Kapitel 25

Ian registrierte einiges von dem, was der Bürgermeister sagte. Er versuchte, besser zuzuhören, aber ihm ging der Anblick von Robin nicht aus dem Sinn, die zum Ausgang gerannt war. Er starrte auf die Eichentüren, durch die sie mit ihrem Sohn verschwunden war.

Stühle ächzten, die Leute standen auf und fingen an zu diskutieren und zu reden und zu spekulieren. Ein aufgeregtes Summen lag in der Luft. Er verließ das Podium und wandte sich dem Ausgang zu, weil er Robin finden wollte, weil er sie dazu bringen wollte, doch noch einmal über sein Angebot nachzudenken, aber Bürgermeister Ford sprang wie ein junger Mann vom Podest und schüttelte Ian die Hand. »Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich kein bisschen besorgt war. Es ist wie bei einer Wahl. Man kann erst sicher sein, wenn die Stimmen gezählt sind.«

Ian erwiderte das begeisterte Händeschütteln des Bürgermeisters und lächelte. Die Reaktion war angemessen. Eigentlich sollte er völlig aus dem Häuschen sein. Sie waren dem Bau der Wohnungen einen Schritt näher gekommen. Warum fühlte er sich dann plötzlich so unwohl in seiner Haut? Und warum war Robin während der Versammlung seinem Blick ausgewichen? O’Malley und Maddocks schalteten sich in die Unterhaltung ein, aber Ian hörte nur mit halbem Ohr hin.

»Meinen Sie nicht auch?«, fragte der Bürgermeister.

Ian zog an seinem Kragen. »Entschuldigung, worum geht es?«

»Ich habe gerade gesagt, wie spannend es sein wird zu sehen, wie Sie unsere Vision zum Leben erwecken.«

»Oh ja, natürlich.«

»Werden Sie sich während der Bauphase hier in der Stadt aufhalten, oder übergeben Sie das Projekt an jemand anderen?«, fragte O’Malley.

»Wenn ich die Formalitäten alle unter Dach und Fach gebracht habe, übergebe ich das Projekt an den Bauleiter.« Der Gedanke, Peaks zu verlassen, verursachte in ihm ein Gefühl der Leere. Es war erfrischend, sich an einem Ort aufzuhalten, der nicht durch schlechte Erinnerungen belastet war. Hier erwartete niemand von Ian, dass er so wurde wie sein Vater.

Er genoss es, an Bernies Kirschholztisch zu frühstücken. Diese Frau zum Lächeln zu bringen, war eine spielerische Herausforderung geworden. Sein Rekord war zweimal am Tag. Bürgermeister Fords Begeisterung war ansteckend. Vals Imbiss servierte den besten Eistee der Welt und er mochte Megans ungewöhnliche T-Shirts. Und Robin … tja, das Leben würde einfacher sein, wenn er nicht an Robin dachte.

»Ich werde ab und zu herkommen und nach dem Rechten sehen«, sagte er.

»Da bin ich aber froh«, mischte sich Amanda in das Gespräch ein. Sie stand hinter ihm, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Es wäre doch schade, wenn Sie gehen und uns alle vergessen würden.«

Ian steckte die Hände in die Hosentaschen. »Unmöglich.«

»Wie es aussieht, kann man ja wohl gratulieren. Ihre Eigentumswohnungen scheinen von Sekunde zu Sekunde wahrscheinlicher zu werden.« Amandas Worte waren als Kompliment gemeint, aber irgendwie hinterließen sie einen schalen Nachgeschmack.

Der Bürgermeister legte Ian die Hände auf die Schultern. »Ich finde, wir sollten feiern. Was meinen Sie, wenn ich Sie am Samstag zum Essen einlade.«

»Ich fürchte, da bin ich schon verplant«, erwiderte Ian.

Amanda zog die Augenbrauen hoch. »Ein heißes Date?«

»Mein Vater ist als Arbeitgeber des Jahres nominiert. Eine Auszeichnung in Peoria. Ich reise morgen ab, damit ich bei dem Bankett dabei sein kann.« Er sah den Bürgermeister an. »Wahrscheinlich bleibe ich ein paar Tage dort, um mich ums Geschäft zu kümmern. Wenn ich wiederkomme, sollten wir uns zusammensetzen und besprechen, wie wir am besten weiter vorgehen.«

»Darum kümmere ich mich.« Bürgermeister Ford stieß Ian mit dem Ellbogen an. »Also, dieses Bankett. Haben Sie eine besondere Freundin in Peoria, die Sie mitnehmen werden?«

