Kapitel 37

Der frühmorgendliche Tau unter Robins Füßen fühlte sich kalt an. Die Abdeckung des Briefkastens quietschte, als sie den Berg Post der letzten beiden Tage herauszog. Sie runzelte die Stirn. Am Sonntag sollte man sich nicht mit Briefen herumschlagen müssen, aber andererseits warteten die meisten Leute auch nicht bis Sonntag, um ihren Briefkasten zu leeren. Mit ihrem Kaffee in einer Hand und der Post in der anderen ging sie die Auffahrt hinauf und setzte sich auf die Treppe zu ihrer Veranda.

Die beruhigende Stille eines Junimorgens umgab sie. Die Sonne stand im Osten wie ein rosafarbener Ball über dem Horizont. Die jetzt noch angenehme Luftfeuchtigkeit ließ die bevorstehende Hitze erahnen. Robin stützte die Ellbogen auf ihre Knie und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Herr, schenk mir Frieden.

Dieses Gebet hatte sie sich in der letzten Nacht immer wieder vorgesagt, wie das Zählen von Schäfchen, bis sie dann nach Mitternacht endlich eingeschlafen war. Sechs Stunden später war sie mit demselben Gebet auf den Lippen aufgewacht. Aber der Friede wollte sich nicht einstellen. Die Angst ließ sie einfach nicht los. Etwas anderes ging ihr auch nicht mehr aus dem Kopf: Ians Gesichtsausdruck, die Geschichte seiner Mutter und das Kind, das ihm genommen worden war.

Die Erinnerung an diesen Kuss …

Robin rieb sich den Schlaf aus den Augen und starrte auf den Fußboden. In der Nacht war sie mehrmals versucht gewesen, die Bettdecke zurückzuschlagen und in Amandas Zimmer zu gehen, sie zu wecken und ihr alles zu erzählen. Aber wenn sie es Amanda erst einmal gebeichtet hatte, gab es kein Zurück mehr, keinen Rückzug in sichere Gefilde.

Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Was für eine Idiotin sie doch war! Wie konnte sie sich ausgerechnet in den Mann verlieben, der ihr Café abreißen wollte? Wie konnte sie sich überhaupt in einen Mann verlieben? Aber sosehr sie auch versuchte, dagegen anzukämpfen, die Sehnsucht war doch größer.

Herr, was geht hier vor sich? Was mache ich nur?

Andere Frauen hätten sich vielleicht von Gott abgewandt, wenn sie so jung ihren Mann verloren hätten, hätten nach einem solchen Verlust mit ihm gebrochen, aber Robin nicht. Sie hatte sich mit einer Hartnäckigkeit an Jesus geklammert, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Und irgendwie hatte sie Frieden gefunden – eine unerwartete Blume, gewässert mit ihren eigenen Tränen. Was sie jetzt hatte, fühlte sich vertraut an. Es war … genug.

Jedenfalls war es bis jetzt so gewesen.

Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und hob das Getränk an ihre Lippen. Frischer kolumbianischer Kaffee. Dunkel und geschmackvoll mit einem kräftigen Aufwacharoma. Sie hielt ihr Gesicht in den Dampf. Die Farbe der Sonne verwandelte sich von Rosa zu Orange und ließ ihren Birnbaum als Silhouette hervortreten. Sie war zum Singen in der Kirche eingeteilt, also musste sie Caleb wecken und für die Sonntagsschule fertig machen. Außerdem musste sie ihren Dad anrufen und ihm zum Vatertag gratulieren. Nach dem Gottesdienst würde sie mit Caleb zum Friedhof gehen und Blumen auf Micahs Grab legen. Die Zeit drängte. Drängte sie immer wieder vorwärts und weiter.

Sie nahm einen Umschlag von ihrem Poststapel, schob einen unverletzten Finger unter die Klappe und öffnete ihn mit einem sauberen Riss. Dann entfaltete sie den Brief mit einer Hand, während sie einen Schluck Kaffee trank. Als sie den Brief überflog, blieb ihr Blick an einem Wort hängen. Ihr stockte das Herz.

Terminierung.

Robin krallte die Finger um den Brief und starrte darauf. Es war die Kündigung ihres Überziehungskredits, unterschrieben von ihrem Banker Roy Hodges.

