Ron und Gimbo springen aus dem Flugzeug und rasen im freien Fall durch die Luft. Die zerstörte Stadt unter ihnen wird immer größer. Sie ist ihr Ziel. Gimbo nimmt Kurs auf das Stadion, das am eindeutigsten identifizierbare und gleichzeitig am stärksten zerstörte Bauwerk. Die von den Geschossen irgendeines Kriegs hinterlassenen Löcher in den Wänden sind deutlich zu sehen.
»Bist du sicher?«, fragt Ron.
»Vertrau mir, dort unten finden wir jede Menge neuer Waffen.«
»Dort finden wir auch unsere Feinde«, gibt Ron zu bedenken, doch die Entscheidung ist bereits gefallen.
Sie öffnen ihre Fallschirme und Gimbo lenkt seinen auf die Tribünen zu, während Ron, der den Wind nicht miteinberechnet hat, fortgetrieben wird und mitten auf dem Parkplatz landet. In offenem Gelände.
»Was machst du denn?«, ruft ihm sein Freund über den Kopfhörer zu. »Da erwischen sie dich auf jeden Fall!«
Er hat nicht unrecht, denn noch bevor Ron den Boden berührt, wird er beschossen. Die Feinde haben sich irgendwo rechts von ihm versteckt, doch als Ron das Gesicht in ihre Richtung dreht, wird er von der Sonne geblendet und kann sie nicht erkennen. Er rollt sich auf dem Teer ab, befreit sich vom Fallschirm, rennt los und schießt unterwegs mehrmals mit seinem Maschinengewehr.
»Gimbo, komm und hilf mir …«
»Heißt das, ich soll zusammen mit dir Selbstmord begehen?«
Ron hechtet hinter das Wrack eines Eiswagens und späht hinter dessen Ecke hervor. Aber alles, was er sieht, ist eine Handgranate, die in hohem Bogen auf ihn zufliegt. Gleich darauf füllt grelles gelbes Licht den Monitor und die Worte DU BIST TOT! blitzen auf.
Puh.
»Los, Gimbo«, sagt Ron. »Hör du auch auf, wir spielen noch mal.«
»Hm«, erwidert sein Freund, der nicht aufgehört hat zu schießen. »Hängt davon ab.«
»Wovon?«
»Von dir«, erwidert Gimbo. »Hast du wirklich Lust mitzumachen, oder nicht? Heute Abend spielst du wie eine ausgestopfte Krähe.«
Eine ausgestopfte Krähe ist in Gimbos persönlichem Slang ein hoffnungsloser Fall. Und tatsächlich kann sich Ron an diesem Abend nicht so recht auf ihrer beider Lieblingsspiel konzentrieren.
»Es ist, weil …«
»Was?«
»Enrico Neri.«
Auf den Monitoren setzt Gimbo zu einer gewagten Flucht an, verfolgt von zwei Milizionären mit Pumpguns. Mit einem Glückstreffer liquidiert er den einen, doch der andere erledigt Gimbos Figur mit einem Kopfschuss. Nun ist auch für ihn das Spiel vorbei: Sie sitzen beide im Wartesaal des Spiels.
»Was soll mit Enrico Neri sein?«
»Mir ist heute etwas mit ihm passiert.«
In Wahrheit mehr als »etwas«. Am Vormittag hatte Enrico Anstalten gemacht, Ron die Kehle durchzuschneiden, am Nachmittag hatte er ihn umarmt wie einen alten Freund und zweihundertfünfzig Euro aus seiner Tasche fallen lassen, ohne es zu bemerken. Dann war Ron zu ihm nach Hause geradelt, um ihm das Geld zurückzugeben, und war dort anstatt Enrico dem schönsten Mädchen der Welt begegnet. Dem als Dienstmädchen verkleideten schönsten Mädchen der Welt, das ihn weggejagt hatte. Und er, Ron, hatte ihr nachspioniert. Doch kurz darauf war sie einfach verschwunden. Und er hatte die Alarmanlage ausgelöst und war geflohen wie ein Dieb.
Alles in allem also eine eher komplizierte Geschichte und Ron weiß nicht, wo er mit dem Erzählen anfangen soll.
Gimbo lässt seine Spielfigur, einen muskelbepackten, zwei Meter großen Afroamerikaner, um Rons Spielfigur herumtanzen.
