Kapitel 30

Die Stille in Robins Wohnzimmer war schier nicht auszuhalten. Robin wippte mit dem Bein auf und ab und starrte aus dem Terrassenfenster, während sie wartete. Immer länger wartete. Ihr Leben hatte sich in eine riesige Zwischenphase verwandelt. In ein vorübergehendes Kontinuum an Raum und Zeit, mit dem sie nichts mehr anzufangen wusste. Aber heute Abend hatte das Warten wenigstens einen konkreten Grund – Scheinwerfer. Jeden Augenblick würde Ians Wagen in ihrer Auffahrt halten und Amanda ausspucken.

Nervös verschränkte Robin Arme und Beine. Mit wachsender Sorge hatte sie beobachtet, wie Ian mit Amanda den Imbiss verlassen hatte. Mit jeder Minute, die verging, wuchs ihre innere Nervosität. Sie sprang vom Sofa auf und lief hin und her, während sie sich fragte, ob Ian ihre Schwägerin bis an die Haustür bringen würde. Musste sie vielleicht dem Flüstern und Flirten auf der Veranda zuhören? Robin stellte sich vor, wie Ian ihrer Schwägerin einen Gutenachtkuss gab. Dabei wurden ihre Schritte nur noch hektischer.

»Wenn du immer noch in deinen Mann verliebt bist ...«

Er hatte die Worte wie eine Anschuldigung ausgespuckt, so als wäre es falsch, den Mann zu lieben, den sie geheiratet hatte. So als würde der Tod eines Menschen der Liebe zu ihm ein Ende setzen. Sie ließ sich auf die Couch fallen und berührte ihren Ring, und sie wünschte, sie könnte die Erinnerung daran, wie Ian ihn an ihren Finger gesteckt hatte, auslöschen. Sie kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass die Dunkelheit alles wegwischte. Aber es funktionierte nicht. Die Erinnerung daran war wie eingebrannt.

Wo bist du, Herr? Ich könnte jetzt wirklich etwas von deiner Weisheit gebrauchen.

Sie holte tief Luft und wartete auf etwas, irgendetwas. Aber nichts kam. Robin fühlte sich im Stich gelassen, so als irrte sie in der Wüste umher und fände den Ausweg nicht. Als sie die Luft langsam wieder ausstieß, nahm sie Micahs Bibel vom Beistelltisch und blätterte darin. In den unterstrichenen Passagen suchte sie Trost, bis ihre Nerven sich beruhigt hatten und ihre Lider zu schwer wurden, um sie offen zu halten.

Sie träumte, undeutlich und verwirrend. Gerade noch war Amanda zu Hause auf der Veranda und küsste Ian, dann wehte eine Brise durchs Fenster und sie schlief auf dem Sofa ein. Dann wurde Caleb wach und rannte durchs Haus, aber sie konnte ihn nicht einfangen. Bethany zeigte ihr einen positiven Schwangerschaftstest, während Robin weinte und weinte und weinte. Und dann war sie in der Wüste und küsste Ian und Micah zog sie fort von ...

Robin fuhr hoch und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Eine Wagentür schlug zu. Im Haus war es dunkel und still und sie konnte den Motor hören. Schritte kamen den Weg herauf, dann fiel Licht von der Veranda auf den Teppich. Robin beugte sich vor und lauschte. Aber sie konnte keine Stimmen ausmachen. Stattdessen sah sie wieder Licht von Scheinwerfern, sie hörte ein Auto die Auffahrt zurückfahren und ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Dann kam Amanda herein.

Robin umklammerte Micahs Bibel und stand auf. »Wo warst du?«

Amanda blieb auf der Schwelle stehen und hob die Hände. »Holla, wenn das kein Déjà vu ist! Das ist ja, als wäre ich wieder in der Schule.«

»Im Ernst, Amanda. Es ist fast Mitternacht.«

»Im Ernst, Robin. Ich bin kein Kind mehr. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich eine vierundzwanzigjährige Erwachsene.« Amanda trat ein und streifte ihre hochhackigen Schuhe ab.