* * *

Caleb hörte auf, seine Milch zu schlürfen, als es an der Tür klingelte. Er hob den Kopf von seinem Müeslischälchen, den Löffel fest in der Faust. Robin hörte auf, hektisch auf und ab zu gehen, und fuhr mit der Hand über seinen zerzausten Haarschopf. »Gehst du bitte nach oben, Schatz? Mommy muss unter vier Augen mit jemandem reden.«

»Aber ich bin noch am Frühstücken.«

Sie sah in sein Schälchen. Drei einsame Cheerios schwammen am Rand des Tellers. Sie zog Calebs Stuhl heraus. »Geh und putz dir die Zähne. Und wenn du fertig bist, kannst du leise in deinem Zimmer spielen.«

Caleb schob die Unterlippe vor. Seit er sich den Arm gebrochen hatte, war das Zähneputzen zu einem regelrechten Kampf geworden. Einem Kampf, für den sie jetzt keine Zeit hatte. Nicht wenn Ian vor der Tür stand und klingelte. Streng sah sie ihren Sohn an. Seine Lippe schob sich noch ein bisschen weiter vor, aber er stand auf und schlurfte aus der Küche. Sie schob ihn ein wenig, damit er schneller ging, und wartete, bis er im Obergeschoss um die Ecke gebogen war, bevor sie die Tür öffnete.

Ian stand auf der Veranda, himmelweit entfernt von der zerknitterten, verletzlichen Version von der Nacht zuvor. Ein jungenhaftes Grinsen erschien in seinem Gesicht. »Guten Morgen.«

Sie hielt ihm den gefalteten Brief vor die Nase. »Erklär mir das.«

Er blickte um das Papier herum. »Was soll ich erklären?«

Sie drückte ihm den Brief in die Hand. »Lies selbst.«

»Kann ich erst mal reinkommen?«

Sie verschränkte die Arme und machte einen Schritt zurück. Ian trat ein und entfaltete den Brief. Zu seiner Ehrenrettung musste sie sagen, dass er blass wurde, als er den Inhalt sah.

»Warst du das?« Von oben war das Geräusch einer knarrenden Fußbodendiele zu hören. Sie schluckte und trat näher. »Hast du Roy gesagt, dass er mir den Kredit kündigen soll?«

»Was? Nein, Robin. Natürlich nicht.«

Sie schlang die Arme um ihre Taille. Wie gerne sie ihm doch glauben wollte.

»Ich schwöre, dass ich nichts damit zu tun habe.« Er starrte auf den Boden, so als wäre die Erklärung in das Holz eingraviert. »Es muss Bürgermeister Ford gewesen sein.«

»Den habe ich heute Morgen schon angerufen. Gleich nachdem ich den Brief gelesen hatte. Er war es nicht.«

»Er muss es aber gewesen sein, Robin. Er lügt.«

»Der Bürgermeister mag manches sein, aber ein Lügner ist er nicht. Und Mr Hodges würde mir den Kredit nicht ohne Grund kündigen.«

Ein Schatten legte sich auf Ians Züge. »Dann glaubst du also, dass ich der Lügner bin?«

»Nein, ich glaube nicht, dass du ein Lügner bist. Aber ich glaube, dass dein Vater dahinterstecken könnte.«

Er lachte freudlos. »Auf keinen Fall.«

»Wer sonst hätte denn ein Interesse daran, mich zu ruinieren, Ian?« Robin ging zur Couch. Sie brauchte Abstand. Abstand zu ihm und zu den Erinnerungen an letzte Nacht. Sie drehte sich um und erschrak. Er stand da mit grimmiger Miene.

»Mein Dad ist ein feiner Kerl. Er mag ehrgeizig sein, aber so etwas würde er niemals tun.«

»Es ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt.«

»Ich sage dir, er war es nicht.«

Robin presste eine Hand auf ihre Stirn, und die Angst schien ihr so greifbar, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte sie anfassen und messen. »Es ist ein Fehler.«

»Was?«

»Wir. Das hier.« Sie zeigte erst auf sich und dann auf ihn und machte einen Schritt zurück. »Der Gedanke, dass jemals etwas zwischen uns … Es würde nie funktionieren.«

Er kam näher. »Warum nicht?«

»Weil ich die Inhaberin vom Willow Tree Café bin und du für McKay Planung und Bau arbeitest.« Sie schüttelte den Kopf und machte noch einen Schritt zurück. Unmöglich, unmöglich, unmöglich.

»Würdest du bitte aufhören, den Kopf zu schütteln?«

Ihr Absatz stieß gegen den Sockel des Sofas. Weiter zurück konnte sie nicht, es sei denn, sie kletterte über die Couch. Und er stand jetzt so nah bei ihr, dass es aussah, als wollte er sie wieder küssen.

Er senkte den Kopf ein wenig.

Robin legte eine Hand auf seine Brust, um ihn auf Abstand zu halten. Und doch wollte sie trotz allem, dass er sie küsste. Aber bevor er das tun konnte, läutete das Telefon.

Robin fuhr zusammen, und Ian ging es ebenso. Einen Augenblick lang standen sie da wie erstarrt und sahen sich an, bis das Telefon erneut klingelte. Sie trat um ihn herum und griff nach dem Hörer, doch ihre Stimme war heiser, als sie sprach.

