Kapitel 24
Eine Tür quietschte und riss Jess aus dem Schlaf. Sie blinzelte und das Tageslicht zwang sie, ihre Augen wieder zu schließen. Seit wann machte irgendetwas in ihrer Wohnung solche Geräusche? Alles war so gut wie neu.
Moment. Warum hatte eine Tür gequietscht? War jemand hier? Sie öffnete ihre Augen und ignorierte die Helligkeit. Eine Sekunde lang wusste sie nicht, wo sie war. Das Fenster war auf der falschen Seite des Betts und viel zu nah. Das Bett war auch anders − nicht unbequem, aber nicht ihres.
»Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Schlaf weiter«, flüsterte eine Stimme hinter ihr. Lenas Stimme.
Jess entspannte sich. Es gab keinen Einbrecher in ihrer Wohnung, sie war der Eindringling. Sie rollte auf die Seite und lächelte Lena an. »Hey, du bist schon zurück? Entschuldige, ich hatte nicht vor, einzuschlafen.«
Lenas Haut strahlte rosig von den vielen Stunden draußen und ihre Haare waren in einem lockeren Knoten hochgesteckt. Hellbraune Strähnen waren entkommen und klebten an ihren Schläfen. Ihre Kleidung war zerknittert und sie sah so wunderschön aus, dass Jess ihre Finger nicht bei sich behalten konnte. Sie griff nach Lenas Hand und zog sie für einen Kuss zu sich herunter.
Lena küsste sie kurz auf die Lippen, ließ sich aber nicht aufs Bett ziehen. »Ich bin durchgeschwitzt und brauche eine Dusche. Nur eine Minute. Und du bist hier jederzeit willkommen.«
Jess rollte auf ihren Rücken und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. Wenn es nach ihr ginge, würde sie Lena anbieten, mit dem Marmeladenverkauf aufzuhören, und würde ihr selbst den Verlust bezahlen. Aber es ging nicht nach ihr und sie bewunderte Lena für ihre Unabhängigkeit. Die Frauen, mit denen sie früher ausgegangen war, hatten nie gezögert, sie für alles zahlen zu lassen. Jess hatte es erwartet und akzeptiert, aber sie nicht dafür respektiert.
Und deswegen war sie hier − um Lena zu unterstützen, nicht, um zu schlafen. Sie stand auf und ging in die Küche. Auf dem kurzen Weg streckte Jess sich, um den letzte Hauch Müdigkeit aus ihren Gliedern zu vertreiben.
Seit sie vor zwei Wochen ein Paar geworden waren, hatte sie Lena kaum gesehen. In der ersten Woche hatte sie sich halb totgearbeitet, um alles für ihren reduzierten Dienstplan vorzubereiten, und in der zweiten Woche hatte Ella den ersten Virusinfekt ihres Lebens bekämpft, mit Fieber und andauerndem Weinen. Und gerade, als es Ella nach ein paar Tagen besser ging, hatte es Jess erwischt und sie musste sich auf der Arbeit krankmelden. Sie hatte sich in ihre Wohnung zurückgezogen, obwohl ihre Mutter und Lena darauf bestanden hatten, dass sie vorbeikamen. Das Letzte, was sie wollte, war noch mehr Menschen anzustecken. Menschen, die sie liebte.
Ein kurzer Blick bestätigte, dass Ella noch ihr Mittagsschläfchen im Wohnzimmer genoss. Seit letzter Woche schlief sie noch mehr als normalerweise.
Gestern war Jess zum ersten Mal wieder zur Arbeit gegangen und hatte wesentlich länger an ihrem Schreibtisch gesessen, um den Papierkram abzuarbeiten, der sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatte. Aber jetzt würde sich alles ändern. Ihr neuer Dienstplan startete Montag. Nur noch zwei ganze und ein halber Tag pro Woche und nur noch die Hälfte der Rufdienste. Einige Kollegen würden sie für die zusätzliche Arbeit hassen, andere würden die Chance lieben, sich beweisen zu können. Sie zuckte mit den Achseln. Nicht ihr Problem.
Jess füllte zwei Gläser mit dem Kräutereistee, den Lena so mochte − und den sie widerwillig schätzen gelernt hatte − und trug sie ins Schlafzimmer. Dann holte sie drei kleine Flaschen Massageöl aus Lenas Sammlung und das bunte Tuch, das normalerweise den Massagetisch bedeckte. Sie breitete das Tuch über Lenas Bett und setzte sich, um zu warten.
Es dauerte nicht lange, bis Lena aus der Dusche kam, nur mit einem Handtuch bekleidet, das nur knapp zu den Oberschenkeln reichte.
Jess ignorierte heldenhaft die sichtbare Haut und stand auf, um Lena ein Glas zu reichen. »Wie war dein Tag?«
»Der Wind war ziemlich hartnäckig heute.« Lena trank ihren Tee in einem Zug aus und stellte das Glas auf den Nachttisch. »Der Rest war okay. Ich bin fast ausverkauft.« Sie blickte auf das Bett und hob ihre Augenbrauen.
Mit einem unschuldigen Grinsen bot Jess ihr das andere Glas an. Als Lena mit einem Kopfschütteln ablehnte, stellte sie es wieder auf den Nachttisch, ohne selbst zu trinken.
Sie war durstig, aber ihr stand nicht der Sinn nach Tee. Sie trat näher, bis sie Lenas Handtuch streifte.
