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Freitag, 19. Mai, 17:47
5 Stunden und 51 Minuten nach Stunde null

Micaelas Smartwatch zeigt an, dass seit Stunde null fünf Stunden und einundfünfzig Minuten vergangen sind. Bleiben somit noch achtzehn Stunden und neun Minuten: Sobald vierundzwanzig Stunden vergangen sind, endet die Mission. So oder so.

Micaela liegt auf einem Feldbett im Agentenzimmer, einem vier Quadratmeter großen fensterlosen Raum, der mit dem Bett, einem Stuhl und dem Tisch, auf dem ein Laptop und das Einsatz-Tablet liegen, hoffnungslos überfüllt ist.

Wände und Decke sind schallisoliert, die Schiebetür kann man von innen absperren. Hier drinnen ist Micaela vollkommen allein und eigentlich sollte sie das entspannen. Doch ihr klopft das Herz bis zum Hals.

Warum sind sie noch nicht gekommen, um sie zu holen? Der erste Einsatz ist gescheitert, klar, aber worauf warten sie denn noch, bevor sie Micaela ein zweites Mal losschicken?

Vielleicht ist es wegen des Engen Kontakts. Im Feld muss der Agent seine Anweisungen präzise befolgen und darf keinerlei Beziehungen zu Vergangenen aufnehmen, es sei denn, die Anweisungen schreiben es ausdrücklich vor.

Im Feld muss ein Agent unsichtbar sein.

Sie dagegen hatte einen unvorhergesehenen physischen Kontakt, Finger gegen Ellbogen, der ganze zweieinhalb Sekunden gedauert hat. Das weiß Micaela, weil sie es im Kopf abgespeichert hat, da sie im Einsatz weder die Smartwatch noch irgendwelche anderen Gegenstände nicht-organischen Ursprungs dabeihaben darf. Und eventuell liegt genau in diesem Engen Kontakt das Problem. Vielleicht hat der Zweite Kommandant ja recht und sie hätte dem übrigen Team davon erzählen müssen, vielleicht sind daraus sämtliche Schwierigkeiten erwachsen.

Aber auch wenn dieser Kontakt nicht vorgesehen war, so stimmte er doch mit der Zielsetzung der Mission überein. Und das Ziel hat sie ja erreicht. Also?

Also wird im zweiten Einsatz vermutlich ein Eingreifen in das Handeln derselben Vergangenen erforderlich und MARIE geht davon aus, dass sie sie wiedererkennen würden.

Das wäre tatsächlich ein ziemliches Problem und das ist wohl auch der Grund, warum das Team sich beim ersten Einsatz immer so viel Mühe gibt: damit kein zweiter notwendig wird.

Allerdings gibt es keine Alternativen. Seit sie in die Kapsel eingetreten sind, kann kein anderes Team bei demselben Ereignis eingreifen, ansonsten würde sich der Nebel auf eine vollkommen unkontrollierbare Weise ausbreiten.

Und sie, Micaela, ist die einzige Agentin dieses Teams.

Deshalb wird es ihre Aufgabe sein, in die Vergangenheit zurückzukehren, gleichgültig, ob MARIE das gefällt oder nicht. Aber worauf wartet dieser verflixte Computer denn bloß?

Micaela nimmt das Tablet vom Tisch und liest sich nochmals das Dossier durch. Enrico Neri. Ron Senai. Kein Wunder, dass die beiden den Anschlag gemeinsam geplant haben: Sie ergänzen einander ideal.

Beide sind sehr intelligent, aber Enrico ist ein Überflieger, einer, der in allem Erster, Bester ist, während Ron im Mittelfeld bleibt und oft unterschätzt wird. Enrico steckt voller Wut, sein Profil ist beinahe das eines Soziopathen. Ron wird von allen als zuverlässig, ehrlich und loyal beschrieben.

»Aber auch du hast eine dunkle Seite, nicht wahr?«, sagt Micaela leise. »Und deshalb hast du dich vereinnahmen lassen. Oder aber du fühlst dich von diesem geheimnisvollen Freund angezogen, der so schön wie ein junger Gott ist … Die unwiderstehliche Faszination des Bösen.«

Micaela öffnet die Fotos von Enrico und von Ron, schiebt sie nebeneinander. Enrico sieht tatsächlich bemerkenswert gut aus, er erinnert an eine klassische Statue, man fühlt sich beinahe befangen, wenn man ihn anschaut. Dennoch findet sie Ron attraktiver: Hinter der Fassade des Teenagers ahnt man bereits den erwachsenen Mann, der er einmal sein wird. Ihr gefallen die Form der vollen Lippen, der lebendige Funke in seinen Augen …

Auf dem Bildschirm trifft eine Nachricht ein, die genau Rons Augen überdeckt. Es ist eine Mail von Diana. Warum verspürt Micaela plötzlich einen Stich, eine Art Schuldgefühl, als sei sie bei einem kleinen Verrat erwischt worden?

Sie tippt auf die Benachrichtigung, um die ganze Mail lesen zu können. Sie ist sehr kurz.

Hi, Süße. Halt durch, ich gehe jetzt nach Hause und warte dort auf dich.

Diana fragt nicht, wie es ihr mit dem Code siebentausendfünf geht, denn sie ist ja auch beim Militär und weiß genau, dass Micaela nicht autorisiert ist, ihr etwas darüber zu erzählen. Sie will sie nur ihre Anteilnahme spüren lassen. Und macht das per Mail, denn sobald ein Team in eine Kapsel eintritt, werden die Handys ausgeschaltet und sämtliche Kommunikation läuft über die Armeeserver.

Micaela denkt an das kleine Restaurant, das Diana für das heutige Abendessen vorgeschlagen hat. Es gibt dort Poké Bowl und Diana ist verrückt danach. Micaela dagegen ekelt sich immer ein bisschen vor dem rohen Fisch, aber der Gedanke, essen zu gehen, gefällt ihr.

Das Tablet gibt wieder ein Benachrichtigungssignal von sich, dieses Mal ist eine offizielle Mitteilung eingetroffen, und noch in derselben Sekunde schalten sich auch der Bildschirm des Laptops und die Smartwatch ein. Es ist 17 Uhr 54 und die Mitteilung lautet: Neuen Eintrittspunkt in 1 h 16 min gefunden. Instruktionen in 24 min.

»Oh, endlich!«, seufzt Micaela.

Anscheinend ist es Jerry gelungen, MARIE die notwendigen Informationen zu entlocken und einen neuen Einsatz für Micaela auszuarbeiten. Es geht weiter!

Dieses Mal, da ist Micaela sich sicher, wird alles glattgehen.

Mit etwas Glück sind wir rechtzeitig vor dem Abendessen fertig, denkt sie. Und danach gibt es Poké Bowl!