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Donnerstag, 18. Mai, 13:41
22 Stunden und 15 Minuten vor Stunde null

Enrico Neri kommt die Außentreppe hinunter, schaut sein Gymnasium an und fragt sich, wie es wohl wäre, es in die Luft gehen zu sehen.

In letzter Zeit denkt er das oft und jedes Mal fängt sein Herz dann an, schneller zu schlagen, er kann schärfer sehen, seine Ohren nehmen mehr Geräusche wahr.

Das D’Arturo-Horn ist ein dreistöckiges Gebäude, sehr massiv, aus genau jenen Ziegelsteinen erbaut, denen Bologna den Spitznamen »die Rote« verdankt. Sicherlich würde die Mehrzahl dieser Ziegelsteine von der Explosion zertrümmert werden, zu einem feinen rötlichen Regen werden, während einige wenige davonschießen würden wie Projektile. Enrico stellt sich Flugbahnen vor, zeichnet sie mit den Augen nach.

Das Gymnasium steht an der Ecke einer stark befahrenen sechsspurigen Hauptverkehrsstraße und einer schmaleren Straße, die Via Jacopo Ortis. Das einzige andere Gebäude an dieser Straße ist ein altes Kinderkrankenhaus, in dem mittlerweile nur noch Büros untergebracht sind.

Wäre auch das Krankenhaus betroffen? Und die sechsspurige Straße? Und wenn ja: Wie viele Opfer würde es dann geben, wie viele Tote, wie viele Verletzte, wie viel Blut?

Immer schneller rasen diese Gedanken durch seinen Kopf und beißen sich in seinem Gehirn fest, in seinem Kopf, in seiner Seele, und irgendwann werden sie übermächtig und Enrico bekommt Lust zu schreien, sich diese Bilder aus den Augen zu reißen. Er steckt die Hand in die Tasche und zieht das Klappmesser heraus, dasselbe, mit dem er knapp zwanzig Minuten zuvor seinen Klassenkameraden bedroht hat.

Enrico ist eigentlich nicht gewalttätig, aber man weiß ja, wie das so läuft, denn Ron hat das Messer gesehen und die Leute werden reden. »Weißt du, dass der Neri ein Messer einstecken hat?«, und so weiter, und wenn der Direktor es wüsste, wäre ein Rauswurf die Folge, sie würden ihn vom Unterricht suspendieren, weil diese Schule ein sicherer Ort sein und bleiben muss, und so weiter. Sie können ja nicht wissen, wozu er das Messer in Wahrheit braucht, denn es ist nicht für die anderen gedacht, sondern für ihn selbst. Enrico legt den Finger auf die Schneide und drückt, stärker, stärker, bis er sich schneidet, bis er spürt, dass Blut herausrinnt, bis endlich der Schmerz kommt.

Mit dem Schmerz geht es ihm immer ein bisschen besser. Nach und nach löscht er alles aus, die Bilder der Zerstörung verschwimmen, verblassen.

Enrico zieht die Hand aus der Tasche, steckt den Finger in den Mund und saugt daran. Was ist nur mit ihm los, ist er dabei, verrückt zu werden? Dabei ist da ein Mädchen, das zusammen mit ihrer Freundin auf dem Bürgersteig vor der Schule auf ihn wartet, sie trägt schwarze Shorts von Adidas und ein ärmelloses weißes T-Shirt. Plötzlich bemerkt sie ihn, sie dreht sich um und läuft ihm entgegen, rennt die Treppe hinauf und umarmt ihn.

Enrico versucht, sie abzuwehren, doch sie lässt sich nicht stören, stellt sich auf die Zehenspitzen und steckt ihm ohne Vorwarnung ihre Zunge in den Hals, mit so viel Schwung, dass sie ihm beinahe die Mandeln abreißt.

Sie löst sich von ihm und schaut ihn provozierend an. »Weißt du, was ich vorhin im Unterricht gedacht habe? Dass du echt scharf bist. Und weißt du, was ich gerne mit dir gemacht hätte?«

Sie flüstert es ihm ins Ohr, ihr warmer Atem dringt in sein Ohr, dann weicht sie zurück, um ihn besser zu sehen, doch Enrico erwidert nur: »Uh.«

Ihr Lächeln verschwindet. »Was soll das heißen: Uh? Ich knutsch dich ab, ich sage dir, dass ich mit dir Sex haben will, und du machst so ein Gesicht?«

»Sorry«, stammelt Enrico und schaut zu den Säulen an der Schulfassade hinüber. Er fragt sich, ob die Explosion auch sie erreichen würde und ob sie ganz umfallen oder aber wie Raketen zum Himmel hinaufschießen würden. »Tut mir leid … War ein schlechter Tag heute.«

»Etwa wegen der Nachricht, die du in der Lateinstunde bekommen hast? Dabei hat die Santini doch nichts gemerkt, sie hat Ron beschuldigt, also wirklich …«

Tatsächlich hat die Nachricht sehr viel damit zu tun. Sie kam von seiner Mutter, sie hatte geschrieben: Wo bist du, muss mit dir reden. Dass sie ihm so etwas schreibt, während er in der Schule ist, bedeutet, dass sie bereits sturzbetrunken sein muss. Doch das ist es nicht, was Enrico Sorgen bereitet. Muss mit dir reden, das ist das eigentliche Problem. Seine Mutter und er reden schon seit Wochen nicht mehr miteinander, und wenn sie ihm jetzt etwas sagen will, dann ist es sicherlich nichts Gutes.