»Was war denn heute mit Enrico? Hast du dich plötzlich in ihn verliebt und ihr habt im Klassenzimmer rumgemacht? Weißt du, mir kannst du es sagen, ich finde, man darf lieben, wen man will, Hauptsache, ihr werdet glücklich …«
»Hör mit dem Schwachsinn auf«, unterbricht ihn Ron. »Es geht darum … Also, ihm sind zweihundertfünfzig Euro aus der Tasche gefallen und ich habe sie aufgehoben.«
»Wow! Und hat er es gemerkt? Dass er sie verloren hat, meine ich.«
Ron schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht …«
»Dann behalt sie doch. Der weiß gar nicht, wohin mit all seinem Geld. Für ihn ist es, als würde er fünfzig Cent verlieren. Wo hast du das Geld denn gefunden? Am Boden? Dann gehört es dem, der es als Erster gesehen hat … Du könntest die Gelegenheit nutzen und deinem lieben Freund Gimbo ein schönes Geschenk machen. Wie wäre eine neue skin für meine Spielfigur?«
Vielleicht sollte ich ihm alles erzählen, überlegt Ron, doch er beißt sich zum tausendsten Mal an diesem Abend auf die Unterlippe.
Es gibt Dinge, die man nicht einmal seinem besten Freund erzählen kann. Wenn man zum Beispiel der Liebe seines Lebens begegnet ist, die jedoch über ähnliche Superkräfte wie Ant-Man verfügt oder zumindest über einen Superanzug, der es ihr ermöglicht, auf winzige Dimensionen zu schrumpfen und sich hinter einer Rolle Toilettenpapier zu verstecken. Denn wie sollte sie, verflixt noch mal, sonst aus dem Badezimmer entkommen sein?
Ron weiß, was er gesehen hat, da ist er sich sicher. Hundertprozentig.
»Hör mal«, sagt er. »Ich muss ihm das Geld zurückgeben.«
»Auch gut. Dann gibst du es ihm eben morgen, in der Schule.«
Eine logische Antwort, aber Ron spürt, dass sie in diesem Fall falsch ist. Micaela war in Enricos Haus mit irgendetwas beschäftigt. Je länger er darüber nachdenkt, desto überzeugter ist er, dass es nichts mit Putzen zu tun hatte. Es war einfach zu seltsam … oder vielmehr sie: Sie war einfach zu seltsam.
Irgendetwas war da im Gange.
Er muss Enrico finden. Mit ihm reden.
Damit er ihn dieses Mal wirklich umbringt?
Ja, es ist riskant. Vielleicht. Und doch glaubt Ron nicht, dass ihm wirklich etwas passieren könnte. Oder zumindest hofft er es.
»Weißt du was?«, sagt er. »Ich fahr schnell los und bringe es ihm. Ich radle zu ihm nach Hause. Zur Villa Neri.«
Gimbos Figur auf dem Monitor bekommt einen Lachanfall. »Willst du dich wirklich mit dem Rad die steile Via dell’Osservanza hinaufquälen? Mal abgesehen davon, dass du ihn höchstwahrscheinlich gar nicht zu Hause antreffen würdest.«
»Warum?«
»Weil Camillas Eltern die Besitzer dieses Parkcafés in den Giardini Margherita sind. Du weißt schon, Le Serre, das Gewächshaus. Oder vielleicht sind sie auch nur Freunde der Besitzer, so genau weiß ich es nicht. Tatsache ist, dass Enrico sich abends dort immer mit seiner Süßen trifft.«
»Woher weißt du denn das?«
»Paolo hat es mir erzählt.«
»Seit wann redest du mit dem?«
»Seit er Baseball spielt und in meiner Mannschaft gelandet ist. Aber …«
Ron wird niemals erfahren, was Gimbo ihm noch sagen will, denn auf einmal wird ihm dessen Stimme zusammen mit dem Kopfhörer von den Ohren gerissen.
Auch ohne sich umzudrehen, weiß er, wer das getan hat: die breiten, mit reichlich Hornhaut und Ölresten versehenen Hände seines Vaters.