Als ob sie Jess’ Gedanken lesen konnte, beugte Lena ihren Kopf und küsste sie mit aller Leidenschaft, die sich in den zwei Wochen aufgestaut hatte.
Textnachrichten und Anrufe waren nicht genug. Jess schlang einen Arm um Lenas Hüfte und zog sie noch dichter an sich heran. Das Handtuch war warm und feucht an ihrer Haut und das Wissen, dass Lena darunter nackt war, machte sie wahnsinnig.
Sie fuhr mit ihrer Hand Lenas Arm hoch, bis zu ihrer Schulter und dem Schlüsselbein. Eine sexy helle Linie verlief dort, wo die Trägershirts sie vor der Sonne geschützt hatten. Jess küsste die Stelle sanft und blies dann über die Haut.
Gänsehaut brach aus und Lenas Atem stockte. »Mehr.« Ihr Flüstern war kaum zu verstehen.
Jess folgte diesem Wunsch nur allzu gern und überschüttete Lenas Schultern und Ausschnitt mit zarten Küssen. Sie kam dem Rand des Handtuchs, das ihre Brüste versteckte, immer näher. Nach zwei Wochen ohne Lena war sie hin- und hergerissen, wollte sie stundenlang zärtlich verwöhnen, aber gleichzeitig auch das Handtuch wegziehen, um ihr zu zeigen, wie verzweifelt sie Lena vermisst hatte. Aber hier ging es nicht nur um Leidenschaft. Sie hatte Lenas sanftes Lächeln vermisst, ihre Beobachtungsgabe, ihre entspannende Ruhe und sie wollte, dass Lenas das auch wusste. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich habe dich auch vermisst.« Lenas Hand spielte mit Jess’ Haaren, ihre Finger fuhren an Jess’ Nacken auf und ab und stoppten, als sie ihr T-Shirt erreichten. Ein Finger tauchte unter den Kragen.
Jess verlor das Gleichgewicht. Wie konnte eine einfache Berührung eines Fingers nur eine solche Wirkung auf sie haben? »Warte.«
Lenas Finger erstarrten. »Nicht gut?«
»Sehr, sehr gut. Aber ich wollte dich nach einem langen Tag auf dem Markt etwas verwöhnen.« Jess lehnte sich etwas zurück, um sie besser ansehen zu können. »Ich würde dich liebend gern massieren.«
»Das ist gefährlich. Ich könnte einschlafen.« Lena grinste.
»Das bezweifle ich.« Jess fuhr wieder mit beiden Händen ihre Arme entlang. »Und selbst wenn, dann wäre es eine Ehre, dass ich dir helfen durfte, dich zu entspannen.«
»Okay.« Lena zog Jess für einen weiteren Kuss wieder näher. Dann machte sie erst einen Schritt, dann einen zweiten und schubste Jess sanft nach hinten.
Als Jess’ Knie das Bett berührten, ließ sie sich fallen, ohne Lena loszulassen.
Lachend landeten sie auf der Matratze und nach einem kurzen Hin und Her lagen sie nebeneinander. Jess rollte auf ihre Seite und stützte sich auf ihrem Ellenbogen ab. Neben Lena zu liegen, nah genug, um sie zu berühren, zu küssen, ließ Jess an ihrem Plan zweifeln. Wer brauchte schon eine Massage? Aber sie zwang ihren Blick nach oben und sah in Lenas Augen. »Dreh dich um.«
Ohne ihren Blick von Jess abzuwenden, öffnete Lena ihr Handtuch und ließ es zur Seite gleiten. Mit einem provokativen Lächeln streckte sie sich auf dem Bauch aus.
Jess unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf das erhascht, was sich unter dem Handtuch versteckte, aber es war genug, um die gefühlte Temperatur im Raum ein paar Grad zu erhöhen. Sie stand auf, holte die Öle und nutzte die Gelegenheit, sich wieder etwas unter Kontrolle zu bekommen. Sie war kein hormongesteuerter Teenager und würde sich Zeit nehmen, ihre Freundin zu verwöhnen.
Die drei Fläschchen sahen alle gleich aus, abgesehen von handbeschrifteten Etiketten mit Namen, die Jess nichts sagten. Sie erkannte die dekorativen Zeichnungen als Lenas Werke. »Hast du eine Vorliebe?«
Lena drehte ihren Kopf in Jess’ Richtung. »Schau mal, ob du den Duft des linken Öls magst. Es ist eher stimulierend als entspannend.«
Jess öffnete den Verschluss, um daran zu riechen. Hmm, Lavendel und ein Hauch Schärfe . »Das ist auf jeden Fall anders als die, die du an mir ausprobiert hast.«
»Ich habe auch auf einen anderen Effekt abgezielt. Mehr Entspannung, Zen, so etwas in der Art. Auch wenn es das letzte Mal das Gegenteil bewirkt hat.« Sie grinste und sah an Jess hinab. »Wie wäre es, wenn du deine Kleidung loswirst, bevor wir anfangen? Du willst doch keine Ölflecken, die gehen so schlecht raus.«
Jess lachte. »Ja, klar. Du denkst nur an meine Wäsche.«
»Nein.« Lenas Augen funkelten mit einer Hitze, die Jess’ Knie weich werden ließen. »Ich will deine Haut an meiner fühlen, wenn du neben mir sitzt. Wenn du mich berührst. Überall. Ich brauche das jetzt.«
Jess stöhnte. Sie stellte die Flasche auf den Nachttisch und griff nach ihrer Gürtelschnalle. Ihre Bedürfnisse waren die gleichen und das Wissen machte Jess schwindelig vor Vorfreude. Sie streifte schnell Jeans und Unterhose ab und schob sie mit dem Fuß zur Seite. Als ihre Hände an den Saum ihres T-Shirts griffen, erstarrte sie.
