Kapitel 41
Die Strömung des Mississippi schlug an das kurze Dock und wiegte Amanda sanft hin und her, während sie in die schlammigen Tiefen des Flusses starrte und auf das Feuerwerk wartete, das wieder den Nationalfeiertag am 4. Juli beenden würde. Familien saßen gruppenweise auf Liegestühlen und Decken am Rand des Radweges. Kleine Kinder rannten mit Wunderkerzen herum und kreischten wegen Knallfröschen und Chinaböllern – ein Vorgeschmack auf die anschließende Darbietung.
Aber Amanda war einfach nicht nach Feiern zumute. Nicht mit einem Karton voller Karten und Fotos und Erinnerungen auf dem Schoß und Jasons Brief in der Hand. Einem Brief, der zu mehreren E-Mails und dann zu einem Telefonat geführt hatte – eine einstündige Unterredung, die nichts gebracht hatte. Jetzt reichte es. Sie zerriss den Brief in winzige Schnipsel und ließ sie vom Wasser davontragen. Sie tanzten auf der Oberfläche und verschwanden dann.
Jason war in Afrika und sie war hier. Keiner von ihnen würde in absehbarer Zeit in einen Flieger steigen. Und das machte sie zu einer Heuchlerin. Wie oft hatte sie zu Robin schon gesagt, sie müsse nach vorne blicken? Wie oft hatte sie sich über die Unfähigkeit ihrer Schwägerin aufgeregt, die Vergangenheit loszulassen und sich auf die Zukunft zu stürzen? Während sie doch genau den gleichen Kampf ausfocht.
Sie musste die Sache endlich überwinden und akzeptieren, dass ihre Träume für die Zukunft nicht Gottes Wille gewesen waren. Und auch wenn es wehtat, auch wenn sie das Warum nicht verstand, waren seine Pläne vielleicht größer als ihre Träume. Amanda hielt ihr Handy in der Hand und der Daumen schwebte über der Taste, die Jasons Telefonnummer löschen würde. Sie drückte darauf, legte das Handy neben ihre Angel und griff mit beiden Händen nach dem Karton.
»Das wollen Sie jetzt aber nicht auch noch alles wegwerfen, oder?«
Amanda drehte sich um. Hinter ihr auf dem Radweg stand ein Mann, die Ellbogen auf das schwarze Geländer gestützt. Ebenso schwarze Locken, dunkelhäutig genug, um Italiener oder Grieche zu sein, mit einer krummen Nase, einem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt und Cargo-Shorts.
»Ich bin nicht sicher, ob das für die Fische gut wäre.«
»Haben Sie mich etwa beobachtet?«
»Ein bisschen.«
»Das ist jetzt gar nicht unheimlich, oder?«
Er kam den Anleger hinunter und setzte sich neben sie. Seine Augen waren beinahe schwarz – wie Kaffee ohne Sahne.
Sie nahm ein bisschen Abstand zu ihm. »Und Sie sind …?«
»Joel St. Claire. Ich bin zu Besuch bei meinem Bruder. Streng genommen ist das hier sein Anleger, und ich hatte vor, von hier aus das Feuerwerk anzusehen.«
»St. Claire? Sind Sie zufällig mit einem Mädchen namens Blaire verwandt?«
»Sie ist meine Schwägerin.«
Armer Kerl. »Können Sie mir einen Gefallen tun, Joel?«
»Schon möglich.«
Sie reichte ihm den Karton. »Können Sie einen Mülleimer finden und das hier für mich entsorgen?«
»Ist irgendwas mit Ihren Beinen nicht in Ordnung?«
»Es ist besser, wenn Sie das machen.« Sie wollte lieber nicht wissen, wo die Sachen waren. Denn sonst würde sie wahrscheinlich hingehen und sie wieder aus dem Müll fischen. Sie brauchte einen klaren Schnitt. Er machte Anstalten, den Deckel zu öffnen, aber sie legte eine Hand darauf. »Sie dürfen nicht reingucken.«
»Wenn ich die Drecksarbeit für Sie verrichten soll, habe ich dann nicht wenigstens das Recht zu sehen, was ich da entsorge?«
Sie ließ ihre Hand an Ort und Stelle und schüttelte den Kopf.
