichtig und sie wollte sich nicht von zwei Paar blauer Augen ablenken lassen, die eine Abkürzung zu ihrem Herzen zu kennen schienen. »Träume und Pläne? Für mich sind die beiden Fragen völlig getrennt. Meine aktuellen Pläne betreffen meine Arbeit. Ich versuche, alle Arbeitskraft zu konzentrieren und mich nicht zu sehr zu zerreißen, indem ich überall kleine Jobs annehme. Was deine Mutter mir anbietet, ist tatsächlich perfekt. Ich lerne viel und arbeite gern mit ihr. Die Zusammenarbeit mit ihr ist kreativer, als ich dachte. Maggie hat sogar vorgeschlagen, dass sie die Skizzen ihrer Lektorin schickt, um einige meiner Illustrationen mit ins Buch aufzunehmen, aber ich weiß nicht, ob ich gut genug bin. Talent ist nicht alles. Also, mein Plan ist es, mit Maggie zu arbeiten und meine Fähigkeiten zu verbessern und meine Schulden abzuzahlen. Jetzt da ich nicht mehr so viel Zeit verschwende, um zwischen Mindestlohnjobs hin- und herzurennen, mache ich gute Fortschritte.«
»Und deine Träume?« Jess wackelte mit den Fingern vor Ellas Gesicht herum, hielt aber weiter Blickkontakt mit Lena. Sie lächelte, als Ella mit beiden winzigen Händen ihre Finger untersuchte, als ob sie ein Spielzeug wären.
»Die Gelegenheit, botanische Illustration zu studieren, meine Fähigkeiten zu verbessern, das ist ein Traum, der wahr geworden ist. Ich habe die Natur immer geliebt und wollte sie darstellen. Auch als ich klein war, habe ich selten etwas anderes gezeichnet.« Das war die Wahrheit, allerdings kratzte die Antwort nur an der Oberfläche.
Lena hatte sich geschworen, sich mehr zu öffnen und ihrer Beziehung eine wirkliche Chance zu geben. Sie vertraute Jess mit ihren Träumen. Und ihrem Herzen. »Ich will gesehen und geschätzt werden, wie ich bin, für meine Persönlichkeit. Ein Zuhause finden. Eine Familie haben. Geliebt werden.«
Ein breites Grinsen breitete sich auf Jess’ Gesicht aus. »Das ist auch mein Traum. Ich will eine Familie.« Sie sah auf Ella herab. »Oder besser, ich will meine kleine Zwei-Personen-Familie mit einer Partnerin teilen, gleichberechtigt. Jemand, die ich liebe, die mich liebt und die Ella wie ihre eigene Tochter liebt.«
Sie starrten einander an und Lena hatte Angst zu atmen. Sie wollte die Verbindung nicht unterbrechen und zur Realität zurückkehren. Konnte es wirklich so einfach sein? Konnten sie verkünden, dass sie dasselbe wollten, und es dann einfach haben? Oder fand das nur in ihrem Kopf statt? Bemerkte Jess überhaupt, was gerade geschah?
Ella unterbrach den Zauber, als sie sich in Jess’ Halt wand und weinte.
»Was ist?« Jess hob sie hoch und rümpfte die Nase. »Ah, Zeit für eine neue Windel.« Sie stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung des Hauses, dann drehte sie sich wieder um. »Ich will nicht weglaufen, aber …« Sie wies auf Ella. »Können wir später weiterreden?«
Lena atmete aus und nickte. »Später. Wir haben Zeit.« Ja, sie sollten reden. Aber sie brauchten auch Zeit, um ihre Geständnisse zu verarbeiten und sich als Paar zu finden. Körperlich und emotional.
Sie waren noch keine vierundzwanzig Stunden in einer Beziehung. Sie hatten alle Zeit der Welt, um sich einfach nur zu genießen und entdecken. Aber das Wissen, dass sie beide die gleichen Träume teilten, half. Sie gingen in dieselbe Richtung und nicht nur die Reise war wichtig, sondern auch das gemeinsame Ziel.