Lena hatte Jess’ Bewegungen verfolgt und sie lächelte, als ob ihr gleich ein köstlicher Nachtisch serviert werden würde.
Hier war er, der Moment, vor dem sich Jess gefürchtet hatte. Aber sie wollte ihren Körper oder ihre Gefühle nicht länger vor Lena verbergen. »Ich bin nicht …« Hitze schoss in ihre Wangen. »Mein Körper hat sich in der Schwangerschaft verändert.«
Lena setzte sich an die Bettkante, als wäre es das Natürlichste der Welt, einfach nackt zu sein. Und vielleicht war es das auch. Vor einem Jahr hatte Jess das noch gedacht, aber jetzt errötete sie wie ein Teenager, verdammt noch mal.
»Natürlich hat er das.« Lena griff nach Jess’ Hand und zog sie näher heran. »Aber glaub mir, nichts an deinem Körper schreckt mich ab. Ich liebe dich und begehre dich, genau so, wie du bist.«
Liebe. Das Wort zu hören, überflutete Jess mit einem Glücksgefühl, das mit nichts vergleichbar war. Ihr Herz drohte vor der eigenen Liebe zu platzen, die sich unter Lenas bewunderndem Blick vervielfachte. Jess schob ihre Zweifel in die Tiefen ihres Verstandes, wo sie hingehörten. »Ist es so einfach?«
»Es betrifft nur dich und mich. Wir können das so einfach machen, wie wir wollen.«
»Okay.« Jess atmete tief ein und zog dann T-Shirt und Sport-BH aus. Sie schleuderte die Kleidungsstücke in die Zimmerecke, wo sie zu weit entfernt waren, um sie schnell wieder zu erreichen.
Lena sah ihr in die Augen, bis Jess nickte, dann ließ sie ihren Blick über Jess’ Körper wandern.
Jess schaffte es, nicht zusammenzuzucken, während sie Lenas Gesichtsausdruck studierte. Nichts als Liebe und Erregung spiegelten sich in den grünbraunen Augen wider, als Lena ihre Hand an den Mund hob und Jess’ Fingerknöchel küsste.
»Vergiss die Massage.« Lenas Stimme war heiser und ihr warmer Atem kitzelte Jess’ Hand. Lena legte sich zurück auf das Bett.
Als wären sie durch ein unsichtbares Seil verbunden, folgte Jess ihr. Sie tat, was sie die ganze Zeit schon hatte tun wollen, und küsste Lena. Eine atemberaubende Mischung aus Dankbarkeit, Bewunderung und Liebe füllte ihr Herz. Sie versuchte, etwas davon in ihren Kuss zu legen. Langsam rollten sie herum, bis Jess auf ihrem Rücken lag und Lena auf ihr, ein Bein zwischen ihren.
Ihre Körper berührten sich der ganzen Länge nach. Lena hatte recht. Haut an Haut, das brauchten sie, um ihre Verbindung zu stärken. Sie strich mit beiden Händen über Lenas Rücken. Der Gegensatz zwischen diesen weichen Kurven und der subtilen Kraft von Lenas Muskeln war so heiß und süchtig machend, dass sie nicht aufhören konnte, sie zu berühren.
Lena stand ihr in Nichts nach. Ihre Hände schienen überall gleichzeitig zu sein und ihr Mund verteilte Küsse an jeder Stelle, die sie erreichen konnte. Jede Berührung ihrer Hände und Lippen brannte einen Pfad durch Jess’ Haut bis in ihr Herz.
Sie nahm Lenas Hintern in beide Hände, um sie noch dichter an sich heranzuziehen, und Lenas Bein drückte gegen ihre Klitoris. Stöhnend neigte Jess ihre Hüften nach oben, um die Reibung zu erhöhen. Das hier würde nicht lange dauern.
Lenas Stöhnen durchbrach den Nebel ihres Verlangens. Jess öffnete die Augen und verlangsamte die Bewegung ihres Beckens. So sehr sie sich jetzt gehen lassen wollte, heute ging es um mehr als einen schnellen Orgasmus. Mit sanftem Druck rollte sie beide herum und setzte sich rittlings auf Lena.
Mit einem sinnlichen Lächeln sah Lena zu ihr auf.
Jess beugte sich nach unten, um sie zu küssen, und ließ ihre Zunge ausdrücken, was sie nicht in Worte fassen konnte. Wie sexy Lena war, wie sehr sie ihre liebevolle Art schätzte, ihre Geduld. Wie sehr sie Lena liebte.
Jess unterbrach den Kuss und schnappte nach Luft, dann küsste und knabberte sie sich entlang Lenas Kinn zu ihrem Hals.
»Setz dich auf.« Lenas Mund war an ihrem Ohr und warme Luft kitzelte die empfindliche Haut ihres Ohrläppchens. »Ich will dich berühren.«
Jess folgte ihrer Bitte und unterdrückte den Drang, ihren Bauch einzuziehen, als Lena darüberstreichelte. Als ihre Hände zu Jess’ Brüsten wanderten, vergaß sie jeden Gedanken an ihre überflüssigen Pfunde. Ihr Bewusstsein füllte sich mit dem Gefühl von Lenas Händen, die sanft drückten, und Daumen, die über ihre Nippel streiften. Wellen der Lust durchliefen Jess.
