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Donnerstag, 18. Mai, 16:14
19 Stunden und 42 Minuten vor Stunde null

Ron sitzt in seinem Zimmer auf dem Gamingstuhl und dreht sich, stößt sich am Schreibtisch ab, dreht sich wieder, wie ein Kreisel.

Seine Mutter sagt immer, dass ihm irgendwann noch mal schlecht davon wird und er sich übergeben muss, tatsächlich aber hilft es Ron beim Denken. Was ihm in der Schule passiert ist, hat er noch niemandem erzählt. Enrico Neri. Das kaputte Handy. Das Messer. (Das wunderschöne Mädchen, das ihn gerettet hat.)

Es ist, als würde ein Teil von ihm denken, dass er es erzählen sollte. Er wäre beinahe gestorben. Möglicherweise leidet er bereits an irgendeinem posttraumatischen Stresssyndrom, so wie die Soldaten, die von einem Einsatz an der Front zurückkehren. Außerdem muss Enrico aufgehalten werden, bevor es zu spät ist. Ein Messer in die Schule mitbringen? Das D’Arturo-Horn ist ein anständiges Gymnasium, es steht mitten im Zentrum von Bologna und ist nicht wie eine dieser amerikanischen Vorstadtschulen, in denen alle einen Revolver im Rucksack haben.

Enrico geht es eindeutig nicht gut. Er hat die Kontrolle verloren. Und das hat Gründe: Ron hat ein bisschen im Internet herumgesurft und weiß jetzt, dass Enricos Vater einer der reichsten Männer von Bologna war, bis er in eine hässliche Geschichte verwickelt wurde, in der es um Drogen, Partys und blutjunge Prostituierte ging, Mädchen, die so alt waren wie sein eigener Sohn. Die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln, und anstatt sich zu verteidigen, war Neri geflüchtet, was sicherlich nicht zu seinen Gunsten ausgelegt worden war.

Verständlich, dass Enrico durcheinander ist, aber daran ist ja Ron nicht schuld, und beim nächsten Mal könnte es böse ausgehen.

Also sollte Ron reden. Aber mit wem?

Auf gar keinen Fall mit dem Direktor oder den Lehrern. Ron hat zu ihnen kein Vertrauen und was sollten sie auch tun? Enrico etwas ins Zeugnis schreiben?

Soll er mit seiner Familie reden?

Ron denkt darüber nach, denn auch wenn seine Familie nichts Besonderes an sich hat, so ist sie doch seine Familie und er liebt sie. Er hat eine Schwester, Serena, zwei Jahre jünger als er. Eine Mutter, die Buchhalterin ist. Und einen Vater, der sozusagen in seiner Freizeit Mechaniker ist und im Hauptberuf Fan von Inter Milano, ein derart fanatischer Fan, dass er seinen Sohn nach Ronaldo Luís Nazário da Silva benannt hat, ein berühmter Fußballspieler der späten 1990er Jahre, und seine Tochter nach Aldo Serena, dem Torschützenkönig von Inter.

Ron interessiert sich kaum für Fußball, und wenn er sich für eine Mannschaft begeistern würde, dann für die von Bologna. Aber die Probleme, die Ron mit seinen Eltern hat, haben sowieso nichts mit Fußball zu tun. Sondern damit, dass er seit einiger Zeit nicht mehr versteht, was mit ihnen los ist. Ständig nörgeln sie an ihm herum oder erteilen ihm irgendwelche Befehle. Woraufhin Ron sich eingeigelt hat und in die Defensive gegangen ist. Er wohnt bei ihnen, isst bei ihnen. Spricht so wenig wie möglich mit ihnen. Verzieht sich, wann immer er kann.

Also bleibt nur noch Gimbo. Sein bester Freund, der ruhige, zuverlässige Gimbo. Ihm könnte er es erzählen. Zwar könnte der Ron auch nicht weiterhelfen, aber wenigstens könnte er sich aussprechen.

Ja, Gimbo schon.

Ron beschließt sich ihm anzuvertrauen. Er nimmt das Handy vom Schreibtisch, entsperrt es und erhält im selben Augenblick zwei Nachrichten.

Sie kommen ausgerechnet von Gimbo. Offenbar funktioniert Telepathie doch.

Heute geht Manu mit Teresa shoppen.

Kommst du auch vorbei, Alter?

Manu geht mit ihnen in dieselbe Klasse und Gimbo ist schon seit einiger Zeit sehr an ihr interessiert. Aber wer ist Teresa? Ron hat nicht die leiseste Ahnung.

