Kapitel 35
Robin rannte hinter dem Hund her, dicht gefolgt von Caleb, während der kleine vierbeinige Gauner um die Ecke des Korridors rutschte und ein Band aus Toilettenpapier hinter sich herzog. Das Fellknäuel hüpfte die Treppe hinunter, wobei seine Pfoten auf den Holzdielen ausrutschten, und sprintete in Richtung Küche. Robin holte das Tier ein, hob es hoch und schüttelte es energisch.
»Nein.« Dann nahm sie dem Welpen die ruinierte Klopapierrolle aus dem Maul.
Scharfe kleine Hundezähnchen schnappten nach ihren Fingern, aber diesmal lachte Robin nicht.
»Nein«, sagte sie wieder.
Der Hund kläffte fröhlich. Caleb zog an Robins Bluse und streckte die Arme aus. Sie übergab ihm den kleinen Racker. »Geh mit ihm in den Garten.«
Er drückte den Welpen an seine Brust und die Hundebeine baumelten rechts und links von ihm herunter. Caleb kicherte, als das Tier sein Gesicht mit Hundeküssen bedeckte. Im Gegensatz zu ihr genoss Caleb das Chaos.
»Aber achte darauf, dass das Tor zu ist«, rief sie ihm nach.
Sie fasste sich an den Kopf und betrachtete das Katastrophengebiet. In gerade einmal drei Stunden hatte das kleine Biest einen Schuh vernichtet, zweimal auf ihren Perserteppich gepinkelt und einen Beistelltisch umgerannt, wobei eine mundgeblasene Vase ihrer Mutter umgefallen war. Das Erbstück war auf dem Boden gelandet und zerschellt. Sie konnte nicht noch mehr Dinge ihrer Mutter an einem Tag verlieren.
Sie sank aufs Sofa und atmete hörbar aus, sodass ihr Pony sich anhob. Dann sah sie auf die Uhr. Wie laut würde Ian lachen, wenn sie ihn schon drei Stunden nach der Vereinbarung in ihrer Küche anrief? Sie schluckte ihren Stolz hinunter, holte den Zettel hervor, den sie zusammengefaltet in die Tasche geschoben hatte, und tippte die Ziffern in die Tastatur ihres Handys. Er ging beim ersten Klingeln dran.
»Funktioniert es nicht?«
»Jetzt weiß ich, warum in der Bibel steht, dass das Äußere täuschen kann. Dieses Tier ist ein Monster.«
Ians Lachen war am Telefon genauso klangvoll. »So schlimm kann es doch nicht sein.«
»Noch viel schlimmer.«
»Willst du den Welpen wieder loswerden?«
»Wenn ich nicht will, dass in meinem Haus alles zerstört wird, werde ich das wohl müssen, fürchte ich. Treffen wir uns doch bei …« Sie verstummte, als ihr einfiel, dass sie gar kein Auto zur Verfügung hatte. An Amandas Wagen war der Anlasser kaputt und Evan wollte sich darum kümmern, ihn zu reparieren. Darum hatte sie ihrer Schwägerin ihren Wagen zur Verfügung gestellt, sie wollte Freunde in Iowa City besuchen. Das bedeutete, Robin saß fest.
»Robin? Bist du noch da?«
»Du weißt ja, wo ich wohne. Wenn du in zehn Minuten nicht hier bist, rufe ich den Hundefänger an.«
Wieder lachte Ian. »Ich bin in fünf Minuten da und ruf niemanden an.«
Sie ließ das Telefon auf ein Kissen fallen und lehnte den Kopf ans Sofa. Ian kam zu ihr nach Hause. Der Gedanke löste in ihr ein Gefühl aus, als würde sich eine Achterbahn durch ihren Magen winden. Sie eilte in die Küche und streckte den Kopf zum Fenster hinaus. Caleb lief im Kreis, während der Hund hinter den Schnürsenkeln des Jungen herjagte, die sich gelöst hatten.
Fünf hektische Minuten lang rannte Robin durchs Haus, hob Spielzeug und Schuhe und einzelne Socken auf. Caleb allein war schon der reinste Tornado. Wieso hatte sie gedacht, sie könnte noch zusätzlich ein vierbeiniges Ungeheuer verkraften? Vor dem Kaminsims blieb sie stehen und nahm das gerahmte Bild von ihrer Hochzeit in die Hand. In den Armen ihres Mannes sah sie so jung und unbesiegbar aus, als könnte ihre Liebe die Welt erobern, als würde sie ewig währen.