Ohne bewusste Entscheidung fingen ihre Hüften an, sich rhythmisch zu bewegen, und ihre Klitoris glitt über Lenas Venushügel, wieder und wieder und wieder. Die köstliche Reibung entfachte ein Feuer, das ihr Innerstes beinah zum Schmelzen brachte. Jess stöhnte und fiel nach vorn, stützte ihr Gewicht auf ihre zitternden Hände auf beiden Seiten von Lenas Kopf.
Lenas rechte Hand verließ ihre Brust und bevor Jess protestieren konnte, hatte sie ihre Hand zwischen sie beide geschoben und spielte mit einer Fingerspitze an Jess’ Eingang.
»Ich liebe dich.« Jess suchte Lenas Blick. Ihre Augen waren fast grün vor Erregung. Es gab nichts anderes, was sie so dringend ausdrücken musste.
Lena hielt ihren Blick und Jess ertrank fast in der Liebe, die sie in diesen Augen schimmern sah.
Ihre Welt konzentrierte sich auf die Bewegungen, die ihre Körper und ihre Herzen verband. Lenas Hände, Jess’ Hüften, Lenas Mund auf ihrer Brust. Jede Bewegung war in perfektem Gleichklang, bis ihr Orgasmus sie zu überwältigen drohte.
Von Kopf bis Fuß zitternd klammerte sich Jess an ihre Selbstkontrolle wie ein Kletterer an das letzte Stück eines zerreißenden Seils.
Aber Lena war hier, würde sie auffangen, halten.
Jess ließ sich fallen.
Jess saß an der Frühstückstheke, während ihre Mutter Karotten mit einem Messer schnitt, das in einen Horrorfilm gehörte. Als Kind hatte sie ihrer Mutter tausendmal abends beim Kochen zugesehen und dabei an genau dieser Stelle ihre Hausaufgaben erledigt. Aber damals war Jess nie an der Technik interessiert gewesen. »Wenn ich so etwas versuchen würde, würde ich meine Finger verlieren.«
»Und das wollen wir nicht«, flüsterte Lena hinter ihr, zu leise für ihre Mutter. Ihr Atem liebkoste die empfindliche Haut in Jess’ Nacken.
Jess zitterte und ihr Ohrläppchen brannte. In der letzten Zeit schien Lena diesen Effekt auf jeden Teil von ihr zu haben. Sie drehte sich auf dem Barhocker um und lächelte sie an. Genau die Person, auf die sie gewartet hatte. »Fertig für heute?«
Lena nickte. Ein süßer Tintenfleck verlieh ihrem Mundwinkel etwas blaue Farbe.
Der Fleck schrie geradezu danach, geküsst zu werden, und Jess gab dem Impuls nach.
Als der Kuss endete, lehnte sich Lena an Jess, um über ihre Schulter zu schauen. »Hi, Maggie. Brauchst du meine Hilfe?«
»Nein, ich bin fast fertig. Setz dich.« Sie warf die Karottenscheiben in einen großen Topf, in dem noch mehr Gemüse kochte, und schloss den Deckel. Nachdem sie ihre Hände gewaschen hatte, ging sie zur Frühstückstheke. »Jess, erinnerst du dich an Belinda, meine Freundin aus Santa Fe?« Ihr Tonfall veränderte sich und die Falten um ihre Augen vertieften sich.
Jess setzte sich gerader auf. »Sicher. Warum?« Wie konnte sie die exzentrische Künstlerin vergessen, die ihr jedes Mal handgemachte Stofftiere geschenkt hatte, wenn sie zu Besuch kam? Sie waren unheimlich gewesen und sahen wie etwas aus, das Dr. Frankenstein gebastelt hätte, wenn er knallbunte Stoffreste benutzt hätte. Sie hatte nie mit ihnen im selben Raum schlafen können. Aber da sie von Schokolade und unterhaltsamen Geschichten begleitet wurden, mochte sie es trotzdem, wenn Belinda zu Besuch kam.
»Sie hat vorhin angerufen. Ihre Schwester ist gestorben und sie ist am Boden zerstört. Sie standen sich sehr nahe, haben in den letzten zehn Jahren zusammengelebt. Ich will morgen zu ihr fliegen, für mindestens eine Woche. Meinst du, das ist möglich?«
»Ja, auf jeden Fall.« Natürlich war das möglich. Warum fragte ihre Mutter überhaupt? Aber dann dämmerte es ihr. Ella. »Oh.« Sie ging im Kopf rasch ihre Optionen durch. Den Großteil der Woche würde sie zu Hause sein, aber morgen und nächsten Dienstag und Mittwoch musste sie arbeiten. Wo konnte sie so schnell einen vertrauenswürdigen Babysitter finden? Oder würde Lena …? Nein. Sie wollte Lena nicht als Krücke benutzen, wenn etwas mit ihrer Kinderbetreuung nicht klappte. Vielleicht hatte Diana einen freien Tag?
»Es tut mir so leid.« Lena eilte um die Theke auf Maggies Seite und umarmte sie. »Mach dir über nichts zu Hause Sorgen. Jess und ich kümmern uns um alles.«
Jess riss sich von ihren Gedanken los und umarmte ihre Mom.
Für einen Augenblick hielten sich alle drei ganz fest, dann trat ihre Mutter einen Schritt zurück und nahm Lena und Jess an je eine Hand.