Robin schluckte. Wenn sie es jetzt nicht sagte, würde sie es nie sagen. »Ich wollte mit dir über etwas reden.«

»Schieß los.«

»Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Worüber genau machst du dir denn Sorgen?«

»Du hast gerade eine langjährige Beziehung hinter dir. Ich will nicht, dass du noch einmal verletzt wirst.« Selbst wenn Ian sich wirklich für Amanda interessierte und seine Aufmerksamkeit nichts mit dem Willow Tree Café zu tun hatte, würde der Mann bald abreisen. Sobald ihm bewusst geworden war, dass er die Schlacht nicht gewinnen konnte, würde er nach Peoria in sein Leben zurückkehren. Und dann wäre es wieder wie bei Jason.

Amanda sah sie prüfend an. »Wieso glaubst du, dass Ian mir wehtun wird?«

»Du bist meine Buchhalterin und er will von dir Insiderinformationen über mein Café.«

»Insiderinformationen? Was ist das hier – CSI?« Amanda warf ihre Handtasche auf den Couchtisch und ging zur Treppe.

»Kannst du bitte hierbleiben? Ich versuche mit dir zu reden.«

Amanda legte die Hand auf das Treppengeländer und drehte sich um. »Worüber?«

»Ian.«

»Und deine Sorge um mein Wohlergehen?«

»Ja.«

»Das hier hat nichts mit deiner Sorge um mich zu tun.«

»Doch, natürlich. Du bist im Moment verwundbar und …«

Amanda hob eine Hand wie eine Verkehrspolizistin, um Robin Einhalt zu gebieten. »Warum gibst du es nicht zu?«

»Was soll ich zugeben?«

»Dass du eifersüchtig bist.«

»Das ist doch lächerlich!«

»So lächerlich wie die Tatsache, dass du bis Mitternacht aufbleibst, um mir zu sagen, was du von meiner Beziehung zu Ian hältst? Oder so lächerlich wie die Tatsache, dass du heute Abend in Val’s Diner hinter uns herspioniert hast?«

»Okay, gut. Du hast recht. Das war ’ne blöde Idee. Aber ich mache mir wirklich Sorgen.«

»Das brauchst du nicht, weil Ian und ich nur befreundet sind.«

Augenblicklich stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein, was aber auch irgendwie beunruhigend war. »Ich dachte, du magst ihn.«

Ein Poltern drang von oben herunter. Wahrscheinlich war eines von Calebs Spieltieren aus dem Bett gefallen, vermutlich ein Dinosaurier. Robin hielt die Luft an und wartete ab, ob ihr schläfriger Sohn aus seinem Zimmer kam, aber alles blieb still.

Amanda senkte die Stimme. »Es ist nicht so einfach, jemanden zu mögen, wenn er Gefühle für eine andere hegt.«

»Eine andere?«

»Ja. Dich.«

Robins Wangen begannen zu glühen. Nein, Amanda irrte sich. Ian empfand nichts für sie.

»Und dieses Gefühl beruht offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Also …« Plötzlich wurde Robins Mund ganz trocken. Etwas stand unausgesprochen im Raum und es machte ihr Bauchschmerzen. Es dauerte einige Augenblicke, bis ihr bewusst wurde, dass sie den Kopf schüttelte.

»Warum nicht?«, fragte Amanda.

»Weil …« Robin suchte krampfhaft nach einer Ausrede. Nach einem Grund. »Ich will nicht, dass Caleb verletzt wird.«

»Ach, komm. Du meinst, du willst nicht verletzt werden.«

Robins Herz dröhnte wie eine Basstrommel. Es schlug in ihrer Brust und ihren Ohren und einfach überall. »Micah war die Liebe meines Lebens. Ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen konnte. So etwas gibt es kein zweites Mal.«

»Woher willst du das wissen?« Amanda starrte ihr direkt in die Augen, und in ihrer Miene lagen Mitgefühl und Mitleid. »Hör zu, ich gebe ja zu, dass die Beziehung zwischen dir und meinem Bruder etwas Besonderes war. Und ich werde dir auch nicht erzählen, dass die Liebe nicht riskant ist. Aber ich finde es total schade, dass du dich vor dieser Möglichkeit verschließt, nur weil du Angst hast.« Jetzt klang ihre Stimme sanft. »Die Angst ist nicht vom Herrn, Robin. Du kennst deine Bibel gut genug, um das zu wissen.«

* * *

Sosehr Robin auch dagegen ankämpfte, sie konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Schnell hob sie die Hand an den Mund, in der Hoffnung, dass niemand es gesehen hatte. Jed Johnson hatte sich endlich der Selbsthilfegruppe angeschlossen und er sollte doch nicht denken, dass ihr Gähnen etwas mit der Länge seiner Gebetsliste zu tun hatte. Vor allem, weil sie sich wirklich darüber freute, dass er dabei war.