»Woher weiß ich, dass es nichts Illegales ist? Wie Drogen oder Körperteile?«
»Sehe ich aus wie ein Junkie oder eine Serienmörderin?«
»Die Guten sehen nie so aus.«
Sie nahm ihre Angel in die Hand. »Abgesehen von einigen wenig schmeichelhaften Bildern befindet sich in dem Karton nichts Belastendes. Pfadfinderehrenwort.«
Joel lachte leise, während ein Kahn langsam den Fluss hinunterglitt. Im Fahrwasser schwankte der Steg ein bisschen mehr. »Also gut. Ich mache die Drecksarbeit für Sie. Aber nur unter einer Bedingung.«
Sie biss an. »Eine Bedingung könnte ich möglicherweise verkraften.«
»Wenn ich das hier entsorgt habe, darf ich mich fürs Feuerwerk zu Ihnen setzen.«
Amanda musterte Joel. Abgesehen von seiner Verwandtschaft mit Blaire St. Claire gab es an ihm nichts aussetzen. »Abgemacht, Joel.«
Er deutete mit einem Nicken auf die Angel. »Glauben Sie nicht, dass das Feuerwerk die Fische verjagen wird?«
»Ich bin nur hinter den mutigen Exemplaren her.
»Dann komme ich wieder.« Er stand auf und klemmte sich den Karton unter den Arm. »Ich bin froh, dass wir uns begegnet sind …?«
»Amanda.«
Joel lächelte. »Ich hoffe, du fängst was.«
Sie warf die Angel aus. »Ich auch.«
* * *
»Gestern Abend haben wir wieder über Kinder gesprochen. Evan findet, größer ist besser.«
Robin lächelte schwach und fuhr dann mit der Hand über die glänzende Oberfläche eines älteren, aber gepflegten Klaviers. »Hast du immer noch Zweifel?«
»Eine Tochter bringt mich schon an meine Grenzen. Kannst du dir vorstellen, wie es mit zweien wäre?«
Robin lächelte. Bethany stellte ihr Licht wirklich unter den Scheffel. Sie war eine tolle Mutter. »Das sagst du nur, weil du letztens mit ihr in der Notaufnahme warst.«
»Ich sage es, weil der Gedanke, noch ein Kind zur Welt zu bringen, mir schreckliche Angst macht.«
Bethanys Wehen waren lang und zermürbend gewesen. Im Gegensatz zu Caleb hatte die kleine Elyse es nicht eilig gehabt, auf die Welt zu kommen. Anderthalb Wochen nach dem errechneten Termin hatten die Ärzte schließlich die Geburt eingeleitet und das kleine Mädchen war nicht mehr so klein gewesen. Vierundzwanzig Stunden anstrengende Wehen, die dann doch in einem Kaiserschnitt geendet hatten, waren ziemlich traumatisch. »In ein paar Monaten hast du die Schmerzen vergessen.«
»Die Erinnerung ist in meine Neuronen eingegraben.«
»Selbst wenn, musst du zugeben, dass die Schmerzen sich lohnen.« Robin dachte an ihren Sohn. Das Kind war ein wandelnder Beweis für diese Wahrheit. Sie lächelte Bethany zu, aber ihre Freundin sah sie merkwürdig an. »Was ist? Bist du anderer Meinung?«
»Nein, nein, du hast völlig recht. Es war sogar eine sehr zutreffende Beobachtung.«
Ganz langsam wurde Robin die Ironie bewusst, und ihre Wangen begannen zu glühen. Sie drehte sich um und suchte krampfhaft nach einem anderen Thema. Sie wollte nicht über Ian reden. »Übrigens … Amanda geht wieder mit jemandem aus.«
»Das habe ich schon gehört.«
»Sie ist ziemlich verknallt.«
»Ich glaube allerdings, dass sie noch nicht über Jason hinweg ist.«
Robin betrachtete einen schwarzen Konzertflügel. »Gestern hat Donna angerufen.«
»Ach ja?«
»Sie will, dass ich ihre Hochzeitstorte backe.«
»Das ist doch genau dein Ding, oder?« Bethany blieb vor einem kirschholzfarbenen Klavier stehen – nagelneu und frisch poliert. »Was ist mit diesem hier?«