Ian zog eine Augenbraue hoch. »Nein, Herr Bürgermeister. Ich gehe allein.«

»Ein attraktiver Mann wie Sie?« Der Bürgermeister wippte auf den Zehenspitzen. »Das ist doch lächerlich. Sie sollten jemanden mitnehmen. Zum Beispiel Amanda. Ich wette, sie würde gerne mitkommen.«

Der Versuch des Bürgermeisters, Schicksal zu spielen, war schrecklich offensichtlich, aber vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Es könnte nett sein, Amanda dabeizuhaben. Sie war jung, hübsch, extrovertiert. Vielleicht konnte er sich so von Robin ablenken, einer Frau, die in seinen Gedanken wirklich nichts zu suchen hatte. Vor allem, da sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Er sah die Buchhalterin an, der die Röte ins Gesicht stieg. »Würden Sie mich vielleicht begleiten?«

Loyalität und Verlangen stritten in ihren Augen. Ian stand mit den Händen in den Hosentaschen da und wartete, um zu sehen, welche Seite gewinnen würde. Wie gut kannte Evan seine kleine Schwester wirklich? Ian musste nicht lange warten.

»Tja, ich habe da so ein Kleid, das ich schon seit Längerem einmal tragen wollte …«

* * *

Robin legte Wo die wilden Kerle wohnen auf Calebs Nachttisch und strich ihm den Pony aus den Augen. Der Junge liebte Max und sein Wolfskostüm. »Jemand braucht dringend einen Haarschnitt. Du bist ja schon ein ganz struppiger Hund.«

»Ich bin kein struppiger Hund. Ich bin ein wilder Kerl.«

»Oh, tut mir leid, Mister Wilder Kerl.« Sie kitzelte ihn am Bauch und lachte mit ihm, dann berührte sie mit den Lippen seine Stirn. Weiche Haut und Babyshampoo.

Caleb klemmte sich seine Lieblingsdecke unter den Arm und rollte sich zur Seite. »Erzählst du mir jetzt die Geschichte vom Café?«

Robin setzte sich auf Calebs Bettkante und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es war einmal eine Zeit, da hattest du einen Daddy, der so toll war wie keiner sonst. Sogar noch besser als Spiderman.«

Caleb riss die Augen auf. Spiderman war schon ziemlich cool.

»Er wusste, dass Mommy Cafés liebte. Also erzählte er mir jeden Tag, dass wir zusammen eins aufmachen sollten. Das war Daddys Traum für uns. Aber dann haben die Engel ihn zu sich geholt. Also haben Tante Bethy und Onkel Evan und ich das Willow Tree Café gebaut, während du in meinem Bauch gewachsen bist.«

Caleb lächelte mit schläfrigem Blick. Robin gab ihm einen Kuss auf die Wange und schlich zu seiner Kommode.

Eine Lampe in Form eines John-Deere-Traktors warf einen gelben Lichtkegel an die Decke und beleuchtete ein gerahmtes Bild, das auf der Kommode stand. Ein Foto von Micah und Evan – die lächelnd in der Fahrerkabine eines Mähdreschers saßen. Sie fuhr mit den Fingern über den Metallrahmen.

»Mama?«

»Was ist, Liebling?«

»Ist Leesey krank?«

»Sie hat eine Entzündung in den Ohren, aber sie bekommt Medizin und dann geht es ihr bald wieder besser.« Wenn doch alles im Leben so einfach wäre – ein Löffel voll Medizin, um die Einsamkeit zu vertreiben und das zu heilen, was gebrochen war.

»Gehst du, wenn ich eingeschlafen bin?«

Ihre Hand blieb auf dem Bilderrahmen liegen. Sie ging nur samstags fort, wenn das Café abends geöffnet hatte. Sie glaubte nicht, dass Caleb es bemerkte, wenn sie ging. Es war ihr wichtig, ihn zu Bett zu bringen, bevor der Babysitter kam und sie das Haus verließ. Sie wollte den Gutenachtkuss nicht verpassen und auch nicht die Geschichten über Roboter und Dinosaurier und böse Drachen. Sie legte Wert darauf, ganz für ihren Sohn da zu sein. »Heute nicht.«

Es würde keine Musik geben. Kein Backen. Nur Schlaf. Und jede Menge Gebet, denn im Moment konnte sie Gott in dem ganzen Durcheinander nicht sehen. Sie legte die Finger um das Kabel der Lampe.