Sie hatte einen dicken Verband um ihren Finger und konnte sich die Zusammenfassung dessen, was Jed gesagt hatte, nur mit kritzeliger Handschrift notieren. Verstohlen warf sie einen Blick zum Tresen hinüber. Während ihres gesamten Samstagstreffens waren immer wieder Kunden da gewesen, sodass Joe gut beschäftigt war.

Der schiefe Turm aus Bauklötzen, den Caleb in der Kinderecke gebaut hatte, stürzte krachend ein, gefolgt von seinem Lachen. Es war ein gutes Geräusch, dringend nötig. Robin unterdrückte noch ein Gähnen und wartete, bis Jed fertig war. Nach dem Streit mit Amanda in der vergangenen Nacht hatte sie bis um zwei Uhr wach gelegen, weil das, was Amanda ihr gesagt hatte, sie einfach nicht losgelassen hatte. Also hatte sie Micahs Bibel aufgeschlagen und die Geschichte der Israeliten gelesen, die durch die Wüste zogen, und irgendwann hatte der Schlaf sie schließlich doch übermannt.

»Sind Sie jetzt fertig?« Ein kaum verhohlener Unterton der Verärgerung färbte Bernies Worte.

Jed riss Fetzen von seiner Serviette und knüllte sie zwischen den Fingern zusammen. Krümel einer Zimtschnecke und weiße Serviettenschnipsel zierten seinen Teller. Er sah Bernie an und seine riesigen Ohren röteten sich ein wenig. »Meine Enkel sagen immer, dass ich zu viel rede. Das gewöhnt man sich wohl nicht so schnell ab.«

Bernie schnaubte nur.

Robin lächelte. Bernie bellte zwar, biss aber nicht. Hoffentlich merkte Jed das. Je früher, desto besser. »Hast du denn heute Morgen ein Gebetsanliegen für uns, Bernie?«

»Meine Katze hat sich den Schwanz gebrochen.«

Robin zog die Nase kraus. Seit wann hatte Bernie eine Katze?

»Ach, die Arme«, sagte Linda.

»Bill ist ganz fertig. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht allein lassen sollen.«

Cecile stellte ihren Becher auf den Tisch. »Wer ist denn Bill?«

»Meine Katze.«

Cecile runzelte die Stirn. »Du hast eine weibliche Katze Bill genannt?«

»Bill ist ein völlig normaler Name.«

Robin unterdrückte ein Lächeln. Danke für diese Menschen, Herr. Sie waren das Highlight in Robins Woche.

»Die Pension kam mir so leer vor, nachdem Ian abgereist war, also habe ich die Katze auf dem Bauernmarkt gekauft.«

»Auf dem Bauernmarkt werden Katzen verkauft?«, fragte Linda.

»Lyle Noldt hat sie für einen guten Zweck verkauft. Aber jetzt ist Ian wieder da und angeblich ist er allergisch gegen Katzen. Also muss ich mich jetzt nicht nur um Bills gebrochenen Schwanz kümmern, sondern auch noch alle Haare mit der Rolle entfernen, damit Ian nicht so leidet.«

»Es ist gar nicht das Fell, das die Allergien auslöst.« Jed riss noch ein paar Schnipsel von seiner Serviette und sah Bernie durch seine dicken Brillengläser an. »Es sind der getrocknete Speichel und Proteinpartikel. Ein guter Schwebstofffilter hilft dagegen.«

»Und wo bekomme ich den her?«, fragte Bernie.

Jed fuhr sich mit der Hand über sein schütteres weißes Haar. »Ich habe noch ein paar zu Hause. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einen vorbeibringen.«

Bernie schnaubte wieder, aber Robin sah, dass ihr Blick freundlicher war.

»Wo wir gerade von Ian reden«, warf Cecile ein. »Es geht das Gerücht um, er sei gestern Abend mit einer Dame ausgegangen.«

Plötzlich wurde es Robin heiß und ihre Wangen röteten sich. Wie waren sie denn auf dieses Thema gekommen? Sie konnte Ceciles Blick spüren, mit dem sie nach Einzelheiten forschte. Aber Robin hatte nichts zu sagen. Sie hatte Amandas Erklärung vom vergangenen Abend noch immer nicht verdaut – dass Ian angeblich etwas für sie empfand. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, verlor sie den Appetit.