»Lena hat recht.« Jess küsste die Wange ihrer Mutter. »Wir schaffen das. Du kannst dich auf Belinda konzentrieren. Bitte sag ihr, dass ich an sie denke.«
»Danke.« Die Augen ihrer Mutter waren voller Tränen und sie drückte ihre Hand. »Ich rufe sie an und buche einen Flug. Lena, kannst du auf den Eintopf aufpassen?« Sie fuhr sich über die Augen und verließ die Küche.
Sollte sie ihr folgen? Jess rieb sich den Nacken.
»Lass ihr etwas Zeit.« Lena hob den Deckel, rührte den Eintopf um und schloss den Topf wieder. »Ich weiß, was du denkst.« Ihr Tonfall war leicht und spielerisch, ohne Vorwürfe. Sie setzte sich wieder auf einen Barhocker.
»Meinst du?« Jess zog ihren Hocker näher heran, sodass ihre Knie sich berührten, als sie sich setzte. »Du denkst, du kennst mich.«
»Ja.« Lena legte ihre Hand auf Jess’ Knie. »Du hast festgestellt, dass du ein Problem mit der Betreuung von Ella hast, und darüber nachgedacht, mich zu fragen und den Gedanken wieder verworfen. Jetzt gehst du Optionen durch, die alle weit von perfekt entfernt sind.«
»Hmm, das ist erschreckend richtig.« Wärme breitete sich von der Hand auf ihrem Bein durch ihren ganzen Körper aus − nicht der sexuelle Funke der Erregung, sondern etwas Stärkeres, Mächtigeres. Lena durchschaute sie und Jess machte es nichts aus. Ganz im Gegenteil. Tatsächlich mochte sie es sehr. »Hast du eine Idee, was ich machen kann?«
»Klar. Ich kann mich um sie kümmern.« Lena hielt den Blickkontakt und ihre Augen zeigten keinen Hauch eines Zweifels. »Ich würde das liebend gern machen.«
Jess bezweifelte nicht ihre Liebe zu Ella, aber sie wollte nicht, dass Lena dachte, sie würde ihre Gefühle ausnutzen. »Ich will nicht, dass du dich wie ihre Babysitterin fühlst, denn das bist du nicht. Du bist … mehr.« Jess biss sich auf die Lippe. Sie konnte nicht den richtigen Ausdruck dafür finden, was Lena für sie war. Freundin klang so jung und oberflächlich und Partnerin … Alles war noch so neu. Sie wollte nicht anmaßend sein und sie so bezeichnen.
»Ich weiß. Ich fühle mich auch wie mehr und ich biete es an.« Ihr offenes Lächeln fegte Jess’ Zweifel beiseite.
»Danke dir.« Jess beugte sich vor, um sie zu küssen, aber bevor ihre Lippen sich trafen, klingelte Lenas Handy.
»Oh, das muss Joanne sein.« Lena beantwortete den Anruf mit einem breiten Grinsen.
Um ihr etwas Privatsphäre zu geben, ging Jess zum Herd und öffnete den Topf. Der Eintopf sah nach Eintopf aus, zumindest für ihr ungeübtes Auge. Sie rührte ihn einmal um und nichts klebte am Boden fest, also schien alles nach Plan zu laufen. Sie sollte wirklich kochen lernen, bevor Ella der Milch überdrüssig wurde. Sie wanderte auf die Terrasse, konnte sich aber nicht davon abhalten, Blicke auf Lena zu werfen.
Der Anruf schien eine gute Nachricht zu sein. Lena nickte mehrfach begeistert und lächelte. Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie zu Jess nach draußen.
»Weißt du was? Der Papierkram ist genehmigt. Ich bin offizielle Gasthörerin in Joannes Kurs.« Sie wippte auf ihren Zehenspitzen auf und ab.
Jess umarmte sie. Wie immer löschte das perfekte Gefühl von Lena in ihren Armen jede andere Wahrnehmung aus. Sie lehnte sich etwas zurück, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich freue mich so für dich. Wann ist der große Tag?«
»Nächste Woche Freitag. Am Dreiundzwanzigsten. Sie hat gesagt, dass der erste Tag die Grundlage für den ganzen Kurs bilden wird.«
»Freitag ist super, dann kann ich dich fahren, weil ich frei habe. Dann musst du nicht deine Todesfalle benutzen.«
»Hey, es ist nicht nett, so über mein Auto zureden. Sie hat auch Gefühle.«
»Nun, deine Sicherheit ist mir wichtiger als ihre Gefühle.« Jess zwinkerte. »Wie viel Uhr?«
»Elf, aber ich will früher fahren, um mich noch etwas auf dem Campus umzusehen.« Lenas Begeisterung war ansteckend.
»Ich schreibe es auf, dann ist es offiziell.« Grinsend holte Jess ihr Telefon aus der Tasche und öffnete ihren Kalender. »Ähm, hat sie Freitag gesagt oder Dreiundzwanzigster? Die Daten passen nicht zusammen.«
»Sie sagte Dreiundzwanzigster. Ist das nicht Freitag?« Lenas Lächeln erlosch.
»Mittwoch.« Jess schluckte und starrte auf den winzigen Bildschirm ihres Handys, als würde er ihr eine Lösung für ihr offensichtliches Problem verraten. Der Großteil des Mittwochs war mit einer roten Box ausgefüllt, die mit Arbeit beschriftet war. Sie tippte das Datum und die Uhrzeit von Lenas Kurs in ihren Kalender. Eine Nachricht erschien auf dem Bildschirm.
