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Donnerstag, 18. Mai, 19:10
16 Stunden und 46 Minuten vor Stunde null

Leutnant Micaela Falco öffnet die Augen.

Sie stellt fest, dass sie steht. Ihr Körpergewicht plötzlich selbst tragen zu müssen bewirkt, dass ihr schwindelig wird. Ihr ist, als wäre sie in einem Flugzeug, das einen Looping fliegt.

Aber sie befindet sich eindeutig nicht in einem Flugzeug, denn Leutnant Micaela Falco trägt keine Pilotenuniform, sondern die Uniform einer Hausangestellten, flache Schuhe und ein lächerliches Spitzenhäubchen auf dem Kopf.

Das Mädchen schwankt. Sie blinzelt, um ihre Augen an das schwache Licht zu gewöhnen.

Sie befindet sich in einem kleinen, aber elegant gestalteten Badezimmer. Das Waschbecken ist eine Porzellanschüssel, die auf einem Holztischchen steht. Die Wasserhähne sind vergoldet, die blütenweißen Handtücher sehen aus, als wären sie soeben erst gekauft worden.

»Ich habe es geschafft«, flüstert sie. »Ich bin zurückgekehrt.«

Sie verlässt den Raum. Ihr ist immer noch ein bisschen schlecht und schwindelig, doch im Laufe ihrer Ausbildung hat sie gelernt, mit Schlimmerem zurechtzukommen. Der Flur, den sie nun entlanggeht, führt in ein Wohnzimmer, in dem zwei große Chesterfieldsofas thronen. Das große Panoramafenster dahinter bietet einen atemberaubenden Ausblick auf den Park.

In die Wand links von ihr ist der Schaltkasten für die Alarmanlage eingelassen. Die Villa ist in einem antiken Stil eingerichtet, doch der Einbruchschutz ist hochmodern, mit Bewegungssensoren in allen Räumen. In allen, außer im Bad.

Micaela hat den Deaktivierungscode auswendig gelernt und gibt ihn jetzt ein. Das Display leuchtet auf und zeigt an, dass sämtliche Sensoren ausgeschaltet und die Schlösser an Türen und Fenstern geöffnet sind. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr im Notfall die Flucht erleichtern wird. Laut Dossier befindet sich um diese Zeit niemand in der Villa, doch könnte jederzeit einer der Bewohner nach Hause kommen und es ist besser, wenn sie sich beeilt.

Da sie sich auch den Grundriss des Gebäudes eingeprägt hat, kann sie sich in den Räumen schnell und sicher bewegen. Sie denkt an nichts, denn sie hat gelernt, dass Gedanken das Handeln verlangsamen, Zweifel aufkommen lassen, Unsicherheit wecken. Während eines Einsatzes muss Micaela so reibungslos funktionieren wie eine gut geölte Maschine, sie muss ganz bei sich sein, stark sein und darf niemals zögern. Micaela weiß nicht, ob sie bereits so gut ist, aber sie muss ihr Bestes geben. Besonders weil der Einsatz am Morgen ergebnislos geblieben ist.

Über den Flur gelangt sie in eine Eingangshalle mit einer luxuriösen Marmortreppe und sodann in ein zweites Wohnzimmer, das auf die gegenüberliegende Seite des Hauses hinausgeht und, weil auf dieser Seite Schatten ist, noch dunkler wirkt als das andere. Von seinen Fenstern aus sieht man die Sonne nicht, sie wird von den Bäumen verdeckt. Vor dem Fenster liegt ein Swimmingpool.

Von diesem zweiten Wohnzimmer geht Micaela in die Küche hinüber und stößt überrascht einen leisen Pfiff aus. Diana wäre begeistert von diesem Anblick: Viele Restaurantküchen sind weniger professionell ausgestattet als diese Küche und zweifellos auch nicht annähernd so schön. Massivholzmöbel und Arbeitsflächen aus Stein, viel gebürsteter Stahl und Emaille, schneeweiße Fliesen und als Dekoration an den Wänden antikes Kochgerät.

