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Samstag, 20. Mai, 08:02
20 Stunden und 6 Minuten nach Stunde null

Die Smartwatch vibriert an Micaelas Handgelenk und sie wacht auf. Sie ist verwirrt, einen Moment lang glaubt sie, in ihrer Wohnung im Zentrum von Prag zu sein und zu hören, wie Diana duscht.

Doch das Rauschen kommt von der Klimaanlage.

Sie setzt sich auf und von der Bewegung wird ihr schlecht, das ist kein gutes Zeichen. Sie müsste nach Hause fahren, sich ein paar Tage ausruhen.

Wieder vibriert die Smartwatch. Laut Stoppuhr sind zwanzig Stunden und sechs Minuten vergangen. Sobald nach Stunde null vierundzwanzig Stunden vergangen sind, schließt sich das Zeitfenster und Micaela wird nichts mehr tun können. Die Bombe wird dann explodiert sein, und fertig.

Nur noch knapp vier Stunden Zeit.

»Micaela, Micaela«, sagt sie leise zu sich selbst.

Ihre Gedanken schweifen ab, dabei muss sie sich doch konzentrieren.

Auf dem Display der Smartwatch erscheint neben der Stoppuhr eine Nachricht der Kommandantin: Besprechungsraum.

Sie steht auf und taumelt. Ihr Körper gehorcht den Befehlen des Gehirns nicht besonders gut, sie fühlt sich, als wäre sie uralt, ihre Knochen und Gelenke schmerzen. Sie schafft es gerade noch so, ihre Springerstiefel anzuziehen. Zum Glück hat sie in ihrem Overall geschlafen. Dann geht sie in den Gang hinaus, erreicht den Besprechungsraum. Vor der Tür steht die Erste Wache.

»Owen, lass mich rein«, sagt Micaela.

»Noch nicht. Die Kommandantin spricht mit jemandem und will nicht gestört werden.«

»Aber sie selbst hat mich gerufen.«

Micaela lehnt sich an die Wand und atmet tief durch, nutzt diese Pause, um zu verschnaufen.

Als sich die Schiebetür öffnet, kommt der Analyst heraus, in Begleitung eines sehr großen und schlanken und eines etwas kleineren, kräftiger gebauten Mannes, die dunkle Sturmhauben tragen. Von ihrem Gesicht sieht man nur die Augen, aber sie schauen weg, als wollten sie keinen Blickkontakt mit Micaela.

»Jetzt kannst du rein«, sagt die Erste Wache und tritt beiseite.

Im Raum ist nur noch die Kommandantin, auf dem Tisch stehen vier Tassen mit mittlerweile kaltem Kaffee. Die Kommandantin sieht sehr müde aus.

»Wo ist das übrige Team?«, fragt Micaela.

»Sie werden nicht dabei sein. Wir beide führen sozusagen ein sehr privates Gespräch.«

»Und die beiden Typen, die gerade hier rausgekommen sind? Sie sind nicht aus unserem Team. Heißt das, die Kapsel ist geplatzt?«

»Das geht dich nichts an, also vergiss sie gleich wieder.«

Die Kommandantin bedeutet ihr, sich zu setzen, und Micaela gehorcht, froh darüber, dass sie sich ein bisschen ausruhen kann. Dabei hat sie gerade geschlafen. Es ist, als würde ihr Körper zerbröckeln. Von wegen neunzehn, sie fühlt sich, als wäre sie neunzig Jahre alt.

»Es ist eine schwierige Situation«, sagt die Kommandantin. »Möglicherweise befinden wir uns gerade in der schlimmsten Krise, die dieses Korps jemals erlebt hat, seit Zeitreisen erfunden wurden.«

Sie schweigt, und weil sie keine Frage gestellt hat, sagt Micaela nichts darauf. Sie hört zu.

»Nach unserer letzten Unterredung habe ich sehr überraschende Entdeckungen gemacht. Die Schlussfolgerung ist verblüffend, aber wie Sherlock Holmes schon sagte: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit – so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.«

Wieder macht die Generalin eine Pause, wie um sich auf das vorzubereiten, was sie nun sagen wird. »Ich gehe davon aus, dass du nicht die einzige Agentin bist, die an diesem Zeitereignis arbeitet.«

Micaela hält immer noch den Mund.