»Warum? Ist heute nicht Samstag?«

»Nein, wir haben Donnerstag, Liebling.«

»Mommy? Nehmen die bösen Männer uns Daddys Traum weg?«

Daddys Traum. Mommys Traum. Vielleicht hätte sie Caleb die Geschichte nie erzählen sollen. »Wärst du denn traurig, wenn wir das Café nicht hätten?«

»Mhm. Und du auch.«

Sie blickte über ihre Schulter. Caleb lag zusammengerollt da, eine kleine Hand und einen eingegipsten Arm unterm Kinn. Er gähnte und schloss die Augen. Als sie sah, wie er einnickte, zerriss es ihr fast das Herz.

Ich wünschte, du könntest ihn sehen, Micah. Ich wünschte, du hättest unseren kleinen Jungen kennengelernt. Aber das hast du nicht. Und ich bin es leid, immer alles allein machen zu müssen.

Calebs Atem ging jetzt gleichmäßig. Sie starrte in Micahs Gesicht, das zu einem Lächeln gefroren war. Er wusste nicht, dass er einen Sohn hatte, der ohne Vater aufwuchs. Dass er mit jedem Tag, der verstrich, ein wenig mehr verblasste. Und dass Robin manchmal nichts gegen dieses Verblassen tat.

Als sie an der Strippe der Lampe zog, wurde es dunkel im Raum.

* * *

»Mommy? Wer ist das?« Caleb stand mitten im Willow Tree Café und zeigte auf die Bilder an der Wand.

Wo waren all die Stühle? Und die Tische? Sie hockte sich hin und zog ihn an sich. »Das ist Daddy, Liebling. Du kennst Daddy doch, oder?«

»Wo ist denn sein Gesicht?«

Ihr stockte der Atem. Sie stand auf und drehte sich im Kreis, bis die Bilder zu schwarz-weißen Flecken verschwammen. Jedes von ihnen hatte über Micahs Gesicht einen weißen Fleck. Wer hatte das getan? Wer würde denn ihren Mann auslöschen?

Sie riss eines der Bilder von der Wand und schmetterte es auf den Boden. Dann noch eins und noch eins, bis Caleb weinte. Sie drehte sich um und wollte zu ihm gehen, aber er war nicht da. Jemand anders war da. Ein Mann stand an ihrem Klavier. Groß und attraktiv und vertraut, selbst von hinten.

Ein kehliger Laut entwich ihr. Sie stürzte vorwärts und umklammerte seine Schultern. »Sieh mich an, Micah. Ich will dein Gesicht sehen.«

Er drückte eine Taste herunter. Der klagende Klang erfüllte das Café.

»Du hast es geschafft, Robin. Du hast unseren Traum zum Leben erweckt«, sagte er.

Seine Stimme hüllte sie ein wie Honig, warm und süß. Sie atmete sie ein und sonnte sich in dem perfekten Klang.

»Es ist alles so, wie wir es wollten. Es ist wunderschön«, sagte er.

Sie fasste mit den Fingern um seine Jacke und schmiegte sich an ihn, weil sie die Wärme seiner Haut fühlen und sein Rasierwasser riechen wollte. Ein Schluchzer. Ihr Mann lebte! Sie musste nicht mehr allein sein. Sein Tod war nichts als ein langer, langwieriger Albtraum.

Er drehte sich um, berührte mit den Lippen ihr Haar und sah ihr in die Augen. »Du bist so schön.«

Robins Herz hörte auf zu schlagen.

»Was ist los?«

Sie wich zurück. Schüttelte den Kopf.

Er streckte die Hände aus. »Was ist los, Robin?«

Es war die Stimme ihres Mannes.

Aber es war Ians Gesicht.

Robin fuhr keuchend im Bett hoch. Sie sog scharf die Luft ein. Micah. Sein Name klang noch nach. Von ihrem Traum. Und einen schrecklichen Moment lang konnte sie sich sein Gesicht nicht vorstellen. Sie wusste nicht mehr genau, wie seine Augen aussahen oder sein Unterkiefer oder sein Lächeln. Nur der Klang seiner Stimme blieb.

Sie schlug ihre Bettdecke zurück, wankte durch den Raum und öffnete die unterste Schublade ihrer Kommode. Mit zitternden Fingern holte sie das Fotoalbum heraus, das unter ihren Jeans vergraben war, und schlug wahllos eine Seite auf. Die Nacht war dunkel, ein leichter Windhauch bewegte die Vorhänge. Blasses Mondlicht kroch über den Fußboden und warf einen matten Schein auf die Bilder im Album.

Micah.

Aber der Name war nur ein Echo der Sehnsucht, die er früher ausgelöst hatte.