Robin riss sich von dem Flügel los und gesellte sich zu ihrer Freundin. Sie drückte einige Tasten herunter, und der Klang ließ ihr das Herz aufgehen. Drei Wochen ohne Café und ohne Klavier hatten ihren Tribut gefordert. All die Freizeit, die sie hatte, gab ihren untätigen Gedanken zu viel Gelegenheit, auf Wanderschaft zu gehen. Und das taten sie ausgiebig. Sie fragte sich zum Beispiel, wo Ian die ganze Zeit steckte. Als Evan angeboten hatte, einen Sonntagnachmittag mit den Kindern zu verbringen, damit Bethany und Robin sich Klaviere ansehen konnten, hatte Robin sofort zugesagt. Alles war besser, als herumzusitzen und an Ian, die Bürgerversammlung und ihr Café zu denken. »Es erinnert mich an das Klavier, auf dem du in der Kirche immer spielst«, sagte Bethany. »Gefällt es dir?«
Robin zuckte mit einer Schulter. »Es ist hübsch.«
»Okay, was ist los?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde, ein neues Klavier auszusuchen.«
»Natürlich ist es das, Robin. Das alte Klavier hat deiner Mutter gehört und du hast darauf spielen gelernt. Sie hat darauf spielen gelernt. Es steckt voller Erinnerungen.«
»Willst du mich jetzt völlig runterziehen?«
Bethany nahm Robins Arm und ging mit ihr in einen Bereich des Ladens, wo es ruhiger war, etwas entfernt von dem jungen Pärchen, das eines der Instrumente begutachtete. »Aber Caleb ist noch klein. Bring ihm bei, auf einem neuen Klavier zu spielen, dann entstehen auch neue Erinnerungen.«
Robin bemühte sich wirklich, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, das sie normalerweise immer entdeckte, aber ihr Herz wurde nur noch schwerer. Warum war es diesmal so schwierig, neuen Mut zu fassen?
»Woran denkst du gerade?«, fragte Bethany.
»An nichts Produktives.«
»Das dachte ich mir.« Bethany gab Robin ihre Handtasche. »Kannst du die bitte mal halten? Ich muss auf die Toilette. Wenn ich wieder da bin, lassen wir das mit dem Klavier und gehen stattdessen Eis essen.«
»Hast du hier drin vielleicht ein Kaugummi?« Vom Mittagessen roch Robins Atem noch immer nach Zwiebeln.
»Irgendwo bestimmt. Guck einfach nach.« Bethany wandte sich der Damentoilette zu.
Robin öffnete die Handtasche und kramte darin. Ihr Inhalt war ganz anders als der ihrer eigenen Tasche. Keine Pflaster. Keine Ersatzunterwäsche mit Spiderman-Motiv. Natürlich brauchte Bethany sich noch keine Sorgen darum zu machen, dass Elyse einen der typischen Notfälle von Vierjährigen hatte. Robin schob Bethanys Schlüssel beiseite, dann ihr Handy und mehrere Visitenkarten. Dann hielt sie inne. Sie blinzelte, als sie den Namen auf einer der Karten sah. Ian McKay. McKay Planung und Bau.
Was machte die in der Handtasche ihrer Freundin? Mit der Karte in der einen und der Tasche in der anderen Hand folgte sie Bethany und stieß die Tür zum Waschraum auf. »Bethany?«
»Was ist?« Sie stand am Waschbecken und wusch sich die Hände.
Robin streckte ihr die Karte entgegen.
»Da fällt mir ein, er war neulich in der Stadt.«
Sie hasste die Wirkung, die diese kleine Information auf sie hatte. »Wirklich?«
»Evan hat ihn gesehen, wie er vor Vals Imbiss mit dem Bürgermeister und dem Superintendenten geredet hat. Bist du ihm denn nicht begegnet?«
»Nein.«
»Hättest du dich denn gern mit ihm getroffen?«
Robin ignorierte das Ja, das ihr sofort in den Sinn kam. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie vermisste ihn schrecklich. »Ist er immer noch hier?«
»Ich weiß nicht.« Bethany spülte den Schaum ab und trocknete sich die Hände. »Warum rufst du ihn denn nicht einfach an?«
»Das kann ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Wenn er mit dem Bürgermeister und dem Superintendenten spricht, haben seine Pläne sich nicht geändert, und soweit ich weiß, sind meine auch unverändert.« Trotz ihrer Bedenken und Ungewissheit und Zweifel ging ihr immer wieder derselbe Satz durch den Kopf. Sei still, dann werde ich für dich kämpfen. Also hielt Robin sich an ihren Teil und versuchte, so gut es ging, still zu sein.
