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Donnerstag, 18. Mai, 19:27
16 Stunden und 29 Minuten vor Stunde null

Als Grande noch ein Kind war, nahm ihn Onkel Carlo sonntags oft mit auf die Jagd in den Apenninen. Er holte ihn morgens ganz früh, noch vor Sonnenaufgang, ab, und damit der Onkel nicht an der Tür klingelte und somit alle weckte, musste Grande draußen in der kalten Nachtluft auf ihn warten. Dann ging es los, in dem alten Allrad-Panda, in dem die Hunde vor Aufregung sabberten und herumhüpften. Eine Dreiviertelstunde später waren sie im Wald, Onkel Carlo trug sein Gewehr und Grande den Korb, in den die Vögel kamen, die erlegten Fasane oder Rebhühner.

Einmal, Grande kann sich noch ganz genau daran erinnern, hatte der Onkel ihm eine Tellerfalle gezeigt, die jemand im Wald versteckt hatte. Die Falle mit den langen, bedrohlich wirkenden Stahlzähnen hatte sich um etwas geschlossen, das auf den ersten Blick wie ein von Fell überzogenes, lehmverschmiertes Stöckchen ausgesehen hatte. Der Onkel hatte die Falle geöffnet und das Stöckchen herausgenommen, damit Grande es sich besser anschauen konnte: Es war ein Bein. Ein Fuchsbein mit einem zernagten, blutigen Ende.

»Weißt du, was das ist?«, hatte der Onkel gefragt.

»Ein Bein von einem Fuchs.«

»Und weißt du auch, warum wir es hier gefunden haben?«

Grande wusste es nicht und der Onkel erklärte es ihm: »Hier ist ein Fuchs herumgelaufen, du kannst noch überall die Spuren sehen, und aus Versehen ist er in die Falle getreten. Da gab es für ihn nur noch zwei Möglichkeiten: Er konnte hier bleiben und auf den Jäger warten, der ihn totschießen würde. Oder aber sich das Bein abbeißen. Wie er sich entschieden hat, siehst du selbst. Weißt du, was das bedeutet?«

Grande wusste das ebenfalls nicht.

»Dass er lieber leben, als alle vier Beine behalten wollte. Das hier war ein mutiger Fuchs.«

Der Onkel hatte das Bein weggeworfen und Grande angeschaut. »Und du, wärst du genauso mutig?«

Erst viel später hatte Grande herausbekommen, dass Onkel Carlo als junger Mann ein professioneller Einbrecher gewesen war und mehrere Jahre im Gefängnis auf der sardischen Insel Asinara eingesessen hatte. Die Häftlinge waren dort so schlecht versorgt worden, dass sie Katzen gejagt und gegessen hatten.

Onkel Carlo war derjenige gewesen, der Grande die Welt erklärt hatte, und dieser hatte noch lange über den Fuchs nachgedacht und überlegt, wie er sich entscheiden würde, wenn er mit einem Bein in einer Falle hinge.

Jetzt hat er Gelegenheit, es herauszufinden.

Mancino, sein loyalster Mann, will ihm etwas Wichtiges mitteilen. Grande würde jede Wette eingehen, dass es sich um einen Namen handelt. Der Name desjenigen, der ihn verraten, ihn ausgeliefert, ihn hinter Gitter gebracht hat.

Aber um die Wahrheit herauszufinden, muss Grande einen Preis bezahlen.

Täusche heute Abend einen Notfall vor, stand auf dem kleinen Zettel und er hat den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht. Was bedeutet das, ein »Notfall«?

Er könnte so tun, als wäre das Kribbeln zurückgekehrt, wegen dem sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten. Oder seinen Bewachern sagen, er hätte Herzschmerzen. Er verspüre die Anzeichen für einen bevorstehenden Herzinfarkt.

