Rot und Blau steigen an einem Rastplatz in der Nähe von Autobahnausfahrt vierzehn aus und schauen den Rücklichtern nach, die sich entfernen.
»Wie weit ist es?«, fragt Blau.
»Ungefähr anderthalb Kilometer«, antwortet Rot.
Es sind nur zehn Grad Celsius und sie sind leicht angezogen, doch die kühle Luft ist das geringste ihrer Probleme.
Rot holt sein Handy hervor, stellt die Navi-App ein und klettert über die Leitplanke. Mithilfe der Taschenlampenfunktion des Handys bahnen sie sich ihren Weg durch ein dicht bewachsenes Waldstück. Nach einigen Metern gelangen sie zu einem Radweg und folgen ihm mit schnellen Schritten.
»Vielleicht«, sagt Blau, »hätten wir uns näher dran absetzen lassen sollen …«
»Sei still«, entgegnet Rot. »In den Anweisungen steht, dass du den Mund halten sollst.«
Das ist nicht wahr, in den Anweisungen steht nichts Derartiges, aber er hat gerade keine Lust auf Unterhaltungen.
Der Radweg führt unter einer Bahnüberführung hindurch, es stinkt nach Urin. Auf der anderen Seite stehen viele Bäume. Sie gehen ein paar Hundert Meter weiter, bis sie an eine Straße kommen, die zu den Häusern am Rand eines Dorfes führt. Einige ziemlich neu aussehende Mehrfamilienhäuser wechseln sich mit Holzbaracken ab, auf einer Wiese steht eine lange Reihe parkender Autos.
»Idyllisch«, kommentiert Blau.
Hintereinander her gehen sie an einem Mehrfamilienhaus nach dem anderen vorbei, bis sie zu einem hohen, mit Stacheldraht gekrönten Maschendrahtzaun kommen.
Auf einem Schild steht auf Tschechisch und Englisch: MILITÄRGELÄNDE – EINTRITT VERBOTEN.
»Ist es hier?«, fragt Blau.
Rot schüttelt den Kopf. »Das hier ist das Kommando- und Kontrollzentrum der 26. Luftwaffenbrigade. Die Basis ist darunter. Sechzehn Meter unter der Erde. Es wird nicht leicht werden.«
»Nein, sicher nicht.«
Sie gehen weiter, am Zaun entlang, bis sie zu einem überdachten Eingang mit einer geschlossenen Schranke kommen. Im Wachhaus steht ein Soldat, der in die Dunkelheit späht.
Rot schaut auf seine Uhr: zweiunddreißig Minuten nach Mitternacht. Sie sind drei Minuten zu früh dran.
»Jetzt warten wir.«
Sie hocken sich hin und verharren reglos. Ringsum ist es ganz still, bis auf ihre Atemgeräusche.
Um genau fünfunddreißig Minuten nach Mitternacht vibriert das Telefon des Wachsoldaten. Der Mann zögert, denn ein persönliches Gespräch entgegenzunehmen wäre eine Verletzung der Dienstvorschrift, aber um diese Zeit ist er hier draußen vollkommen allein. Was also hat er zu befürchten?
Er zieht das Handy aus der Tasche und nimmt das Gespräch an. Seine Stimme klingt fröhlich und sanft. Der Anruf scheint von seiner Freundin oder jedenfalls einer ihm nahestehenden Person zu kommen. Er redet, lacht ein bisschen, redet wieder und dreht sich um, sodass er dem Fenster des Wachhauses den Rücken zudreht.
Der Moment ist gekommen. Rot und Blau schleichen flink zum Wachhaus, schauen kurz zu dem Soldaten hinüber, steigen über die Schranke und laufen schnell weiter, bis die Dunkelheit sie verschluckt.
Blau will jetzt etwas sagen, doch Rot legt sich einen Finger quer auf die Lippen. Sie laufen weiter. Vor ihnen liegt eine Straße, die zu beiden Seiten von weit auseinanderstehenden Gebäuden gesäumt wird.
»Überwachungskameras«, flüstert Rot. »Folge mir, wir müssen außerhalb ihres Aktionsradius’ bleiben.«
Sie joggen im Zickzack weiter, zählen dabei ihre Schritte und machen in den dunklen Ecken kurz Pause, um zu verschnaufen.
Sie brauchen knapp zehn Minuten, um Budova č. 42 zu erreichen.