»Wenn sich an deinen Plänen nichts ändert, warum hast du dann nicht mit der Renovierung des Cafés angefangen?« Bethany nahm ihre Handtasche wieder entgegen.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich warte bis nach der Bürgerversammlung.« Wenn die Stadt für eine Zwangsenteignung stimmte, was für einen Sinn hatte dann die Renovierung? Sie würde die Stadt, die sie liebte, nicht vor Gericht zerren. »Wieso hast du eigentlich seine Karte?«
»Er war vor ein paar Wochen bei uns. An dem Tag, als der Artikel in der Zeitung erschienen ist.«
»Warum?«
»Er hat versucht, dich zu verstehen. Er hat nicht begriffen, warum du sein Angebot abgelehnt hast. Am Ende unserer Unterhaltung bestand er darauf, dass wir unsere Visitenkarten austauschen. Ich hatte nicht vor, mich bei ihm zu melden.«
»Was hat er denn gesagt?«
»Dass ich ihn anrufen soll, wenn alles vorbei ist und …«
»Nein, nicht das. Was hat er über mich gesagt?«
Bethany lächelte.
Robin verdrehte die Augen. »Jetzt mach bitte nicht Amanda Konkurrenz!«
»Er mag dich. Er wollte dich besser verstehen.«
Robin wusste nicht, ob sie sich übergeben oder in Ohnmacht fallen sollte. Warum hatten Bethanys Worte ein solches Gewicht? Und wenn es tatsächlich so wäre – wenn Ian wirklich etwas für sie empfand –, hätte er sie dann nicht besucht, als er wieder in Peaks war? Einerseits wollte sie, dass er aus ihrem Leben verschwand, andererseits wollte sie, dass er ihr hinterherlief und ihr noch ein Angebot machte. Sie streckte die Hand aus. »Kann ich mal dein Handy haben? Meins ist im Auto.«
Bethany kramte in ihrer Tasche und gab ihr das Handy.
Robin verließ den Waschraum, ging an den Klavieren vorbei und trat in die schwüle Luft hinaus. Sie setzte sich auf die Bordsteinkante, drehte die Visitenkarte um und fragte sich, ob er auf dem Diensthandy eine Anruferkennung hatte. Aus irgendeinem Grund kam es ihr viel sicherer vor, ihn von Bethanys Handy aus auf seiner Dienstnummer anzurufen als auf seinem privaten Handy. Die Sonne spiegelte sich im Display, als sie seine Nummer eingab. Eine freundliche Frauenstimme ging beim zweiten Klingeln dran.
»McKay Planung und Bau, guten Tag.«
Robins Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt.
»Hallo? Ist da jemand?«
Nur unter Mühen brachte sie ihre Bitte heraus. »Kann ich bitte mit Ian McKay sprechen?«
»Tut mir leid, Ian ist heute nicht im Büro.«
»Wissen Sie, wo er ist?« Wenn sie in die Stadt zurückfuhr und bei Bernie vorbeikam, könnte es dann sein, dass sie seinen Wagen am Straßenrand sah?
»Er ist in Wahlberg. Und nächste Woche in Iowa. Kurz danach übernimmt Jim Harley seine Kunden. Soll ich Sie zu seiner Mailbox durchstellen?«
»Entschuldigen Sie – was haben Sie da gerade gesagt?«
»Jim Harley wird Ende des Monats Ians Stelle übernehmen.«
»Warum?«
»Ian wird dann nicht mehr für die Firma arbeiten.«
Robin traute ihren Ohren nicht.
»Möchten Sie Ians Mailbox oder die von Jim?«
»Weder noch, danke.« Ian wollte nicht mehr für seinen Vater arbeiten? Er verließ das Unternehmen? Wie benommen starrte sie die Autos an, die an ihr vorbeifuhren, und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.