Sie scheinen einen Terminkonflikt zu haben. Wollen Sie weitermachen?
Ihr Finger schwebte über dem Ja Feld.
»Aber … aber Mittwoch ist dein Arbeitstag und ich …« Lena ließ ihre Schultern hängen.
»Du hast gerade angeboten, dich um Ella zu kümmern.« Jess runzelte die Stirn. Das war keine schwierige Entscheidung. Lenas Chance, an diesem Kurs teilzunehmen, war zu gut und zu wichtig, um sie zu verpassen, nur weil Jess Hilfe mit Ella brauchte. Joanne unterrichtete nicht jedes Semester und selbst wenn, wäre es nicht fair, Lena warten zu lassen, nur damit es für Jess einfacher war.
Entschlossen drückte Jess auf das Ja und zeigte Lena den Bildschirm. »Siehst du, jetzt ist es offiziell.« Sie versuchte, die Stimmung mit einem neckenden Tonfall zu heben. »Jetzt musst du gehen.«
Lenas Mundwinkel zuckte. »Weil dein Telefon das sagt?«
»Ja. Wer sind wir, dass wir unseren Technikgöttern widersprechen würden?«
»Du bist bescheuert.« Lena lachte kurz, aber dann wurde sie wieder ernst. »Ich schätze deinen Sinn für Humor, aber das löst das Problem nicht. Ella ist wichtiger. Ich kann zurückrufen und fragen, ob ich den Kurs eine Woche später anfangen darf.«
Jess würde alles tun, um wieder ein Lächeln auf Lenas Lippen zu zaubern. »Es gibt noch eine andere Lösung. Ich verschiebe die Arbeit, um mich selbst um Ella zu kümmern, wenn ich keinen anderen Babysitter finde.«
»Aber es ist deine Arbeit.« Lena neigte ihren Kopf zur Seite und ihr Blick huschte über Jess’ Gesicht.
»Und es ist deine Ausbildung.« Jess strich über Lenas Kinn. »Es ist mehr als das. Es ist dein Traum. Und wir sind Partnerinnen. Das heißt, wenn du das willst.« Diesmal zögerte sie nicht. Es mochte zu schnell sein, aber so fühlte sie für Lena und sie wollte, dass sie das erfuhr.
»Danke«, flüsterte Lena und ihr Atem kitzelte Jess’ Lippen. »Ja, ich will das sehr gern sein. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Diesmal hielt sie nichts vom Küssen ab und Jess verlor sich in der sanften Berührung.
Der Dezembernachmittag war sonnig, aber es war trotzdem zu kühl, um länger ohne Jacke draußen zu sein. Lena joggte den Pfad zum Gartenhaus entlang. Der verführerische Duft von Tomaten und Kräutern hieß sie nach einem langen Tag an Maggies Schreibtisch willkommen. Die Verwunderung, dass jemand für sie kochte, hatte auch nach zwei Monaten nicht nachgelassen. Seit sie bei ihrer Großmutter ausgezogen war, war sie für jede Mahlzeit selbst verantwortlich gewesen und öfter auch für die Mahlzeiten anderer Personen.
Aber jetzt hatte Jess vier Tage die Woche frei und nutzte die Zeit, um kochen zu lernen.
Lena beeilte sich, obwohl ihre Muskeln protestierten. Sie liebte ihre Arbeit, hatte sich aber immer noch nicht an den Schreibtischjob gewöhnt. Sie brauchte nach dem Essen einen Spaziergang, um die Muskeln zu lockern. Oder eine Massage. Der Gedanke wärmte sie mehr, als es jede Jacke getan hätte.
Jess saß auf der Veranda, eingemummelt in einem dicken Pullover und einer Decke, und fütterte Ella. Sie lächelte Lena an.
Der Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen. Ihre beiden Lieblingsfrauen. Sie konnte immer noch nicht glauben, wie schnell sie sich an die fast tägliche Anwesenheit in ihrem Leben gewöhnt hatte. »Na, ihr.« Sie küsste Jess auf den Mund und Ella auf die Stirn.
»Das Abendessen braucht noch zehn oder fünfzehn Minuten. Willst du etwas Tee?« Jess wies mit dem Kopf in Richtung Tisch, wo ein Thermobecher und eine Decke auf sie warteten.
»Für mich? Danke.« Gähnend setzt sich Lena auf den anderen Stuhl, wickelte sich in die Decke und nahm einen Schluck von dem warmen Tee. Hmm, Minze mit Ingwer und einem Hauch Honig. Für jemanden, der angeblich keinen Tee mochte, war Jess sehr gut im Kombinieren frischer Zutaten geworden. »Wie kann ich nur so müde sein, wenn ich den ganzen Tag nur gesessen habe?«
»Dein Gehirn braucht auch Treibstoff. Wir können nachher unseren Spaziergang ausfallen lassen.«
»Nein. Ich habe mich schon den ganzen Nachmittag darauf gefreut.« Lena gab vor zu schmollen. »Wie war dein Tag? Hattest du Zeit, um irgendetwas zu tun, außer Kochsendungen im Internet zu schauen?« Sie zwinkerte. »Immer noch in deiner italienischen Phase?«
»Beschwerst du dich?« Jess streckte ihr die Zunge heraus. »Gemüselasagne. Und ich habe sogar die Pasta selbst gemacht. Und die Küche hinterher geputzt. Gern geschehen.« Nachdem Ella aufgehört hatte zu trinken, nahm Jess ihr die leere Flasche ab, hielt ihre Tochter gegen ihre Schulter und streichelte ihr den Rücken. »Und ich habe heute Papierkram erledigt als Vorbereitung für morgen, sodass ich nicht allzu lange in der Klinik bleiben muss.« Sie seufzte. »Allerdings sollte ich nach der Arbeit mehr warme Kleidung aus meiner Wohnung holen. Ich frage mich, ob ich gleich dort übernachten soll, das wäre einfacher. Aber ich würde euch beide vermissen.« Sie sah von Ella zu Lena.
