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Samstag, 20. Mai, 05:18
17 Stunden und 22 Minuten nach Stunde null

Während Grande kein Auge zutut, schläft Micaela. Doch plötzlich wacht sie wieder auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie auf dem Feldbett eingeschlafen war, vollständig angezogen und bei eingeschaltetem Licht.

»Was war das?«, flüstert sie.

Sie merkt, dass im Raum irgendetwas anders ist. Sie streckt eine Hand aus, berührt den Gegenstand, der auf ihrem Kissen liegt, nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, und springt erschrocken auf.

Jemand hat das Zimmer betreten, während sie schlief. Wer war das? Und warum ist sie nicht aufgewacht?

Sie schaut zur Überwachungskamera an der Decke hinauf. Sicherlich hat die alles aufgenommen, doch Micaela hat zu den Aufnahmen keinen Zugang.

»Wer war das?«, fragt sie laut. »Wer hat das hier reingebracht?«

Micaela nimmt den Gegenstand, dreht ihn zwischen den Händen hin und her und untersucht ihn. Er ist in feuerrotes Papier eingewickelt, mit einem goldenen Zierbändchen, das mit Klebeband an dem Papier befestigt wurde.

Ein Geschenk.

Wer kann ihr in einer derartigen Situation ein Geschenk gemacht haben? Und warum hat die Kommandantin erlaubt, dass es ihr gebracht wird?

Nein, denkt Micaela, mit Sicherheit weiß die Kommandantin nichts davon. Sie hat sie ja gerade erst verhaften lassen. Also muss es jemanden geben, der die Überwachungskameras neutralisiert hat, um ihr heimlich ein Geschenk zuzustecken. Ob es Data war? Der Analyst? Einer der Wachsoldaten?

Micaela überlegt, ob sie das Päckchen öffnen soll oder nicht. Es könnte wer weiß was darin sein. Es könnte eine Falle sein. Dann aber denkt sie, tiefer als jetzt kann sie gar nicht in Schwierigkeiten stecken, was soll ihr noch Schlimmeres passieren?

Sie entfernt Bändchen und Klebeband und zerreißt das Papier. Darunter findet sie eine noch in Zellophan eingeschweißte DVD. Ein Film. Die Glücksritter.

Auf der DVD-Hülle klebt ein Post-it, auf dem auf Italienisch steht: Schauen wir ihn uns Weihnachten gemeinsam an? Die Beschriftung ist von Hand, aber sie kennt diese Schrift nicht. Wer könnte es geschrieben haben?

Sie ist immer noch mit dieser Frage beschäftigt, als die Schiebetür zur Seite gleitet und die Kommandantin eintritt. Instinktiv versteckt Micaela die DVD unter ihrem Kissen. Lieber keine weiteren Probleme aufkommen lassen.

Die Kommandantin bemerkt es nicht, weil sie Micaela gar nicht anschaut. Sie betrachtet alles andere, das Feldbett, den Tisch, die Überwachungskamera an der Decke, aber nicht sie.

»Wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet«, antwortet Micaela.

»Das war eine ernst gemeinte Frage. Ich erwarte eine ernst gemeinte Antwort.«

»Ziemlich schlecht«, gibt die Agentin zu. »Sie wissen doch, wie man auf der Basis sagt? Nach dem dritten geht’s ins Krankenhaus. Der letzte Einsatz war hart, meine Reaktionen sind verlangsamt, mir ist schwindelig und übel, ich fühle mich benommen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich erinnern kann, was in den letzten vierundzwanzig Stunden genau passiert ist.«

»Ich kann dir die Ärztin schicken, damit sie dich untersucht.«

»Ich brauche die Ärztin nicht. Ich will nur hier raus und meine Arbeit wiederaufnehmen.« Micaela zögert, bevor sie hinzufügt: »Ich habe das, was mir vorgeworfen wird, nicht getan.«

Endlich sieht die Generalin Micaela an. Ihr Rücken ist gerade und stocksteif. Eine Auswirkung der vielen Jahre in der Armee, denkt Micaela, doch ihr wird klar, dass sie über die Generalin nur sehr wenig weiß. Außer dass auch sie ein Wunderkind war, das unsanft die Rangleiter hinaufgeworfen wurde, um schließlich eine der wichtigsten und geheimsten strategischen Basen der Welt zu befehligen.

