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Freitag, 19. Mai, 03:25
8 Stunden und 31 Minuten vor Stunde null

In Krankenhäusern ist es niemals still. Sogar mitten in der Nacht bewegen sie sich, atmen sie, schnarchen sie, blasen durch Ventilatoren, Beatmungsgeräte und Sauerstoffflaschen.

Grande lauscht und nimmt all das Leiden wahr, das sich hinter den vielen Geräuschen verbirgt, die Schmerzen der Kranken, die Müdigkeit der Nachtschicht, die Langeweile, den unangenehmen Geschmack der Medikamente, den sauren Nachgeschmack des Kaffees.

In seinem Zimmer sind zwei neue Polizisten, die gekommen sind, um die anderen abzulösen. Ferranti. Pau. Sie haben es sich gemütlich gemacht, schauen sich mit Kopfhörern Filme an und haben schon seit Stunden nicht mehr von ihren Handys aufgeschaut.

Sie glauben, dass er schläft, doch Grande kann nicht schlafen. Er würde gerne, doch das Krankenhaus hält ihn wach, es stichelt, es zwingt ihn, in einer Endlosschleife über immer dieselben Dinge nachzugrübeln.

Genauer gesagt, über ein Ding: Kann man mit einem Telefon einen Krieg auslösen?

Das ist die Frage, die Giovanni Grande schon seit Stunden durch den Kopf geht. Denn es besteht die Gefahr, dass ein Krieg ausbricht. Ihm ist das sehr wohl bewusst, mit derselben Sicherheit, mit der ein Schachmeister anhand der Position der Figuren auf dem Brett das Ende der Partie vorhersagen kann.

Lange Zeit fühlte sich Grande gegenüber einem unsichtbaren und deshalb stärkeren Feind im Nachteil. Er ist ins Gefängnis gekommen und vom Gefängnis ins Krankenhaus, dorthin, wo die Kranken und Schwachen landen, die Untersten in der menschlichen Hackordnung.

Doch dann hat Grande einen klugen Zug getan. Es ist ihm gelungen, sich eines Handys zu bemächtigen, und jetzt hat er die Möglichkeit, einen Gegenangriff zu starten und eine wichtige gegnerische Figur aus dem Spiel zu werfen.

Diego. Der Mann, der ihn hinter Gitter gebracht und seine ehrbare Fassade zerstört hat. Der Gedanke, ihn zu töten, lässt Grande erzittern. Er weiß, welche Genugtuung ihm diese einfache Entscheidung verschaffen würde. Doch er weiß auch, dass Diego nur eine Figur in einem wesentlich größeren Spiel ist. Hinter ihm müssen andere stehen, die in Italien und vielleicht auch in Venezuela arbeiten, und das sind gewichtige Leute, die wirklich Geld besitzen und auch Macht und die keinerlei Skrupel haben, Menschen zu töten oder sogar ein ganzes Land in Schutt und Asche zu legen.

Und noch etwas anderes beschäftigt Grande: Sollte er die Herausforderung annehmen und einen Krieg entfesseln, würde er früher oder später Hilfe brauchen. Er müsste andere gewichtige Leute um Gefallen bitten, und diese Gefallen müssten früher oder später erwidert werden, was wiederum weitere Tote und noch viel mehr Schutt und Asche zur Folge hätte.

Wenn Grande die Ermordung von Diego in Auftrag gibt, kann er nicht mehr zurück. Andererseits ist er jetzt ein verletzter Löwe. Er ist öffentlich bedroht worden und ein Anführer, der nicht den Mut hat, auf Drohungen angemessen zu reagieren, hat kein Recht mehr, Anführer zu bleiben, und wird früher oder später getötet.

Was also soll er tun?

Kriege sind eine sehr delikate Angelegenheit, man muss sie sich gut überlegen. Grande denkt in seinem Bett gründlich nach. Er spürt den Druck des zwischen seinen Beinen versteckten Handys. Natürlich kann er es nicht benutzen, nicht mit Pau und Ferranti, die in seinem Zimmer sitzen und auf ihn aufpassen, doch allein schon zu wissen, dass es in seiner Reichweite ist, beunruhigt ihn.

Er muss sich entscheiden, welche Haltung er einnehmen wird, was er machen wird. Sich zurückziehen oder angreifen? Die Apokalypse auslösen oder das Gesicht verlieren?

Es gäbe auch noch eine dritte Möglichkeit und Grande stellt überrascht fest, dass sie ihm ein Lächeln auf das Gesicht zaubert.

Er könnte sterben.

Wenn er sterben würde, wäre alles anders, alles vorbei. Seine Figur wäre vom Schachbrett verschwunden und er hätte endlich seine Ruhe, auf einem schönen Friedhof mit vielen Bäumen.

Ach ja, ach ja.

Er stellt sich die Allee des Friedhofs Certosa in Bologna vor, die Damen, die Blumensträuße auf die Gräber legen, der Sonnenschein, in dem alles beinahe schön aussieht.

Sterben wäre gar nicht so schlecht.

Ein bisschen Frieden finden.

In Ruhe gelassen werden.

Doch es gibt da ein Problem: Er hat überhaupt nicht die Absicht, sich umzubringen, und deshalb muss er jetzt aufhören herumzutrödeln und diese verdammte Wahl treffen.

Diego töten.

Ja oder nein?

Das ist schon alles. Weiß oder Schwarz, Kopf oder Zahl.

Grande dreht sich in seinem Bett um, presst die Schenkel zusammen, um das Handy deutlicher zu spüren, als könnte ihm das Gerät einen Rat geben. Doch es ist nur ein totes Kästchen und er grübelt weiter.

Die beiden Polizisten im Raum bekommen von alledem nichts mit.