Eine Freundin von Manu.

Und warum, schreibt Ron zurück, sollten wir mit ihnen shoppen gehen?

Die Antwort lautet: Damit wir zu viert sind.

Aber ich kenne sie doch gar nicht!, protestiert Ron. Außerdem will er mit Gimbo dringend über Enrico reden und über das, was er erlebt hat, aber Gimbo kommt ihm zuvor: Du bist sechzehn und noch Jungfrau. Findest du nicht, dass es Zeit wird, etwas dagegen zu unternehmen?

Was Ron an Gimbo mag, ist seine praktische Art. Abgesehen davon ist er nicht von ungefähr sein bester Freund.

Warum eigentlich nicht? Ein bisschen Ablenkung tut ihm bestimmt gut. Und vielleicht ergibt sich unterwegs ja auch eine Gelegenheit, Gimbo alles zu erzählen.

Geht klar, schreibt er. Wo und wann?

Um 16 Uhr 30 vor Zara.

Ok.

Ron schaut auf die Uhr und stellt fest, dass er es auf keinen Fall schaffen kann, innerhalb einer Viertelstunde von der Wohnung in der Via XXI. Aprile ins Stadtzentrum von Bologna zu kommen. Er springt auf, zieht sein Lieblings-T-Shirt an, sprüht großzügig Aftershave darüber, schmiert sich eine Handvoll Gel in die wilden Locken und rennt zum Badezimmer. Die Tür ist abgesperrt.

»Serena!«, schreit er. »Serena, komm da raus!«

»Kann nicht, bin beschäftigt«, antwortet seine Schwester.

Das hat ihm gerade noch gefehlt.

Weil er das Gel an den Händen loswerden muss, läuft er in die Küche, um sie sich dort abzuspülen. Seine Mutter hat ihren Laptop auf den Küchentisch gestellt und arbeitet.

»Wo gehst du hin?«

»Zu Gimbo.«

»Und die Hausaufgaben?«

»Machen wir zusammen.«

»Warum nimmst du dann nicht den Rucksack mit deinen Büchern mit?«

»Die Bücher hat er.«

Anstatt sich anzuhören, was seine Mutter dazu zu sagen hat, geht Ron ins Wohnzimmer hinüber, stolpert beinahe über den Teppich, der ebenso schwarz und blau ist wie die Vorhänge und die Türmatte, verlässt die Wohnung und rennt die Treppen hinunter. Keller, Fahrrad, Haustür. Weg.

Ron radelt im Stehen, so schnell, wie er nur kann. Die Ampel an der großen Kreuzung steht auf Grün, er beschleunigt und tritt wie ein Wahnsinniger in die Pedale. In der Ferne auf der rechten Seite sieht er sein Gymnasium, aber was geht ihn gerade die Schule an? Er biegt in die Via Sant’Isaia ein, ein Sprint an der Piazza Malpighi vorbei, dann rechts in die Via Ugo Bassi, im Slalom zwischen Bussen und Mofas hindurch, jetzt ist es bis zur Zara-Filiale nicht mehr weit.

Da fällt ihm ein, dass es in der Innenstadt von Bologna zwei Zara-Filialen gibt, eine am Anfang der Via Indipendenza und die andere ungefähr auf halber Länge derselben Straße … Welche der beiden hat Gimbo wohl gemeint? Er hätte es ihn fragen sollen, jetzt kann es passieren, dass er sie verpasst, weil sie vielleicht im anderen Laden sind.

Bremsen kann man das nicht wirklich nennen: Ron knallt geradezu gegen eine der Säulen vor dem Geschäft, sperrt sein Rad ab und drückt dann noch den Knopf des unter dem Sattel befestigten GPS-Trackers: ein Weihnachtsgeschenk seiner Schwester, ein münzgroßes Teil, das mit einer App auf seinem Handy verbunden ist. Wenn sein Rad gestohlen wird, kann er nachverfolgen, wohin es gebracht wird. Vorausgesetzt, es funktioniert tatsächlich.

Ron schaut auf die Uhr. 16 Uhr 37. Weder Gimbo noch die Mädchen sind zu sehen. Ob sie vielleicht schon weitergegangen sind?

Er ruft seinen Freund an, doch der nimmt nicht ab. Schnell schickt ihm Ron eine Nachricht, vielleicht hat er sich doch zu stark verspätet. In dem Säulengang gehen Dutzende von jungen Frauen an ihm vorbei, mit ihren Handtäschchen und den Tragetaschen von Zara, Pull&Bear, H&M, Sephora und Douglas.