»Ich habe das, was mir vorgeworfen wird, nicht getan«, wiederholt Micaela energischer.

»Leugnest du, mit diesem Jungen gesprochen zu haben? Mit Ronaldo Senai.«

»Nein.«

»Und hast du möglicherweise vergessen, dass ein Gespräch mit einem Vergangenen, sofern die Richtlinien der Mission es nicht direkt vorschreiben, einen Verstoß gegen die Dienstvorschriften darstellt?«

»Ich kenne die Dienstvorschriften«, erwidert Micaela.

»Dann ist die Anklage ja korrekt. Du gehörst vor ein Militärgericht.«

»Die Mission war kompromittiert, Kommandantin. Ich sollte in jenem Lokal rechtzeitig ankommen, um das Handy von Enricos Freundin an mich zu nehmen und zu zerstören … Laut MARIE sollte dies um 22 Uhr 17 geschehen. Ich bin in der Vergangenheit um 22 Uhr 14 angelangt. Und …«

»Und?«

»Zu diesem Zeitpunkt hatte Enrico bereits alles gesehen und war mit dem Handy in der Hand aus der Bar hinausgerannt. Mein Einsatz war schon gescheitert, bevor er überhaupt begann.«

»Hat Ron dir das alles erzählt?«

Micaela überlegt gut, was sie antworten soll, und nickt schließlich. »Ja, Generalin. Gleich nachdem ich mich in der Bar materialisiert habe, bin ich ihm begegnet. Er hat mich wiedererkannt. Das war das dritte Mal, dass er mich wiedergesehen hat, nach den Einsätze heute Morgen und heute Nachmittag.«

Die Kommandantin atmet laut aus. »In einem Fall aufeinanderfolgender Einsätze kann es Agenten durchaus passieren, denselben Vergangenen mehr als ein Mal zu sehen. Es wäre schön, wenn wir bei jedem Einsatz einer Mission einen anderen Agenten losschicken könnten, doch nach derzeitigem Stand ist es nicht sicher genug.«

»Ich weiß.«

»Aber du hättest nicht mit ihm sprechen dürfen. Und das, was er dir gesagt hat, nicht glauben dürfen.«

Micaela schaut der Kommandantin direkt ins Gesicht. »Mit allem gebotenen Respekt, Generalin, aber wenn ich im Feld bin, ist es meine Aufgabe, die mir am geeignetesten erscheinende Verfahrensweise zu wählen. So steht es auch in den Dienstvorschriften. Als ich ankam, befand sich Enrico Neri nicht in dem Lokal und das Handy lag nicht unter dem Tisch. Ich wusste, dass ich in die Gegenwart zurückkehren musste. Ronaldo Senai war am Ort und bot sich an, mir zu helfen, indem er Enrico im Auge behielt. Weil dies meine beste Chance war, die Mission zu erfüllen, nahm ich sein Angebot an.«

Die Kommandantin zuckt zusammen. »Du … was hast du …?«

»Es oblag meiner Verantwortung, die Entscheidung zu treffen. Natürlich habe ich die Nummer 42 in keiner Weise erwähnt. Ich habe Ron nicht in die Gründe für meine Mission eingeweiht und ich habe ihm verboten, mit Enrico auf irgendeine Weise direkten Kontakt aufzunehmen. Dennoch war ich der Ansicht, dass seine Hilfe unentbehrlich ist.«

Die Kommandantin richtet sich noch gerader auf. »Unseren Daten zufolge ist Ronaldo Senai ein Komplize von Enrico Neri!«

»Unseren Daten zufolge besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass Ronaldo das sein könnte«, verbessert Micaela sie. »Doch erscheint es ebenso wahrscheinlich, dass das Gegenteil stimmt, und ich bin mir bei Ron sicher. Ich habe ihn genau beobachtet, er hat nicht gelogen. Ich weiß das.«

Die Kommandantin ist wesentlich kleiner als die Agentin, doch die Autorität, die sie ausstrahlt, scheint ihre physische Präsenz zu verstärken. Es ist, als erfülle eine elektrische Spannung den Raum.