»Oder ich könnte nach der Arbeit zu dir kommen und Ella mitbringen, wenn du nichts dagegen hast, dass ich bei dir übernachte.«
»Ja?« Jess strahlte. »Ich dachte, du hasst die Wohnung.«
»So würde ich das nicht sagen. Hassen ist so extrem.« Lena zuckte mit den Achseln. »Ich habe mich dort nicht zu Hause gefühlt und konnte deine Gegenwart nicht spüren. Aber wir sind jetzt an einem völlig anderen Punkt in unserer Beziehung. Und ich dachte, vielleicht, irgendwann später, wenn wir beide sicher sind, dass es der richtige Zeitpunkt ist, könnte ich mit dir zusammenziehen. Insbesondere wenn du wieder anfängst, mehr Stunden zu arbeiten. Das würde Sinn ergeben.«
Jess’ Augen weiteten sich. »Du würdest zu mir ziehen?«
»Ich meine, ich würde natürlich Miete zahlen. Am Ende des Jahres habe ich einen Kredit abbezahlt und dann kann ich mir mehr Miete leisten und –«
»Nein, warte. Ich will nicht, dass Geld ein Thema zwischen uns ist.«
Lena glaubte ihr das, aber es war nicht so einfach für sie. »Ich weiß, du meinst es gut, aber du kannst das nur sagen, weil du Geld hast.«
»Ich weiß. Und macht es mich glücklich? Es hilft mir, wohlgenährt und gut gekleidet zu sein, und gibt mir ein Dach über dem Kopf, das zu groß ist und leer und seelenlos.«
»Seelenlos?« Lena hätte es nicht so hart ausgedrückt, aber das war auch ihr Eindruck gewesen.
Jess grinste. »Ja. Ich fühle mich dort auch nicht zu Hause. Also lass uns nicht streiten. Ich denke, keine von uns will dort wohnen. Ich habe einen anderen Vorschlag. Heute hatte ich ein längeres Gespräch mit der Maklerin, die mir meine Wohnung verkauft hat.«
»Worüber habt ihr geredet?«
»Ich wollte meine Optionen kennen und wissen, wie der Wohnungsmarkt im Moment aussieht.«
»Du willst noch eine Wohnung kaufen?«
»Nein, eigentlich dachte ich daran, meine zu verkaufen und zurück zu Mom zu ziehen.« Jess’ Gesichtsausdruck war angestrengt neutral.
Mittlerweile hatte Lena gelernt, dass dieser Ausdruck bedeutete, dass Jess viel an Lenas Reaktion lag und sie deswegen unsicher war. Eigentlich war Jess nicht so schwer zu lesen, wie sie vermutlich dachte. »Du willst mit Maggie zusammenwohnen? Dauerhaft?«
»Oder ich suche mir etwas anderes in der Nähe. Ich wäre gern näher bei dir. Jeden Tag. Ich liebe diese langen Wochenenden, aber die Mitte der Woche fühlt sich leer an.«
»Warum ziehst du nicht bei mir ein?« Lena hielt den Atem an. Sie hatte das nicht durchdacht, bevor das Angebot aus ihr herausplatzte. Waren sie beide bereit, den nächsten Schritt zu wagen? War Lena bereit, ihre Freiheit aufzugeben?