»Robin? Cecile Arton hier.«

Robin hatte keine Chance. Die Panik war überall. In Ians Nähe. In Ceciles Stimme. Wann würde das aufhören? »Was ist los?«

»In deinem Café hat es gebrannt.«

* * *

Das Dach ihres Cafés war über dem Haus der Artons zu sehen. Robin holte tief und gleichmäßig Luft, um sich zu beruhigen. Herr, mach, dass nichts Schlimmes passiert ist und dass mein Café noch steht. Sie blinzelte, als sie den Löschzug sah, der die Straße versperrte und die Schaulustigen in Schach hielt.

Ian, der darauf bestanden hatte, sie zu fahren, obwohl sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ging, parkte Robins Wagen hinter dem leuchtend roten Fahrzeug der Feuerwehr. Robins Finger zitterten, als sie ihren Sicherheitsgurt löste und den kleinen Hang hinaufsah zu dem Schild vor dem Gebäude. Ihr Blick wanderte an dem Weg vorbei, durch die Blumen, die auf beiden Seiten aus dem Boden sprossen, und blieb dann an der Eingangstür hängen. Alles sah aus wie immer. Dann konnte der Schaden sicher nicht groß sein.

Der Feuerwehrhauptmann klopfte an ihr Fenster. Sie kurbelte es herunter, während Ian ausstieg und die hintere Tür aufmachte. Er half Caleb mit dem Sicherheitsgurt. Ihr Sohn rutschte aus seinem Sitz und nahm Ians Hand. Robin rieb sich ihren verspannten Nacken. »Was ist passiert?«, fragte sie den Feuerwehrmann.

»Mrs Arton hat angerufen, als sie Rauch bemerkt hat. Der Backofen scheint der Übeltäter zu sein. Wir haben das Feuer gelöscht, bevor es sich weiter ausbreiten konnte.«

Ihr dämlicher, nutzloser Ofen. »Kann ich rein?«

Der Feuerwehrhauptmann öffnete ihr die Beifahrertür und sie stieg aus in die Sonne.

»Das Gebäude ist sicher, aber ich würde Ihren Sohn nicht reingehen lassen.« Er ging voraus, die Betonstufen hinauf. Robin folgte, und Caleb und Ian bildeten die Nachhut. An der Tür blieben sie stehen. Glasscherben zierten die Blumenbeete. Jemand hatte die Fensterscheiben zerbrochen. Der Feuerwehrmann gab ihr seinen Helm. Robin setzte ihn auf und stieß die Tür auf.

Sonnenstrahlen fielen auf den Boden und fluteten den Raum, sodass der Schaden gut zu sehen war. Hinter ihrem Tresen tanzten schwarze Rußflecken die Wand hinauf und hatten ihre Bilder bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt. Langsam ging sie weiter. Der Boden war nass und der Rauchgestank hing schwer in der Luft. Die Stühle und Tische aus Metall und Marmor standen wie stolze Soldaten da, die sich weigerten zu fallen. Robin eilte zum Tresen. Jemand hatte die Tür zur Küche herausgerissen. Sie trat durch den Türrahmen und presste eine Hand auf ihre Brust.

Verkohlte Asche. Mehr war von ihrer Küche – dem Herz ihres Cafés – nicht übrig geblieben. Von außen mochte das Gebäude aussehen wie immer, aber innerlich war es zu einem Häuflein Elend zusammengefallen. Robin hatte Mühe zu atmen.

Warum, warum, warum? Warum ist das passiert?

Sie fuhr herum, weil sie das Elend nicht länger anschauen konnte, und blickte in Richtung Eingang. Ian stand auf der Schwelle, und Caleb sah zwischen seinen Beinen hindurch. Beide starrten in die hintere rechte Ecke. Als sie ihren Blicken folgte, überkam sie ein tiefer Schmerz. Ihr Klavier, vorher poliert und stolz, stand windschief im Raum. Scheinbar war ein Fuß abgebrochen. Sie stolperte zu dem Instrument und fuhr mit der Hand über die feuchte, mit Asche bedeckte Oberfläche. Die Hitze der Flammen hatte das Gehäuse völlig verzogen. Sie drückte eine der Tasten mit dem Finger hinunter. Der klagende Ton hallte im Raum wider. Wenn die Küche ihr Herz war, dann war das Klavier ihre Seele. Und das Feuer hatte beides zerstört.

»Das hat einmal meiner Mutter gehört.« Ihre Lippen zitterten, als sie das sagte.

Und dann war er da und hielt sie fest im Arm, während sie sich an seiner Brust ausweinte.