»Val sagt, die zwei waren gestern Abend im Imbiss und haben sehr intim gewirkt.«

»Irgendwie finde ich es ein bisschen traurig. Jason und sie waren so ein tolles Paar.«

»Was hältst du denn davon, Robin?«, wollte Cecile wissen.

»Wie meinst du das?«

»Sie ist schließlich deine Schwägerin.«

»Und?«

»Er will an dein Café.«

»Amanda kann befreundet sein, mit wem sie will.« Robin legte ihren Stift hin und klappte das Notizbuch zu. Sie hatte alle Gebetsanliegen notiert. Es war Zeit, ein Schlussgebet zu sprechen und den Tag mit ihrem Sohn zu verbringen, anstatt über Ian nachzudenken. »Danke, dass ihr alle gekommen seid. Wenn ihr nichts dagegen habt, bete ich zum Schluss noch mit uns.«

Das Läuten der Türglocke unterbrach Robin und Ian kam hereinspaziert. Cecile Arton machte ein vielsagendes Gesicht und Robins Finger waren plötzlich eiskalt. Sie erhob sich vom Tisch und ging, um ihn abzufangen. Sie wollte nicht, dass er mit ihrer Selbsthilfegruppe sprach, und sie wollte auch nicht über ihr Café reden. Am liebsten hätte sie gar nichts mit einem Mann zu tun, der ihr das Gefühl gab, es wäre schlecht, dass sie ihren verstorbenen Mann liebte. Sie trat ihm auf halbem Weg zwischen Eingang und Tresen entgegen. »Was kann ich für dich tun?«

»Guten Morgen«, erwiderte er.

Sie vermied es, in die bernsteinfarbene Wärme seiner Augen zu sehen, und richtete ihren Blick auf seine Schulter. Das war sicherer. »Wenn es um das Café geht …«

»Ich bin nicht hier, um über das Café zu reden.«

»Worüber denn dann?«

»Ich konnte gestern Abend nicht schlafen.« Er senkte das Kinn und fing ihren Blick auf. »Ich habe wach gelegen und darüber nachgedacht, was ich zu dir gesagt habe. Manchmal ist es wirklich unpraktisch, ein Gewissen zu haben.«

»Sieh mal einer an.«

»Es tut mir wirklich leid. Das war total ungerecht und unangemessen.«

»Welcher Teil? Als du meinen Mann erwähnt hast oder als du mich beschuldigt hast, meinen Schwager an der Nase herumzuführen?«

»Deinen Schwager?« Ian starrte sie ungläubig an. »Du hast noch einen Schwager in Peaks?«

Sie nickte.

»Bin ich ein Idiot.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Klavier. »Und wir haben Publikum.«

Robin blickte über ihre Schulter zurück. Vier Augenpaare wandten sich gleichzeitig ab und widmeten sich betont den Getränken und leeren Tellern, die vor ihnen standen. Robin schluckte. Wenn Ian höflich war, dann hatte sie keinen Grund, es nicht ebenso zu sein. »Ich möchte mich auch entschuldigen.«

»Wofür denn?«

»Für meine Behauptung, was Amanda und dich betrifft. Das war nicht fair. Sie ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, und auch wenn mir nicht gefällt, was du in Peaks machst, glaube ich nicht, dass du so ein Typ bist.«

Kleine Fältchen erschienen um Ians Augen. Er schob die Hände in die Hosentaschen und beugte sich vor. »Hast du mir etwa gerade ein Kompliment gemacht?«

»Gewöhn dich besser nicht daran.«

»Hey, ich nehme, was ich kriegen kann.«

Sie fingerte an ihrem Verband herum, das flaue Gefühl in ihrer Magengegend war viel zu heftig. »Ist das alles?«

»Es sei denn, du bist in der Stimmung, mir einen Kaffee zu bringen?«

»Unter den gegebenen Umständen nicht besonders.«

»Verständlich.« Er sah aus, als hätte er gerne noch mehr gesagt. Stattdessen lächelte er und verließ das Café wieder. Robin blickte ihm nach, teils um Ceciles unvermeidlicher Befragung zu entgehen, teils um seinen Besuch zu verdauen. Bestimmt hatte Ian seinen nächsten Zug schon geplant. Bei Typen wie ihm musste man immer auf alles gefasst sein, auch auf ein Schachmatt.