Es tut mir leid, Micah.
Sie fuhr mit den Fingern über sein Gesicht und trug den Bilderrahmen dann ins Bad, wo sie ihn vorsichtig auf die Kommode legte und dann ihr Spiegelbild betrachtete. Wenigstens war ihre Kleidung nicht mehr von schmutzigem Wasser getränkt und der Dreck unter ihren Fingernägeln war auch fort. Als sie sich mit den Händen durchs Haar fuhr, erstarrte sie. Sie blinzelte ihren Finger an.
»Er ist wirklich weg.«
Als die geflüsterten Worte schließlich in ihr Bewusstsein eindrangen, straffte Robin die Schultern und blickte erneut in den Spiegel. »Es war nur ein Ring. Es gibt wichtigere Dinge.«
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon.
Sie eilte zum Sofa und nahm den Hörer vom Kissen. »Ich dachte, du hättest fünf Minuten gesagt.«
»Robin? Bist du das?«
Eine Männerstimme, aber nicht die von Ian.
»Oh, Evan. Sorry. Ich dachte, du wärst jemand anders.«
»Wir sind auf dem Weg in die Notaufnahme.«
Robin erstarrte »Was?«
»Es geht um Elyse.«
»Was ist denn mit ihr?«
»Sie hat ziemliche Atemnot.«
Robins Hände wurden klamm.
»Bethany will, dass du kommst.«
»Natürlich. Wir treffen uns dort.« Mit dem Telefon zwischen Ohr und Schultern rannte sie zu ihren Schuhen. Sie hüpfte auf einem Bein, während sie das andere in ihren Stiefel schob. Ein Bellen drang durch das Küchenfenster herein. Caleb! Was sollte sie mit Caleb machen? Ihr Sohn konnte nicht mit ihr auf die Intensivstation. Und ihr Wagen. Amanda war damit nach Iowa City gefahren.
Es klingelte an der Tür.
Sie lief ins Wohnzimmer und riss die Tür auf. Ian stand auf der Fußmatte, die Hände in den Hosentaschen, und wippte auf den Fersen vor und zurück.
»Elyse ist krank«, sagte sie.
Das Wippen hörte auf. »Wer?«
»Elyse, das Baby von Evan und Bethany. Ich habe gesagt, dass ich sie im Krankenhaus treffe, aber Amanda hat meinen Wagen und ich habe niemanden, der auf Caleb aufpasst. Oder auf den Hund.« Robin presste sich eine Hand an die Stirn. »Evan hat gesagt, sie atmet nicht richtig.«
»Hol erst mal tief Luft. Wir kriegen das hin.« Ian betrat ihr Haus. »Zieh deinen anderen Stiefel an. Ich gehe und hole Caleb. Hast du noch einen Kindersitz?«
»Eine Sitzerhöhung in der Garage.«
»Gut. Der Hund kann im Garten bleiben, und wir drei fahren zum Krankenhaus.«
* * *
Caleb schlürfte den Rest seines Getränks durch einen Strohhalm, bis es ein lautes Geräusch machte. Ian musterte den kleinen Jungen, seine Augen, sein Gesicht, sein Kinn. Er sah Robin überhaupt nicht ähnlich, dafür war er Evan wie aus dem Gesicht geschnitten. Caleb schob das Glas von sich und schmatzte laut. »Bei Mommy darf ich nie Limo trinken.«
»Das ist heute etwas Besonderes.« Ian wollte den Jungen glücklich machen. Ihn ablenken. Er wollte nicht, dass der Kleine sich wegen seiner Cousine Sorgen machte, die vor einer Dreiviertelstunde in die Kinderintensivstation eingewiesen worden war.
»Können wir jetzt die Babys angucken?«
Ian griff nach seinem Portemonnaie. »Was hältst du davon, wenn ich dir noch eine Limo hole?«
Caleb hielt zwei Finger hoch. »Ich hab schon zwei getrunken.«
»Wie wäre es mit einem Schokoriegel?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will die Babys sehen.«
Ian klappte seine Brieftasche wieder zu. Caleb wollte nicht länger in der Cafeteria des Krankenhauses sitzen. Aber er wollte nicht ins Wartezimmer oder zu den Aufzügen. Ausgerechnet die Neugeborenenstation hatte es dem Jungen angetan. Ian seufzte. »Also gut. Gehen wir die Babys angucken.« Wahrscheinlich würde man sie sowieso nicht reinlassen.
