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Freitag, 19. Mai, 00:59
10 Stunden und 57 Minuten vor Stunde null

Immer weiter radelt Ron durch das nächtliche Bologna.

Der Radweg liegt in der Mitte der breiten Straße, sodass zu beiden Seiten jeweils drei Fahrspuren verlaufen. Um diese Zeit sind sie leer, nur ab und zu flitzt ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei und verschwindet dann im Dunkeln.

Ron hat keine Ahnung, wie viele Kilometer er im Laufe des Tages schon zurückgelegt hat, aber er ist sich sicher, wenn er so weitermacht, kann er sich bald für den Giro d’Italia anmelden.

Gegen halb elf, nach seinem Gespräch mit Micaela, war er in die Via dell’Osservanza zurückgekehrt, vor die Villa Neri, und war sich wieder wie ein Nachtfalter vorgekommen, den es zu einer Kerze zieht … Dann verbrennt er sich die Flügel und stirbt.

Enricos Auto stand mitten auf der Straße, so als ob sein Besitzer vergessen hätte, es ordnungsgemäß zu parken. Ron schaute durch die Autofenster, doch Enrico saß nicht drin. Einer plötzlichen Eingebung folgend, klemmte er zwischen Radlauf und Radkasten den GPS-Tracker, den ihm seine Schwester Serena für sein Fahrrad geschenkt hatte.

»Jetzt werde ich immer wissen, wo du bist, mein Freund.«

Ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht schalteten sich Lichter am Gartentor ein. Ron konnte gerade noch hinter einen Strauch hechten, als Enrico das Haus verließ, ins Auto stieg und losfuhr.

Ron hatte nicht den Eindruck, dass es Enrico besonders gut ging. Er kam ihm nicht einmal mehr lebendig vor. Mehr wie ein Zombie, wie ein Roboter. Ein ferngesteuerter Automat.

Das Grinsen in Enricos Gesicht dagegen hatte nichts Roboterhaftes, dafür war es umso erschreckender. Das Grinsen eines Menschen, der zu allem bereit ist.

Er steht kurz davor, etwas Furchtbares zu tun, hatte Micaela gesagt. Der schlimmste Fehler seines Lebens.

Plötzlich war Ron hundertprozentig sicher, dass sie damit recht hatte. Die App auf seinem Handy zeigt ihm die Position seines GPS-Trackers auf einen halben Meter genau. Sobald Enricos Mikroauto hinter der ersten Kurve verschwunden war, hatte Ron sein Handy am Fahrradlenker befestigt und war zur Verfolgungsjagd aufgebrochen. Um zu sehen, was passieren würde, um zu versuchen, diese absurde Geschichte zu begreifen, vor allem aber, um das Versprechen zu halten, das er Micaela gegeben hatte.

Also radelt er jetzt, so schnell er kann, an der Porta Saragozza vorbei, vorbei auch an seinem Gymnasium, das so düster aussieht wie alle Schulen nachts. Vorbei an der Porta Sant’Isaia und der Porta San Felice und auch an der Porta Lame mit dem Gefallenendenkmal.

Ron kontrolliert die App, radelt um den Kreisel herum und biegt in die Via Zanardi ein. Das GPS-Signal zeigt an, dass Enricos Auto jetzt stehen geblieben ist, in ungefähr einem Kilometer Entfernung, und Ron ist froh darüber, denn die Via Zanardi führt auf den äußeren Stadtring und dort sind Fahrräder verboten.

Ron wird langsamer, auf keinen Fall darf Enrico ihn bemerken. Das Mikroauto steht am Straßenrand, in der Nähe einer Garage mit halb hochgezogenem Kipptor. Enrico muss dort drin sein.

Ron lehnt sein Rad an einen Laternenpfahl und geht näher. Durch den Torspalt sieht er den gelblichen Lichtkreis einer Taschenlampe hin und her wandern. Ron zögert, doch dann bückt er sich und schaut durch den Spalt hinein.

Die Garage ist wesentlich größer, als er beim Anblick des Tors dachte. Mindestens drei bis vier Autos würden dort hineinpassen, doch es stehen keine darin, sondern Kartons in zahlreichen, bis unter die Decke hinaufgestapelten Reihen.

Enrico hat einen davon geöffnet und lädt dessen Inhalt in seinen Schulrucksack. Um ihn besser beobachten zu können, versucht Ron, das Kipptor weiter anzuheben, doch schon bei der ersten Bewegung quietscht es laut. Enrico wirbelt herum und Ron kann gerade noch rechtzeitig den Kopf einziehen und beiseitespringen.

Er drückt sich flach an die Außenwand und rechnet fest damit, dass Enrico nachschauen kommt, doch nichts passiert. Ron fasst neuen Mut und späht wieder in die Garage.

Der geöffnete Karton scheint voller Plastikstangen zu sein, schätzungsweise vierzig Zentimeter lang, mit einem rot gefärbten Ende. Enricos Rucksack ist bereits prall gefüllt und doch schiebt er eine weitere Stange hinein und noch eine, immer so weiter, bis er den Reißverschluss nicht mehr zubekommt.

Nun geht er zu einem weiteren Karton, holt etwas heraus, das wie ein Kugelschreiber aussieht, sowie einen zigarettenschachtelgroßen Metallgegenstand, steckt beides in die Hosentasche, und in die andere Hosentasche eine kleine Rolle Kabel.

Ron kann sich auf das, was Enrico da tut, keinen Reim machen. Micaela hätte mir wenigstens einen Hinweis geben können, denkt er.

Enrico ist fertig. Vor Anstrengung ächzend, hievt er sich den schweren Rucksack auf den Rücken und geht zum Tor. Ron zieht sich zurück, läuft ein Stück den Bürgersteig entlang, versteckt sich hinter einem Altglascontainer und beobachtet, wie sein Mitschüler herauskommt, das Garagentor schließt und ins Auto steigt. Er fährt los.

»Scheiße«, sagt Ron, wenig begeistert von der Aussicht auf eine weitere Radtour durch Bologna mit unbekanntem Ziel.

Er schaut in der App nach und sieht, wie der kleine rote Positionspunkt weitergleitet.

»Okay. Versuchen wir es.«

Er steigt aufs Fahrrad und will gerade losfahren, als sein Handy klingelt und auf dem Display das lächelnde Gesicht seines Vaters erscheint. Es ist ein Foto, das seine Schwester Serena vor ein paar Jahren im Urlaub aufgenommen hat, das Bild eines sonnengebräunten, glücklichen Mannes. Doch Ron weiß, wenn sein Vater ihn kurz nach ein Uhr nachts anruft, dann ist er überhaupt nicht glücklich.

Er ruft sofort zurück und hält den Hörer vom Ohr entfernt, damit er von dem zu erwartenden Gebrüll nicht taub wird.

»Ähm … ja, es ist ein bisschen spät geworden«, versucht er sich zu rechtfertigen, »aber es ist alles in Ordnung, Papa …«

»Von wegen in Ordnung«, schneidet ihm sein Vater das Wort ab und verkündet, dass Ron ab sofort Hausarrest hat, und wenn er nicht augenblicklich nach Hause kommt, bis zu seinem achtzehnten Geburtstag auch in Hausarrest bleiben wird.

Nach diesem Gespräch ist Ron verzweifelt. Auf der einen Seite stehen Micaela und die Mission, die sie ihm anvertraut hat, auf der anderen Seite sieht er sich der Wut seines Vaters gegenüber.

Der Vater siegt, vor allem deshalb, weil er seine Drohungen gewöhnlich wahr macht.

Also radelt Ron seufzend los, Richtung zu Hause, und zwar so schnell, wie er kann.