»Du bist heute komisch«, stellt Camilla fest. »Fühlst du dich nicht gut?«

Oh ja, denkt er, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlecht ich mich fühle, aber wie könnte ich dir nur alles erklären?

Es wäre unmöglich. Eindeutig unmöglich.

»Vielleicht bin ich einfach nur müde … Hör mal, hast du Lust, mit zu mir nach Hause zu kommen? Es ist niemand da, wir könnten zusammen etwas essen.«

Camilla grinst ihn an. »Du sagst, dass du müde bist, dabei hast auch du Lust …«

»Kommst du mit?«, drängt Enrico. Er ist sich nicht einmal sicher, ob er Camilla wirklich den ganzen Nachmittag um sich haben möchte, allein sein will er aber auch nicht.

Er weiß nicht, was er noch anstellen soll. Ihm ist, als würde dieses Messer in der Tasche nach ihm rufen, ständig nach ihm rufen, doch er will nicht antworten, auf keinen Fall.

Camilla zieht die Nase kraus. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich das machen würde, Enri, aber ich habe Giulia versprochen, mit ihr zu lernen, sie hat Stress mit ihrem Typen und braucht mich. Sie ruft schon nach mir, siehst du?«

Sie streckt einen Arm aus und winkt dem Mädchen zu, das vorhin bei ihr auf dem Bürgersteig stand und das ihr jetzt aus einem Mercedes heraus Zeichen macht zu kommen.

Camilla lächelt Enrico an, gibt ihm einen Kuss, läuft dann schnell die Treppe hinunter und steigt in den Mercedes ein.

Enrico seufzt. Wenigstens hat ihm dieser Wirbelwind von einem Mädchen etwas Nebel aus dem Kopf vertrieben. Er geht in die Via Ortis weiter, in der Hunderte von Mofas parken, angefangen von uralten Piaggio Zip, die vierzig Jahre alt sein müssen, bis hin zu den Honda SH in allen Farben des Regenbogens. Enrico selbst besitzt kein Mofa, sondern ein echtes Auto, eine XEV Yoyo, ein winziges Elektromobil, Zweisitzer, mitternachtsblau.

Sein Vater hat es ihm geschenkt, bevor … bevor alles losging. Und deshalb hat Enrico schon oft daran gedacht, es loszuwerden. In Wahrheit ist das Mikroauto allerdings sehr bequem, es läuft wie geschmiert und Camilla liebt es.

Und ich kann mir nicht erlauben, Cami zu verlieren.

Enrico steigt in den Yoyo ein und drückt auf den Knopf, der den Elektromotor einschaltet. Er wirft einen letzten Blick auf das Gymnasium … Ob die Fensterscheiben wohl schmelzen oder einfach so herausfallen würden …

Nein. Nein. Enrico versucht, nicht mehr daran zu denken, er stellt den Schalthebel auf Drive, geht aufs Gas und fährt los.

Zu schnell.

Er war zu schnell und hat vergessen, in den Rückspiegel zu schauen, deshalb hat er den Jeep nicht bemerkt, der plötzlich aus der Hauptverkehrsstraße in die Via Ortis eingebogen ist und jetzt direkt auf ihn zuhält.

Der Fahrer des Jeeps lässt das Fernlicht aufleuchten und drückt auf die Hupe. Enrico erschrickt, klammert sich ans Lenkrad und der Yoyo gerät ins Schleudern. Enrico lenkt gegen und sein Mikroauto weicht dem Jeep aus, knallt dafür aber seitlich gegen einen alten Volvo, der am linken Straßenrand parkt. Der Yoyo streift am Volvo vorbei, rasiert ihm an der ganzen Seite den Lack ab, von der Motorhaube bis zum Kofferraum, und reißt ihm auch noch den Seitenspiegel ab, der auf die Straße fällt. Enrico tritt mit Kraft auf die Bremse. Der Sicherheitsgurt presst ihn gegen die Sitzlehne, sein Herz rast.

Hupend fährt der Jeep an ihm vorbei und ist so schnell verschwunden, dass Enrico das Nummernschild nicht lesen kann.

Scheiße.

Enrico selbst ist nichts geschehen, er ist unverletzt, aber vor Schreck hat sein Herz einen Sprung gemacht. Er zittert, es war mehr als knapp und plötzlich hört er jemanden schreien: »Neri!«, und erkennt die Stimme des Direktors. Im Rückspiegel sieht er den kleinen, eingetrockneten, beinahe ganz kahlen Mann im billigen Hemd, der gestikulierend auf ihn zurennt.

Er glaubt, der Direktor wolle ihm helfen, und löst den Sicherheitsgurt, klettert auf der Beifahrerseite heraus, stammelt, dass es ihm gut geht, dass alles in Ordnung ist, dass es nur ein kleiner Unfall gewesen ist.

»Es ist ja nicht so schlimm …«

Der Direktor packt ihn an den Schultern.

»Neri!«

»Ich … ich … Es ist nicht schlimm, mir ist nichts passiert.«

»Nicht schlimm? Was? Das da ist mein Auto, du Idiot, mein Auto, und du hast es zerlegt …«

Enrico schaut zu dem zerbeulten Volvo hinüber, zu dem abgerissenen Seitenspiegel, in das vor Wut rot angelaufene Gesicht des Direktors.

»Dieses Mal kommst du nicht einfach so davon, Neri, darauf kannst du dich verlassen. Dieses Mal bist du wirklich zu weit gegangen. Du wirst mir die Reparaturen bezahlen, und wenn mir danach ist, zeige ich dich auch an. Auf jeden Fall aber werfe ich dich von der Schule, das verspreche ich dir …«