Das Gebäude ist wesentlich größer, als Rot erwartet hatte, und wirkt feindselig.
Während das übrige Kontrollzentrum um diese nächtliche Stunde menschenleer zu sein scheint, wird der Hangar von starken Scheinwerfern erhellt und man sieht Gabelstapler und herumlaufende Soldaten. Das Gebäude ist auf allen Seiten von einer Stacheldrahteinfassung umgeben, der einzige Zugang wird von zwei Soldaten mit Maschinengewehren bewacht.
Rot und Blau ducken sich hinter einen am Straßenrand abgestellten Jeep, der ungefähr hundert Meter von ihrem Ziel entfernt ist.
Blau zeigt auf die Männer am Eingang. »Bekommen auch die beiden jetzt einen Anruf?«
»Nein, aber wir warten auf eine Mitfahrgelegenheit. Halte dich bereit, wir warten noch … fünfundvierzig Sekunden.«
Als achtunddreißig Sekunden vergangen sind, zerschneiden die Lichtkegel zweier Scheinwerfer die Nacht. Brummend fährt ein Lkw des Modells Tatra T810 mit dicken Geländereifen und einem mit einer olivgrünen Plane abgedeckten Anhänger die Straße entlang.
Rot und Blau drücken sich eng an die Seite des Jeeps und halten die Luft an.
Als genau fünfundvierzig Sekunden vergangen sind, rollt der Lkw an ihnen vorbei. Der Motor hustet, dann röchelt er und schließlich geht er aus und das Ungetüm bleibt mitten auf der Straße stehen. Der Fahrer versucht, ihn anzulassen, zweimal, dreimal, aber nichts geschieht. Aus dem Inneren der Fahrerkabine dringen tschechische Flüche nach außen.
Schließlich steigt der Fahrer, der einen dunklen Militäroverall trägt, aus und geht gestikulierend und immer wieder auf sein Fahrzeug zeigend auf die Wachsoldaten zu.
»Jetzt!«, sagt Rot.
Die beiden heben die Plane des Anhängers an und klettern auf die Ladefläche. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Anhängerwand ist ziemlich hoch. Rot rutscht immer wieder an dem Metall ab und kann sich nicht hochziehen, doch Blau, der schon oben ist, streckt ihm eine Hand entgegen.
Im Schutz der Plane schaltet Rot die Taschenlampenfunktion seines Handys ein. In ihrem Licht werden Dutzende von identisch aussehenden großen Plastikboxen sichtbar, die auf dem vorderen Teil der Ladefläche gestapelt sind und von dunklen Riemen gehalten werden.
»Irgendwo muss eine Box mit einer roten Farbmarkierung an der Seite sein.«
Fieberhaft suchen sie danach, weil sie wissen, dass sie nicht viel Zeit haben.
»Hier«, sagt Blau schließlich. »Sie ist hier, ganz hinten.«
Die Box aus dickem stabilen Plastik sieht genauso aus wie die anderen, aber an der Seite ist ein Farbschmierer zu erkennen, halb verwischt, so als hätte jemand versucht, ihn zu beseitigen.
Die Box steht auf zwei anderen und ist durch Riemen an den seitlichen Griffen mit dem übrigen Stapel verbunden, was bedeutet, dass ihr Deckel angehoben werden kann. Als Rot und Blau ihn hochheben, sehen sie im Licht ihrer Handytaschenlampe nur einige Luftpolsterfolienrollen.
Die Box ist riesig. Rot und Blau klettern hinein und ziehen den Deckel über ihren Köpfen zu.
»Bisschen eng …«
»Psst!«
Draußen erklingen Stimmen. Der Lkw-Fahrer kehrt mit jemand anderem zurück, vielleicht sind es die Wachen oder aber ein Mechaniker. Sie reden. Dann hört man wieder den Motoranlasser starten und absterben. Starten und absterben.
»Vertrau mir«, flüstert Rot und tatsächlich springt der Motor endlich röhrend an.
Der Fahrer ruft etwas, vielleicht ein »Danke«, und der Lkw setzt sich in Bewegung.
Knappe hundert Meter weiter hält er für die Kontrolle an der Schranke an, bleibt mit laufendem Motor stehen, fährt an, bleibt erneut stehen. Das Motorengebrumm verstummt.