»Ins Gartenhaus?« Jess fuhr mit den Fingern über die Holzwand neben ihr. »Aber du hast mir gesagt, dass es dein Rückzugsort ist. Das erste Mal, dass du etwas nur für dich hast. Ich würde es dir nicht wegnehmen wollen.«
Dass sich Jess daran erinnerte und Lenas Gefühle über ihre eigenen stellte, war alles, was Lena hören musste. »Du würdest mir nichts wegnehmen. Ich biete dir an, etwas zu teilen. Du liebst das Haus genauso wie ich. Und wenn du einziehst und die Hälfte der Miete zahlst, könnte ich den Massageunterricht aufgeben und wir könnten das kleine Zimmer für Ella einrichten.«
»Ich würde sehr gern einziehen.« Jess grinste, aber dann ließ ihr Lächeln etwas nach. »Aber geht das nicht zu schnell? Ich rede nicht von praktischen Gründen wie Miete, die mich Mom sowieso nicht zahlen lassen würde, oder die Fahrten zur Arbeit. Ich rede von uns.«
»Was musst du noch über mich wissen? Ich habe dir alle meine Probleme aus der Vergangenheit erzählt.«
»Ich habe mehr an meine Fehler gedacht.« Jess legte Ella an ihre andere Schulter und wickelte die Decke enger um sie beide. »Du bist perfekt, so wie du bist − ruhig, beständig, fürsorglich. Ich habe ständig Angst, dass du eines Tages aufwachst und merkst, dass ich dich nicht verdiene und du jemand Besseren finden kannst.«
Lena schüttelte den Kopf und rutschte nach vorn, bis sich ihre Beine berührten. »Warum würde ich jemand Besseren finden wollen? Du bist die Beste für mich.« Sie sah Jess in die Augen. Lena wollte nicht, dass Zweifel zwischen ihnen bestehen blieben. »All die Jahre hatte ich Angst, dass ich zu gutgläubig bin. Ich habe nie kapiert, wie die Leute wirklich sind, bis ich Hals über Kopf verknallt war, also habe ich alle auf Abstand gehalten. Mit dir war es genau das Gegenteil. Du bist durch meine Mauern gestoßen und hast mich gezwungen, dich wirklich zu sehen. Am Anfang sind wir ständig aneinandergeraten und ich habe mehr über deine schlechten und nervigen Eigenschaften gelernt, als ich in irgendeiner anderen Zeit deines Lebens hätte lernen können. Ich habe dich an deinem Tiefpunkt gesehen und deine guten Eigenschaften wurden trotzdem nicht überdeckt. Du sorgst dich um andere, manchmal so sehr, dass du verletzt und wütend wirst. Du gibst nicht auf, auch als dein Körper versagt hat. Und du hast deinen Sinn für Humor nicht verloren. Du hast deine Probleme eingestanden und daran gearbeitet. Wenn du etwas tust, dann richtig. Du machst nichts nur halbherzig. Ich habe mich in dich verliebt, weil du bist, wie du bist, nicht trotzdem.«
Tränen glitzerten in Jess’ Augen. Sie wischte sie in einer ungelenken Bewegung mit ihrem Ärmel ab, da sie immer noch Ella im Arm hielt. »Ich liebe dich so sehr und ich werde nie verstehen, was du in mir siehst.«
»Ich arbeite daran, es dir jeden Tag zu zeigen.« Lena strich mit ihrem Daumen über Jess’ Wange und wischte die Tränenspur weg. »Also machen wir das? Zusammenziehen?«
»Ja. Das Gartenhaus ist zwar klein, aber ich denke, es wird uns als Familie zusammenwachsen lassen.«
»Familie.« Lena versank in Jess’ Augen, die so blau waren wie das Meer, aber anstatt zu ertrinken, schwebte sie in deren Wärme.
Jess’ Handy auf dem Tisch schrillte mit einem lauten Klingelton. Ella zuckte zusammen und weinte.
Lena griff im gleichen Augenblick wie Jess nach dem Telefon, um es auszuschalten. Ihre Hände stießen zusammen und für einen Moment vergaß Lena, was sie beabsichtigt hatte. Aber das nervige Klingeln erinnerte sie schnell wieder.
»Essen ist fertig.« Jess sah von der weinenden Ella zu Lena.
»Willst du, dass ich das Essen hole oder Ella beruhige?«
Ohne zu zögern, stand Jess auf und reichte ihr Ella. »Meine Tränen helfen bestimmt nicht. Sie wird sich bei ihrer anderen Mom besser beruhigen.«
Lena war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte, aber Jess verschwand im Haus, bevor sie nachfragen konnte. Überwältigt kuschelte sie Ella an sich und stand auf, um mit ihr auf und ab zu gehen. Die Bewegung und Lenas leises Singen schienen Ella zu beruhigen, auch wenn es Lena nicht half.
Familie.
Sie hatte es selbst gesagt, vor ein paar Minuten. Wenn Jess beschloss, etwas zu tun, dann richtig. Würde Lena das Gleiche wagen können? Sie hatte immer etwas zurückgehalten, um ihr Herz zu schützen. Aber eigentlich war es schon zu spät. Sie gab schon alles. Ihr Herz hatte sich an Jess gebunden und an Ella und Maggie. Ihre Familie.
Sie eilte ins Haus. Sie musste Jess nahe sein.
Jess hatte gerade die Auflaufform aus dem Ofen genommen und auf dem Herd abgestellt.
Der wohlriechende Dampf ließ Lena das Wasser im Munde zusammenlaufen. »Jess?« Lena trat neben sie. »Hast du das ernst gemeint, was du gesagt hast? Wenn das nur ein allgemeiner Ausdruck war oder … Ich kann das verstehen. Ich weiß, dass du keine Garantie für immer abgeben kannst, aber wenn du das jetzt sagst und mich später verlässt und Ella mitnimmst … Ich weiß nicht, ob mein Herz das ertragen würde.« Sie wusste, dass sie plapperte, aber ihre Ängste mussten ausgesprochen werden.
Jess zog die Ofenhandschuhe aus und umarmte sie vorsichtig, um Ella zwischen ihnen nicht zu quetschen. »Ja, ich meine, was ich gesagt habe. Ich weiß, ich habe mich dir schon angeboten. Aber Ella ist der wichtigste Teil von mir und ich wäre geehrt, sie mit dir zu teilen. Ich will keinen Babysitter oder eine Stiefmutter oder so irgendetwas. Ich will eine Familie mit dir gründen und ich wünsche mir, dass du ihre Mutter bist, genauso wie ich. Wenn du willst.«
»Ja.« Lena konnte nicht mehr sagen, zumindest nicht mit Worten. Sie beugte sich vor, um Jess zu küssen.
Der Kuss war anders, nicht weil sie in der Küche standen mit Ella zwischen ihnen. Nein. Weil sie beide Hälften eines Ganzen waren und der Kuss sie zusammenschweißte.
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