Caleb sprang vom Stuhl und zog Ian zu den Aufzügen. Die kleine warme Hand in seiner großen ließ eine Sehnsucht in ihm aufsteigen, die er nie ganz überwunden hatte. Er hatte immer Kinder haben wollen. Weil sein Dad mit ihm zum Baseball gegangen war und er am Waschbecken so tun durfte, als würde er sich rasieren, wollte Ian dasselbe irgendwann mit seinen eigenen Kindern machen.
Im Aufzug summte der kleine Junge eine Melodie, die Ian nicht kannte, und wippte auf den Zehen auf und ab. Er drückte für ein älteres Ehepaar auf den Knopf, als diese im dritten Stock ein- und im vierten wieder ausstiegen. Dann ertönte das Geräusch, das bedeutete, dass sie den fünften Stock erreicht hatten. Caleb zog an Ians Arm, aber Ian rührte sich nicht. Caleb zog fester, seine Wangen von der Anstrengung ganz aufgepustet, aber dann ließ er Ians Hand los und verschränkte die Arme, so weit sein Gips das zuließ. »Hast du Bauchweh?«
Ian schüttelte den Kopf.
»Können wir jetzt die Babys angucken?«
Er konnte das schaffen. Es war nur eine Kinderstation im Krankenhaus. Ian holte tief Luft und trat aus dem Aufzug. Dann ging er voran zur Station, wobei er fast hoffte, dass die gelockte Dame in Schwesternuniform ihn aufhalten würde. Aber sie lächelte nur freundlich, als sie vorbeigingen. Ian hätte sich an die Wand gelehnt, während Caleb durch das Fenster sah, aber die Scheibe war zu hoch. Der Junge sprang hoch und versuchte etwas zu sehen, bis Ian ihn unter den Armen packte und ein überglücklicher Caleb die Hände an die Fensterscheibe drückte.
Eine junge Schwester wickelte gerade ein Baby mit rosa Mütze. Sie sah Ian und Caleb und winkte. Ian konnte sich vorstellen, wie sie aussahen. Er, der stolze Vater. Caleb, der große Bruder. Er schüttelte diesen Gedanken ab und konzentrierte sich auf das andere Baby, das in einem Bettchen lag, während winzige, runzlige Fingerchen unter der Decke hervorlugten.
Etwas an dem Anblick der blauen Mütze ließ Fragen aus ihm herausbrechen, die er zwei Jahre lang unterdrückt hatte. Ian versuchte, sie zu verdrängen, aber sie kamen zu schnell, zu heftig. War sein Kind ein Junge oder ein Mädchen gewesen? Hätte es seine großen Ohrläppchen gehabt? Cheryls Stupsnase? Seinen krummen kleinen Finger? Er ließ den Kopf an das Glas sinken und stellte sich vor, was er immer ausgeblendet hatte. Eine kleine Nase und zwei winzige Ohren. Weicher Flaum, der die gleiche Farbe hatte wie seine eigenen Haare. Das Kind würde inzwischen laufen, vielleicht sogar rennen. Sie würden zusammen Bücher lesen und in den Park gehen und jeden Sommer zu ein paar Baseballspielen. Ian drückte die Stirn gegen die dicke Scheibe und sah zu, wie die Schwester das kleine Mädchen in sein Bettchen legte.
»Ach, hier seid ihr.« Robins atemlose Stimme durchbrach seine Gedanken.
Er stellte Caleb auf den Boden.
»Ich habe euch überall gesucht.« Ihre Augen funkelten, so als würde die Sonne sich im Meer spiegeln. »Elyse ist in Ordnung. Sie haben ihr Sauerstoff gegeben und es geht ihr schon viel besser.«
Er versuchte, etwas wie »Das ist gut« oder »Da bin ich froh« zu sagen. Aber die Worte steckten fest, gefangen hinter Fragen, auf die er nie eine Antwort bekommen würde, und einem Bild, das er vor zwei Jahren verloren hatte.
»Ich glaube, sie hat einen Virus, aber Evan und Bethany waren rechtzeitig mit ihr hier.« Robin fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Danke, dass du auf Caleb aufgepasst hast, Ian. Und danke, dass du uns hergefahren hast. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«
Er beschränkte sich auf ein Nicken und wandte den Blick ab. Von ihr und Caleb. Von den Babys hinter der Glasscheibe. Und als der Kloß in seiner Kehle noch größer wurde, schob er die Hände in die Hosentasche und entfernte sich ein paar Schritte.
»Hey, ist mit dir alles in Ordnung?«
»Klar. Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.« Er wandte sich zum Gehen, aber sie hielt ihn am Hemdsärmel zurück.