»Wir sind drin«, sagt Rot. »Jetzt müssen wir vollkommen still sein.«
Sie hören andere Geräusche, die Plane des Anhängers wird angehoben, Männer steigen auf die Ladefläche und reden sehr schnell auf Tschechisch miteinander. Die Boxen werden bewegt und auf Gabelstapler geladen. Die Box, in der sich Rot und Blau verstecken, ist eine der letzten. Die Männer sind jetzt müde, die Box wird hin und her geschoben, die beiden Menschen darin rollen hilflos hin und her, doch beide achten streng darauf, kein Geräusch von sich zu geben.
Es vergeht Zeit, laut der Uhr von Rot sind es sechs Minuten, dann bewegt sich ihre Box nicht mehr und es wird still.
»Jetzt?«, flüstert Blau.
»Noch zwei Minuten.«
Nach einer Minute und zwanzig Sekunden hören sie ganz in ihrer Nähe plötzlich Stimmen und schnelle Schritte. Offenbar hat jemand etwas vergessen. Wenn sie ihr Versteck vorzeitig verlassen hätten, wären sie entdeckt worden.
»Jetzt!«
Sie heben den Deckel der Box, die ganz oben auf einen Stapel gestellt wurde. Zum Glück stand in den Anweisungen, dass sie in diese markierte Box steigen sollen, sonst würden sie jetzt mitten im Stapel stecken und könnten sich nicht befreien.
Rot und Blau finden sich in einem Gang wieder, der stark an das Verkaufslager von IKEA erinnert: zu beiden Seiten hohe Metallregale, ein Betonfußboden und an der Decke Neonröhren.
»Hier entlang«, sagt Rot. »Überall sind Überwachungskameras, sie werden uns sehen, deshalb müssen wir schnell sein.«
Bestimmten, auf den Fußboden aufgemalten farbigen Linien folgend laufen sie durch das Lager zu einer verschlossenen Tür. Rot tippt in den Nummernblock eine sechzehnstellige Zahlenkombination ein, die er vom Display seines Handys abliest.
Hinter der Tür liegt ein menschenleerer Flur. An der nächsten Ecke biegen sie nach rechts ab, an der folgenden nach links, wieder befinden sie sich vor einer verschlossenen Tür mit einem Nummernblock.
»Vorsicht jetzt!«, sagt Rot. »Auf der anderen Seite steht eine Wache. Er heißt Tom. Wir müssen ihn ausschalten.«
»Du hättest mir seinen Namen lieber nicht sagen sollen.«
»Tut mir leid.«
Rot gibt einen Zahlencode ein, aber dieses Mal scheint er nicht zu stimmen, denn ein rotes Lämpchen leuchtet auf. Zweiter Versuch, wieder rotes Licht. Beim dritten Versuch leuchtet abermals das rote Lämpchen und ein Warnsignal ertönt.
Rot schlägt mit der flachen Hand gegen die Tür, wieder und wieder.
»Macht auf, macht auf!«, ruft er auf Englisch. »Das ist ein Notfall.« Zu Blau gewandt sagt er: »Hier sind mehrere Soldaten zuständig, die einander ablösen. Nick ist einer, der Befehle ganz genau befolgt. Tom dagegen ist nachlässig und langweilt sich im Dienst zu Tode. Er wird nachsehen wollen, was hier los ist.«
Tatsächlich geht wenige Sekunden später die Tür auf und ein um die zwanzig Jahre alter Mann schaut sie verblüfft an. Ihm wird klar, dass Rot und Blau nicht hier sein dürften, er will sein Gewehr auf sie richten, doch die beiden schlagen ihn nieder: Blau, indem er ihn mit beiden Fäusten gleichzeitig am Kinn trifft, Rot mit einem Kniestoß in den Magen.
Stöhnend geht Tom zu Boden.
»Weiter!«, ruft Rot. »Schnell!«
An Tom vorbei laufen sie einen kurzen Flur entlang. Er führt zu einem Aufzug, dessen Tür sich automatisch vor ihnen öffnet.
Sie hasten hinein und Rot legt beide Handflächen auf die glatte Wand. Die Augen hat er weit aufgerissen, damit die versteckten Sensoren seine Iris einscannen können.
Auf Englisch sagt er laut einen Satz, der in den Anweisungen steht: »Ich bedauere, in eure Kapsel einzudringen, aber wir müssen mit Generalin Émilie Gillet sprechen. Kommt da raus und holt uns.«
Der Aufzug erbebt und beginnt, sich abwärts zu bewegen. Eine schrille Alarmsirene schaltet sich ein.