Dann löst die Spannung sich auf.

»Du könntest recht haben oder auch nicht«, sagt sie. »Auf jeden Fall stehe ich vor einem beträchtlichen Dilemma. Dies ist eine Situation, für die es in der Geschichte unseres Korps keine Präzedenzfälle gibt. Vielleicht hat sich die Agentin meines Teams des Verrats schuldig gemacht, dennoch kann ich sie nicht ersetzen. Wenn ich dich in die Vergangenheit schicke, könnte ich selbst vor einem Militärgericht landen. Doch wenn ich jemand anderen entsende, passiert dasselbe. Und wenn ich nichts unternehme, kann ich mit mathematischer Sicherheit davon ausgehen, dass diese verdammte Bombe vor siebzehn Stunden explodiert ist und die Toten tatsächlich tot sind. Verstehst du mein Problem?«

Micaela versteht es und steht auf. Sie geht in Habachtstellung.

»Generalin, sowohl Sie als auch ich wollen diese Menschen retten. Ermöglichen Sie mir bitte, es zu tun. Zu kämpfen. Ich bin keine Verräterin, das müssen Sie mir glauben. Das schwöre ich Ihnen auf meine Ehre.«

»Wenn du eine Verräterin bist, hast du keine Ehre.«

»Aber Sie selbst haben mich hierhergeholt, Sie haben mich dazu auserwählt, Agentin zu werden. Sie kennen mich. Sie wissen es.«

Der Kommandantin ist deutlich anzusehen, dass sie schon lange nicht mehr geschlafen hat. Tiefe Falten zerfurchen ihr Gesicht.

»Es gibt da noch ein weiteres Problem. Falls ich mich dazu entscheiden würde, dir zu vertrauen und dich zurückzuschicken, wäre das dein vierter Einsatz innerhalb derselben Zeitmission. Du hast mir vorhin gesagt, dass der dritte schwere Folgen hatte, dass du dich benommen fühlst. Ein vierter Einsatz könnte dir bleibende Schäden zufügen.«

»Das ist unwichtig«, antwortet Micaela. »Ich bin bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen.«

»Überlege es dir gut, denn eine Reise in die Vergangenheit, bei der du nicht perfekt in Form bist, könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben, und falls du die Katastrophe doch nicht verhindern kannst, würdest du dich dein Leben lang schuldig fühlen. Für eine so junge Frau wie du ist das eine schwere Last. Hinzu kommt, dass dein Körper möglicherweise den Stress gar nicht mehr aushält. Du könntest in ein Koma fallen. Und Diana nie mehr wiedersehen.«

Micaela hätte nicht gedacht, dass die Kommandantin von Diana weiß, beziehungsweise dass sie als höchste Offizierin der Basis so detailliert über das Privatleben ihrer Untergebenen unterrichtet ist, jedenfalls hat sie mit ihr noch nie darüber gesprochen.

Micaela hält die Luft an, denkt an Diana, an die Mail, die ihre Freundin ihr am Nachmittag geschickt hat, an das erste Mal, als sie einander in jenem Supermarkt begegnet sind.

Sie denkt auch an ihre Eltern in Italien, sie hat sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen und, um ehrlich zu sein, telefonieren sie auch gar nicht so oft miteinander. Aber sie hatte fest vorgehabt, sie diesen Sommer zu besuchen. Ein paar Tage am Meer zu verbringen.

Ist sie wirklich bereit, all das zu verlieren?

»Kommandantin, vertrauen Sie mir. Ich kann ein viertes Mal in die Vergangenheit zurückkehren und diese Geschichte beenden. Die Bombe wird nicht explodieren, das schwöre ich Ihnen.«

Die Generalin schaut ihr in die Augen, dann steckt sie die Hand in eine Tasche. Als sie sie wieder herauszieht, hält sie darin Micaelas Smartwatch.

»Binde sie dir wieder um. Und versuche, ein bisschen zu schlafen. Sobald MARIE einen neuen Eintrittspunkt errechnet hat, lasse ich dich holen.«