»Ian?«
Er wand seinen Arm aus ihrem Griff, plötzlich ganz erpicht darauf zu fliehen. Er wollte nicht mehr hier sein. Nicht bei all diesen Babys ausgerechnet an diesem Tag. »Mir geht es gut. Ich … kommt ihr klar, wenn ich gehe?«
»Natürlich. Ich kann mit Bethanys Auto nach Hause fahren.«
»Okay, gut.« Er drehte sich um und lief zu den Aufzügen, ohne sich zu verabschieden. Und sah sich auch nicht mehr um.
* * *
Was war denn da gerade passiert? War Ian ihr böse, weil sie ihren Sohn bei ihm gelassen hatte, als sie auf die Intensivstation gegangen war? Robin hockte sich neben Caleb, der auf Zehenspitzen stand, die Finger um die Fensterbank gekrallt, die Nase darüber gereckt. Auch sie blickte durch das Fenster, und die beiden Neugeborenen auf der anderen Seite zu sehen, versetzte ihr einen Stich.
Sie drückte Caleb einen Kuss aufs Haar. Kaum zu glauben, aber vor vier Jahren war er eines von diesen kleinen Babys gewesen. Die Zeit verging mit so merkwürdig verwirrender Geschwindigkeit – manchmal hielt sie fast an, dann sprang sie stotternd und ruckartig vorwärts. Damals, als der Schmerz nach dem Verlust von Micah frisch und stechend gewesen war, hatte sie gebetet, die Zeit möge schneller vergehen. Sie mit fortreißen. Aber irgendwann, während die Zeit sie immer weiter von dem Leben fortzog, das sie sich erträumt hatte, veränderten sich ihre Gebete.
Waren seit Micahs Tod wirklich viereinhalb Jahre vergangen? Würde ihr Baby tatsächlich im Herbst in die Vorschule kommen?
Eine Schwester kam um die Ecke. Als sie Caleb sah, beugte sie sich vor und schob die gefalteten Hände zwischen ihre Knie. »Dieser hübsche kleine Kerl kommt mir bekannt vor. Hast du nicht vorhin durchs Fenster geschaut?«
Caleb schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, bei dem die Lippen sich nur vorsichtig verzogen.
»Sieht aus, als wäre da jemand bereit für den Job als großer Bruder.« Sie zwinkerte Robin zu. »Er war gerade mit seinem Papa hier, um die Babys anzuschauen.«
Mit seinem Papa?
Die Frau wuschelte Caleb durch die Haare und verschwand dann um die Ecke.
Robins Verwirrung legte sich und sie machte einen Schritt, um der Schwester zu folgen und das Missverständnis aufzuklären, aber ein Bild kam ihr in den Sinn und ließ sie stehen bleiben. Ein Bild von Caleb auf Ians Schultern, wie er auf der Säuglingsstation durch ein Fenster sah. Dort lag ein Baby im rosafarbenen Strampler, und es hatte Ians Augen und Robins dunkle Haare. Ian zeigte auf das winzige Bündel, einen goldenen Ring am Finger seiner linken Hand. Robin fuhr zusammen, als hätte das Bild acht Beine und würde ihren Arm hinaufkrabbeln.
Sie schob das Bild beiseite und sagte sich, der Grund für diese Fantasie sei lediglich, dass sie vor wenigen Minuten Ian und Caleb zusammen gesehen hatte und diese Babys ihr aufs Gemüt schlugen. Das war alles. Sie berührte Calebs Schulter. »Sollen wir Onkel Evan und Tante Bethy Auf Wiedersehen sagen, bevor wir gehen?«
Er nickte begeistert. »Geht es Leesey wieder besser?«
»Die Ärzte haben ihr Medizin gegeben.«
Sie ging mit ihm an der Schwesternstation vorbei, den langen Korridor entlang, und bog in Zimmer 40 ab, wo Evan einen Arm um Bethany gelegt hatte, während sie sich über das Kinderbettchen beugte und Elyses rundes Gesicht streichelte. Evan hatte das Kinn auf Bethanys Schulter gelegt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie wandte sich ihm zu und er küsste die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen fort. Ein zärtlicher Kuss, während Elyse in ihrem Bettchen lag und schlief. Eine dreiköpfige Familie in einem intimen Augenblick. Robins Brust zog sich zusammen. Evan und Bethany waren eine komplette Familie, während Robin sich abmühte, das Loch in ihrer eigenen Familie zu füllen. Kein Ehemann. Kein Daddy.