»Hey, Pa.«
»Von wegen hey, Pa. Darf man wissen, was du da machst?«
»Ich spiele mit Gimbo.«
»Ja, klar.« Rons Vater dreht sich um und schaltet das Licht ein. (Ron spielt immer im Dunkeln.) Dann setzt er sich auf die Kante des Schreibtischs, der unter seinem Gewicht knarzt. Rons Vater ist ein sehr großer und kräftiger Mann. Jemand, der für sein Alter ein bisschen zu gerne isst. »Also, Ronaldo. Was ist mit dir los?«
Ron hebt eine Augenbraue. »Wie meinst du das?«
Sein Vater macht es sich auf dem Schreibtisch bequem und stößt dabei einen Becher voller Stifte um. Er beugt sich Ron entgegen. »Deine Mutter sagt, dass du heute Nachmittag plötzlich verschwunden bist. Und als du zurückgekommen bist, saßen wir mitten beim Abendessen und du hast völlig fertig ausgesehen. Du hattest niemandem gesagt, dass du später kommen würdest. Du hast nicht mal bemerkt, dass das Essen schon kalt war, und hast dich dann hier in deinem Zimmer eingeschlossen, um vor dich hin zu wichsen … Ich verstehe dich ja gut, in deinem Alter ist masturbieren etwas völlig Normales, aber man sollte es auch nicht übertreiben, verstehst du?«
Ron würde am liebsten in seinem Stuhl versinken. »Papa, ich habe wirklich mit Gimbo gespielt, der außerdem immer noch mit mir verbunden ist und deshalb alles mitgehört hat.«
Gimbo, oder besser dessen sportlicher afroamerikanischer Avatar, verneigt sich auf dem Bildschirm und hebt grüßend eine Hand.
Rons Vater schaut ihn an. »Ach. Grüß Fabrizio von mir und schalt das Ding aus.« Dann wendet er sich wieder seinem Sohn zu: »Warum kommst du nicht rüber zu uns, Ron? Deine Schwester und ich schauen uns den Anfang der Championship an …«
Stimmt, denkt Ron, es ist halb zehn und das Spiel hat schon vor einer Weile angefangen. Unglaublich, dass sein Vater Inter im Stich gelassen hat, um zu ihm zu kommen und mit ihm zu reden. Wer weiß, wie seine Mutter ihn dazu gebracht hat.
Ron ist beinahe gerührt. »Papa, ich bin für Bologna, das weißt du doch.«
»Aber …«
Ron dreht sich auf seinem Stuhl, angelt nach den Schuhen, die er abgestreift hatte, und zieht sie an. »Ich würde wahnsinnig gerne mit euch das Spiel anschauen, aber ich kann nicht. Ich muss noch mal los.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Ja, leider, es muss sein. Ein Freund von mir … Er hat seinen Geldbeutel verloren und ich habe ihn gefunden. Ich muss ihm das Geld bringen …«
»Sag mir die Wahrheit …Triffst du dich mit einem Mädchen? Hast du eine Freundin?«
Ron muss an Micaela denken, aber wenn er schon nicht den Mut hatte, Gimbo von ihr zu erzählen, dann wird er sich jetzt sicherlich nicht seinem Vater anvertrauen. Das wäre … peinlich. Auf gar keinen Fall aber will er zu Hause bleiben, um sich das x-te Spiel anzuschauen und dazu Popcorn zu essen. Von dem Buttergeruch, der aus dem Wohnzimmer herüberweht, ist ihm schon ganz schlecht.
»Ich bin gleich wieder zurück, das schwöre ich.«
Ron weiß, dass alles eine Frage der Schnelligkeit ist. Wie bei den Videospielen. Dem Feind keine Zeit zum Nachdenken lassen, damit er nicht begreifen kann, was gerade passiert. Ihm keine Möglichkeit geben zu reagieren.
Er grinst seinen Vater verlegen an, wie um ihn um Entschuldigung zu bitten, läuft an ihm vorbei, flitzt durch die Tür, quer durch das Wohnzimmer, wo seine Schwester mit einem blau-schwarz gestreiften Schal auf der Couch sitzt.
»Wo willst du hin?«, fragt die Mutter.
»Bin gleich wieder da«, antwortet Ron hastig. »Macht euch keine Sorgen.«
Und bevor ihn jemand aufhalten kann, rennt er schon im dunklen Treppenhaus die Stufen hinunter.