Ron fühlt sich fehl am Platz, er sollte irgendetwas tun, das ihm mehr Sicherheit gibt, ihn souveräner wirken lässt. Vielleicht sollte er vor sich hin pfeifen?

Er pfeift vor sich hin.

Plötzlich sieht er aus dem McDonald’s ganz in seiner Nähe Enrico Neri kommen.

Ron hätte niemals damit gerechnet, ihm so schnell wieder zu begegnen. Sofort fällt ihm alles wieder ein. Er weiß nicht, was er tun soll … Nein, doch, er weiß es: Er muss sich verstecken. Er drückt sich gegen die Säule und versucht, seine Aura zu schrumpfen, damit ihn Enrico nur ja nicht bemerkt …

Enrico bemerkt ihn, grinst schwach und geht auf ihn zu.

»Schau mal an, wer da ist.«

»Ich will keinen Ärger«, sagt Ron sofort. »Lass mich in Ruhe.«

»Aber du hast doch angefangen, weißt du das denn nicht mehr? Außerdem hast du mein iPhone kaputt gemacht.« Enrico schaut ihn an, dann bekommt er einen Lachanfall und fährt mit der Hand über Rons Wange, wie um ihn zu streicheln. Es ist ein heißer Nachmittag, doch Enricos Finger sind kalt wie Eis.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Enrico. »Das iPhone ist mir komplett egal. Es war alt, ich wollte mir sowieso ein neues holen. Tut mir leid wegen dem, was danach war. Ich weiß selbst nicht, was mich da geritten hat. Ich glaube, ich habe es ein bisschen übertrieben. Vergessen wir es, ja? Es bleibt unser kleines Geheimnis.«

Enrico streichelt Ron nochmals, äußerst beunruhigend, dann geht er weg und schubst Ron dabei mit der Schulter an, absichtlich oder nicht, aber Ron knallt gegen die Säule, und als er sich wieder aufgerichtet hat, ist Enrico in der Menge verschwunden.

Dem geht es nicht gut, denkt Ron. Der hat sie wirklich nicht mehr alle.

Aber wenigstens hat Enrico ihm wegen des kaputten Telefons nicht Rache geschworen, und das ist ja schon mal was. Ron zieht das Shirt zurecht und entdeckt dabei das Geld, das vor seinen Schuhspitzen liegt, eine Banknote, nein: eine ganze Rolle Banknoten. Er zählt das Geld: zweihundertfünfzig Euro, von einem Gummiband zusammengehalten.

»Fuck!«

Noch nie hat Ron so viel Geld auf einmal gesehen. Es muss Enrico gehören, es ist ihm wohl aus der Tasche gefallen. In gewisser Weise geschieht es ihm recht. Oder sollte er es ihm zurückgeben?

»Hey, Alter! Wartest du schon lange?«

Gimbo hat nasse Haare, die Sporttasche mit seinen Baseballsachen hat er umgehängt. (Seit ein paar Jahren begeistert er sich für diesen Sport, inzwischen spielt er für San Lazzaro und das nicht einmal so schlecht.)

»Bist du jetzt erst fertig mit dem Training?«

»Ja, ich bin mit dem Rad von San Lazzaro bis hierher gefahren, das hat ein bisschen gedauert. Sind die Mädchen schon da?«

Ron hat sie nicht gesehen, aber eigentlich hat er auch nicht nach ihnen Ausschau gehalten.

»Warum rufst du sie nicht an?«

»Weil sie nicht wissen, dass sie mit uns verabredet sind«, erklärt Gimbo. »Beim Training war auch Marco, Manus Cousin. Er hat erzählt, dass Manu mit ihrer Freundin zu Zara gehen will, und da habe ich gedacht, warum nicht? Mein Kumpel und ich könnten uns einen schönen Nachmittag machen.«

»Du willst also, dass sie uns zufällig entdecken, und sie dann abschleppen?«

»Nur, wenn sie auftauchen«, erwidert Gimbo und schaut sich aufmerksam um.

Ron weiß nicht, ob er lachen oder Gimbo zum Teufel schicken oder beides tun soll. Auf einmal merkt er, dass er immer noch Enricos Geld in der Hand hält, und steckt es schnell in die Tasche.

Er legt Gimbo eine Hand auf die Schulter. »Sie kommen sicher hier vorbei, Alter.«

»Meinst du?«

»Klar.«

»Und wenn nicht, drehen wir eben alleine eine Runde …«

»Gute Entscheidung, Mann, gute Entscheidung.«