Kapitel 6

In meinem Leben gab es nie eine Zeit, in der ich nicht Klavier gespielt habe. Wenigstens kann ich mich an eine solche Zeit nicht erinnern. Als die meisten anderen Kinder sich auf das Alphabet und die Zahlen von eins bis zehn konzentrierten oder darauf, nachts nicht ins Bett zu machen, saß ich auf einem Klavierhocker. Meine Füße baumelten über dem Boden und ich kuschelte mich an meine Mutter, während sie uns in einen Kokon aus wundervoller Musik einhüllte.

So drückte meine Mutter ihre Liebe aus.

Sie schrieb Stücke für meinen Dad. Sie schrieb Stücke für meine Großeltern. Sie schrieb Stücke für mich. Und ganz am Ende schrieb sie Stücke für Jesus. Es war eine merkwürdige Verlagerung, vor allem weil wir keine religiöse Familie waren. Wir gingen sonntags nie in die Kirche. Nicht weil wir etwa die Existenz Gottes leugneten, sondern einfach, weil es nie zu unserem Leben dazugehört hatte. Die geistliche Erweckung meiner Mutter am Ende ihres Lebens sollte mich erst viele Jahre später trösten.

Angeblich schrieb sie mir zu meinem dritten Geburtstag ein Stück, und während sie es spielte, stolzierte ich in einem rosafarbenen Tütü im Wohnzimmer herum und schlug mit den Armen, als wäre ich ein Schmetterling. Dann kletterte ich auf den Hocker und bat sie, mir das Stück beizubringen.

Und das tat sie. Aus Flohwalzer und Kinderliedern wurden mit der Zeit Für Elise und die Ungarische Rhapsodie Nr. 2. Moms Sprache der Liebe wurde auch meine. So drückten wir unsere Gefühle nicht nur aus, sondern verarbeiteten sie auch. Während meine Mutter immer kränker wurde, wurde ihre Musik immer leichter, und meine? Sie wurde wütend und dunkel, hektisch und laut. Voller Dissonanzen.

Weil ich sie nicht verlieren wollte.

Sie sollte bei meinem Abschlussball und bei der feierlichen Urkundenverleihung dabei sein. Sie sollte mir helfen, das richtige College auszusuchen. Meine Verlobung mit mir feiern. Sie sollte mir dabei helfen, meine Hochzeit zu planen, und von meinem Kleid schwärmen und weinen, wenn ich zum Altar schritt. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich darauf verlassen, dass sie da war. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass es einmal nicht so sein könnte. Bis ihr die Bestrahlung und die Chemo die Haare und die Energie raubten und ich dabei nur hilflos zusehen konnte.

Mom versuchte nicht, mir die dunkle musikalische Phase, die ich durchmachte, auszureden. Sie saß da und hörte zu, während ich die Schwarze Messe und Mozarts Requiem und Beethovens Fünfte ins Klavier hämmerte. Als sie schließlich starb, hängte ich das Klavier, dass sie mir hinterlassen hatte, mit einem schwarzen Tuch zu und rührte es ein Jahr lang nicht an. Ich konnte mich nicht überwinden zu spielen, wenn sie nicht da war, um mir zuzuhören.

Ein Jahr lang trocknete meine Sprache der Liebe aus. Ich dachte, ich würde wieder anfangen zu spielen, wenn diese Sprache zurückkehrte. Mir war nicht klar, dass sie erst durch das Spielen fließen konnte.