Der Brief liegt tatsächlich neben dem Kühlschrank.

Es ist nur ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das da auf der Arbeitsfläche liegt, unter einem Glas, das es beschwert, damit es nicht wegfliegt.

Das Glas ist ein großes, dickwandiges Wasserglas mit einer Randverzierung aus bunten Blümchen und es riecht nach Wein. Jemand, der Wein aus solchen Gläsern trinkt, gibt sich nicht mit kleinen Mengen Alkohol zufrieden.

Micaela verzieht das Gesicht und nimmt den Brief an sich.

Es steht genau das drin, was sie erwartet hat, Wort für Wort, doch jetzt, wo sie ihn in der Hand hält, kommt er ihr eigenartig fremd vor.

Wie kann eine Mutter ihrem Kind so etwas schreiben? Und den Brief dann einfach so hinlegen, unter ein Glas?

Micaelas Mutter ist Programmiererin, eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, die sich daran gewöhnt hat, wegen dem Beruf ihres Mannes von einer Militärbasis zur nächsten umzuziehen, und sich dennoch eine Karriere aufbauen konnte. Sie hat Micaela beigebracht, dass es sich lohnt, für das Erreichen der eigenen Ziele zu kämpfen, und dass man dabei niemals aufgeben darf.

Dass Micaela mit siebzehn Abitur gemacht hat, dass es ihr gelungen ist, in die Militärakademie aufgenommen zu werden, dass sie so jung schon so viel erreicht hat, ist auch ihrer Mutter zu verdanken.

»Wenn ich einen solchen Brief bekäme, würde ich durchdrehen«, flüstert sie. »Und er ist ja auch durchgedreht.«

Jetzt, wo sie den Brief sichergestellt hat, muss sie ihn nur noch zerstören. Micaela schaut sich um. Der Küchenherd ist ein Induktionsherd. Schade, ein Gasherd mit Flammen wäre jetzt praktisch gewesen.

Auf der Suche nach einem Feuerzeug öffnet sie ein paar Schubladen, findet aber nichts. Sie fragt sich, ob sie im Arbeitszimmer des Hausherrn nach Feuerzeug oder Streichhölzern suchen sollte oder im Zimmer des Sohnes. Vielleicht dreht er sich ja Joints. Doch die Vorstellung, durch das große leere Haus zu streifen, gefällt ihr nicht. Sie könnte Fingerabdrücke oder andere Spuren hinterlassen. Außerdem vergrößert jede Minute, die sie hier verbringt, das Risiko.

Endlich fasst sie einen Entschluss, nimmt eine Schere von der Arbeitsfläche und zerschneidet den Brief zu Konfetti. Als sie damit fertig ist, nimmt sie eine Handvoll der winzigen Papierquadrate und wirft sie in den Hausmülleimer unter der Spüle und begräbt die zweite Handvoll im Biomüll unter Kaffeesatz und Eierschalen.

Micaela wäscht sich die Hände, und weil sie schon dabei ist, spült sie auch noch das Wasserglas mit dem Blümchenrand ab. Dann durchquert sie abermals das Wohnzimmer, die Eingangshalle und den Flur, kehrt in das kleine Badezimmer zurück, spült die restlichen Papierstückchen in der Toilette hinunter und seufzt erleichtert. Mission erfüllt, jetzt kann sie hier verschwinden, sie muss nur die Rückkehrampulle durchbohren …

Nein, vorher muss sie noch etwas erledigen. Sie darf nicht vergessen, die Alarmanlage wieder einzuschalten, sie muss alles so zurücklassen, wie sie es vorgefunden hat.

Sie verlässt das Bad wieder, um zum Schaltkasten der Alarmanlage zu gehen. Und genau in diesem Moment hört sie eine Stimme.

»Ist jemand zu Hause?«

Sie hört Schritte.

Im nächsten Augenblick steht ein Junge vor ihr, der nur wenige Jahre jünger ist als sie, auffallend mager, mit einem Schopf wilder Locken.

Und sie erkennt ihn sofort wieder.

Es ist Ron Senai.