31

Samstag, 20. Mai, 04:02
16 Stunden und 6 Minuten nach Stunde null

Nie hätte er sich träumen lassen, denkt Grande, dass in nur vierundzwanzig Stunden so viel passieren kann.

In der Nacht zuvor war er in Bologna im Krankenhaus gelegen, von zwei in seinem Zimmer sitzenden Polizisten bewacht, er hatte sich im Bett hin und her gewälzt und kein Auge zubekommen.

Jetzt dagegen ist Grande sehr, sehr weit von Bologna entfernt, frei wie ein Vogel und in Gesellschaft einer schönen Frau, die sich bei ihm untergehakt hat. Sie werden gleich eine Raststätte betreten, die nachts aufhat, und Grande denkt, dass es ihm heute sehr viel besser geht als gestern, zweifellos.

Zweifellos.

Er schiebt die Tür der Raststätte auf und die Frau an seiner Seite drückt seinen Arm fester, um ihn zu stützen. Er weiß das zu schätzen, nicht etwa, weil er ihre Hilfe braucht, sondern weil sie ihm gefällt. Ihre Schönheit wirkt in diesem halb leeren Lokal vollkommen fehl am Platz, es sitzen nur ein paar Kaffee trinkende Lastwagenfahrer darin.

Grande wählt einen etwas abseitig stehenden Tisch aus, von dem er die Eingangstür im Blick behalten kann, und wartet, bis ein Kellner zu ihnen kommt, ein Mann, dem man die Anstrengung der langen Nachtschichten deutlich ansieht.

»Bring uns etwas zu essen«, sagt Grande. »Und zwei Bier.«

Der Kellner scheint ihn nicht zu verstehen und versucht, etwas zu entgegnen, doch Grande tut, als höre er es nicht, und der andere zieht resigniert davon.

Als sie wieder allein sind, schimpft die Frau mit ihm: »Wenn Sie einen Schlaganfall gehabt haben, sollten Sie keinen Alkohol trinken.«

»Nicht einmal ein Bier?«

»Nicht einmal das.«

»Puh«, macht Grande, dann lächelt er. Es ist lange her, dass eine Frau den Mut hatte, es mit ihm aufzunehmen. Er hatte vergessen, wie sich das anfühlt.

Er streckt seine Schultern: Die letzten vierundzwanzig Stunden, bis er vom Krankenhaus hierher gelangt ist, waren kompliziert. Nur seinen Adrenalinschüben verdankt er, dass er durchgehalten hat, und jetzt muss er erst einmal verschnaufen. Sich auf die Prüfung vorbereiten, die auf ihn wartet.

Er merkt, dass sie ihn beobachtet. »Entschuldigen Sie bitte«, sagt er. »Ich war in Gedanken.«

»Das macht doch nichts. Es war ein anstrengender Tag.« Und etwas später: »Eigentlich müssten Sie ins Krankenhaus zurück.«

»Ich verspreche Ihnen, dass ich das tun werde, sobald alles abgeschlossen ist. Und was werden Sie tun, danach?«

Die Frau zögert, zuckt mit den Schultern und fängt an, ihm von ihrem Leben zu erzählen, von ihrer Scheidung. Ein Leben wie viele, doch sie erzählt es mit Leichtigkeit und mit einer Ironie, die ihn beeindruckt. Eine starke Frau.

Der Kellner kehrt mit zwei Gläsern Bier, zwei Gläsern mit Wasser und Eiswürfeln und zwei Suppentellern mit einer dampfenden Masse zurück. Schwierig zu erkennen, woraus sie besteht. Vielleicht ist es eine Art von Gulasch.

Lächelnd zieht Grande die Wassergläser zu sich her. »Das Bier ist für Sie. Ich sollte keinen Alkohol trinken.«

Die Frau kostet das Essen und sagt, dass es Gulasch und pikant sei, aber gut schmecke.

Grande merkt erst jetzt, dass er nicht sehr hungrig ist, und trinkt deshalb nur sein Wasser, ohne dabei die Tür aus den Augen zu lassen.

»Und Sie … wie sind Sie … hier gelandet?«, fragt die Frau.

Grande weiß, was sie eigentlich von ihm wissen will. Er soll ihr erzählen, wie er seine Transportfirma aufgebaut hat und wie er in jene andere Branche gerutscht ist, die, in der richtig viel Geld umgesetzt wird.

Wie er die kleine Villa in Bolognas Viertel Interporto von einem alten Industriellen geschenkt bekommen hat, der nur sein Leben retten wollte. Wie er jahrelang von morgens bis abends gearbeitet hat.

Von Maria, wie es damals war, als sie sich ineinander verliebten, wann sie begriffen und versucht hat, ihn zu verlassen, wie er sie daran gehindert hat, und wie sie ihn dann doch noch ausgetrickst hat, indem sie an Krebs gestorben ist.

Von seinem Sohn, der von zu Hause weg ist, sobald er das konnte, und nie mehr zurückgekehrt ist.

Und wie dann die Polizei gekommen ist, um ihn zu verhaften, und von dem Prozess, dem Gefängnis, der Suche nach dem Namen des Verräters, Diego, Diego Gonzales, und von der Entscheidung, was zu tun sei. Was mit ihm zu tun sei.

Es gibt so vieles, das Grande dieser Frau gern anvertrauen würde, doch er tut es nicht. Er schweigt einfach. Er schweigt und lässt die Tür nicht aus den Augen, mit zusammengekniffenen Lippen und halb geschlossenen Augen.

»Verzeihen Sie«, sagt sie nach einer Weile leise. »Ich wollte nicht indiskret sein.«

»Das macht nichts.«

»Glauben Sie, dass alles gut gehen wird?«

»Es wird so laufen, wie es laufen soll. Jetzt bringen wir erst einmal diese Nacht hinter uns. Dann folgt der nächste Zug.«