Grande weiß, was in solch einem Fall geschehen würde. Die Polizisten würden ihn sich genauer anschauen, um abzuschätzen, ob es wirklich schlimm war, und allerhöchstens einen Arzt rufen. In aller Ruhe. Und würden während der Untersuchung im Raum bleiben.

Alles in allem wäre das kein Notfall.

Grande weiß außerdem, dass er keine zweite Chance hätte. Er kann nicht einen Herzinfarkt vortäuschen und dann, eine Stunde später, rätselhafte Bauchschmerzen bekommen. So dumm sind Polizisten nun auch wieder nicht.

Also, was tun?

Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sofort aufs Ganze zu gehen, vorausgesetzt er hat den Mut dazu, nein: die Eier, es tatsächlich zu tun.

Um 18 Uhr hatten die Bullen Schichtwechsel: Galli und Rondini sind nach Hause gegangen und es sind zwei Neue gekommen: Camuncoli und Montanari. Hauptkommissar Camuncoli geht in ein paar Monaten in Pension und hat offensichtlich schon lange keine Lust mehr, er will seine Ruhe haben, bis er sich endlich verabschieden und ans Meer ziehen kann. Das bedeutet, dass Grande von dieser Seite keine Probleme zu erwarten hat. Vorausgesetzt, seine Inszenierung ist überzeugend genug.

Er muss schlau sein.

Wie ein Fuchs.

Zwar ist draußen noch Tageslicht, doch in Zimmer vier könnte es schon Nacht sein: Das Abendessen wurde bereits gebracht, Camuncoli ist auf seinem Stuhl eingeschlafen und Montanari ist kurz mal raus, um zu telefonieren oder sich einen Kaffee zu holen.

Die Show kann beginnen.

Grande atmet tief ein, und schnell, bevor er Bedenken bekommen und seinen Plan anzweifeln kann, saugt er die Innenseite der rechten Wange zwischen die Backenzähne und beißt mit aller Kraft zu. Er stößt einen sehr authentischen Schmerzensschrei aus, doch er zwingt sich, gleich noch einmal zuzubeißen, ein Schwall Blut spritzt aus seinem Mund auf Kinn und Pyjama.

Camuncoli schreckt auf. Grande knallt seinen Kopf nach hinten gegen die Wand und fängt an zu zittern, verdreht die Augen, sabbert und schreit, so laut er nur kann.

»So ein Mist«, sagt der Polizist, weniger beunruhigt als genervt. »Ausgerechnet bei mir muss dir das passieren, Grande?«

Er geht zum Bett, legt ihm eine Hand auf die Stirn und Grande nutzt das aus, täuscht Krämpfe vor und packt den Polizisten dabei an der Hose.

Im Gefängnis gilt eine eiserne Regel: Niemals und auf gar keinen Fall darf ein Häftling einen Wärter anfassen. Diese Regel ist in den Kopf von Grande förmlich eingebrannt, aber auch in den des Polizisten, der genauso reagiert, wie er es gelernt hat, nämlich indem er Grande kräftig in den Bauch boxt. Grande röchelt und spuckt ihm einen Mundvoll Blut entgegen.

»Fuck!«, schreit Camuncoli, während Grande weiterzappelt, sich den Infusionsschlauch herausreißt und sich wie ein Besessener auf dem Bett verrenkt.

Er sabbert ausgiebig, beißt sich abermals in die Wange, schreit, tritt um sich, und Camuncoli steht in der mit Blut und Speichel befleckten Uniform kopfschüttelnd an seinem Bett.

Dann rennt er fluchend zur Tür, reißt sie auf und ruft: »Ein Arzt! Ein Arzt! Schnell! Dem Gefangenen hier geht es schlecht, wir haben einen Notfall!«

Innerlich lächelt Grande. Wenn er nicht der Boss einer Verbrecherorganisation wäre, könnte er ein erfolgreicher Schauspieler sein.

Siehst du, Onkel, denkt er. Ich habe Mut, wenn es sein muss. Du kannst stolz auf mich sein.