»Ich weiß, was du jetzt denkst: dass es nicht sein kann, dass unsere Basis die einzige ist, die dazu autorisiert ist, in dieser Zeitzone zu arbeiten. Dennoch gibt es keine andere mögliche Erklärung und laut Jerry wird sie durch die Untersuchungen des Nebels bestätigt. Irgendwo hat jemand einen Konter-Agenten losgeschickt, dessen Aufgabe darin besteht, deine Einsätze zu sabotieren. Wir wollen diese verfluchte Bombe stoppen, doch es gibt jemanden, der unbedingt will, dass sie explodiert.« Erst jetzt schaut die Kommandantin Micaela ins Gesicht. »Du wirkst nicht überrascht.«

»Das bin ich auch nicht«, antwortet diese. »Ich war zu demselben Schluss gekommen, eben aufgrund des Nebels und dieser seltsamen Spitzen, die nicht den Zeiträumen meiner Einsätze entsprechen. Der Nebel entsteht nur, wenn jemand, der zukünftige Ereignisse kennt, versucht, das Gewesene zu verändern. Deshalb … muss es ein feindlicher Konter-Agent sein.«

»Hast du vielleicht eine Ahnung, wer das sein könnte?«

Micaela hat die ganze Nacht darüber nachgedacht, doch sie weiß es nicht. »Es ist wahrscheinlich, dass es einer von uns ist … Soweit ich informiert bin, existieren auf der Welt nur zweiundsiebzig Maschinen, so ist es doch, oder?«

»Dreiundneunzig«, verbessert sie die Kommandantin. »Drei pro Zeitzone, dazu kommen noch einige weitere, die in Reparatur sind, gerade noch konstruiert werden oder ausrangiert wurden und als Ersatzteilspender dienen.«

Micaela denkt nach. »Uns wird vorgeschrieben, stets nur in unserer Zeitzone zu operieren, weil das einfacher ist und weil dadurch Agenten zur Verfügung stehen, die sämtliche Sprachen des Gebiets sprechen. Außerdem erleichtert es die Berechnungen innerhalb des Vierundzwanzigstunden-Zeitfensters. Es ist aber nicht gesagt, dass der Konter-Agent diese Vorschriften tatsächlich befolgt. Er könnte von China oder Afrika aus gestartet sein. Vielleicht steht ihm eine Maschine zur Verfügung, die es ihm ermöglicht, über längere Zeiträume als nur vierundzwanzig Stunden zurückzukehren.«

»Letzteres können wir wohl ausschließen. Das wäre eine derart sensationelle technologische Revolution, die wir auf jeden Fall mitbekommen hätten.«

»Der Konter-Agent weiß immer im Voraus, was ich tun werde«, sagt Micaela. »Er weiß, wann ich in die Vergangenheit starte und wann ich zurückkehre, deshalb muss er Zugang zu unseren Datensätzen haben.«

»Denkst du, dass sich unsere Feinde, wenn wir sie mal so nennen wollen, von außen mit MARIE verbinden?«

»Oder ihnen steht ein vergleichbarer Computer zur Verfügung, mit dem sie dieselben Berechnungen durchführen können.«

Micaela weiß nicht, was sie glauben soll: Alles ist möglich, aber auch das Gegenteil von allem. Sicher ist nur, dass sie gerade eine Krise von unvergleichlichem Ausmaß erleben.

Und als ob das noch nicht genug wäre, muss sie sich dieser Katastrophe mit den Nachwirkungen von drei Einsätzen entgegenstellen, mit schmerzenden Muskeln und einem benommenen Gehirn. Ohne zuverlässige Anweisungen, ohne irgendwelche Richtlinien, auf die sie sich stützen könnte.

Ron, denkt sie. Ich kann nur hoffen, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe, denn du bist praktisch meine letzte Hoffnung.

»Bist du in der Lage, auch unter diesen Bedingungen noch einmal zurückzukehren?«, fragt die Kommandantin. »Denn wenn du es tust, kann ich dich nicht beschützen. Du riskierst dein Leben und noch dazu könntest du den derzeitigen Ist-Zustand verschlimmern. Es könnte passieren, dass du bei der Rückkehr von deinem Einsatz eines Chronoverbrechens gegen die Menschheit angeklagt wirst. Und, glaube mir: Das wäre wesentlich schlimmer als Hochverrat. Ist dir das bewusst?«

Micaelas Smartwatch vibriert an ihrem Handgelenk und sie wirft einen Blick auf das Display. Es zeigt ein Foto von einem Strand, vermutlich in der Karibik, mit Meer und Palmen und einem blau-weiß gestreiften Strandpavillon mit Liegestühlen.

Eine Nachricht auf Italienisch steht daneben. Denk positiv. Geh immer aufs Ganze.

Micaela kann nicht anders, sie muss grinsen: Es ist eine Anspielung auf Die Glücksritter, ein Zitat von einer der beiden Hauptfiguren, die sich verbünden, um die Milliardäre hereinzulegen, die sie in Schwierigkeiten gebracht haben …

Das ist genau die Aufmunterung, die sie jetzt braucht. Eine Idee, an der sie sich festhalten kann.

Sie hebt den Kopf und schaut der Kommandantin ins Gesicht. »Was passieren wird, ist unwichtig. Ich muss es auf jeden Fall versuchen, finden Sie nicht auch?«

»Doch, ja, das finde ich auch.«

»Also, wann soll es losgehen?«