Es kann einem auf viele verschiedene Weisen schlecht gehen und an diesem Morgen durchleidet Enrico Neri sie alle.
Als er aufwachte, fühlte sich sein Kopf wie versteinert an und das Einzige, was ihm nach dem Aufstehen gelang, war sich auf den Wohnzimmerfußboden zu erbrechen.
In der Küche mixte er sich eine »Heiße Zitrone« aus heißem Wasser, Zitronensaft und Zucker, ein Rezept, das ihm Signora Zilli verraten hatte, seine ehemalige Klavierlehrerin, das er aber bisher noch nie ausprobiert hatte. Die Limonade hat ihn in das Reich der Lebenden zurückgeholt, auch wenn er noch immer nicht so richtig bei sich ist.
An das, was in der vergangenen Nacht war, kann er sich nicht erinnern. Er weiß nur noch, dass er die Fotos von Camilla und seinem Vater gesehen hat. Die wird er sicherlich niemals mehr vergessen. Der Rest ist Leere, das Nichts, ein großes schwarzes Loch, auf das ein Erwachen mit schmerzenden Gliedern folgte.
Er muss aber irgendetwas gemacht haben, all der Alkohol kann nicht durch Zauberei in seinen Körper gelangt sein. Nein, Moment mal, mit dem Trinken von harten Sachen hat er erst nach seiner Rückkehr nach Hause angefangen, da ist er sich ziemlich sicher. Davor war er irgendwo anders. Aber wo, und warum? Er hat nicht die leiseste Ahnung.
Die letzte Erinnerung ist seine Begegnung mit Ron an der Tür von Le Serre, und dass er in dem Augenblick nicht wusste, ob er Ron zu Boden schlagen oder aber umarmen und sich an dessen Schulter ausweinen sollte. Nur das weiß er noch, und dann nichts mehr.
Was ihn wiederum an das erinnert, was ihn derart erschüttert hat: Camilla. Sein einziger Wunsch ist, sie wiederzusehen, und allein dieser Gedanke gibt ihm die Kraft, sich unter die Dusche zu stellen, sich anzuziehen, sich ein Taxi zu rufen und zur Schule fahren zu lassen.
Jetzt steht Enrico am Fuß der Außentreppe, die zum Eingang des D’Arturo-Horn hinaufführt, und wartet.
Camilla wird bald kommen und er beabsichtigt, sie zur Rede zu stellen.
Mittlerweile hat er begriffen, dass sie beide einander nie wirklich geliebt haben. Und doch waren sie lange zusammen. Weil es so richtig war, weil alle es von ihnen erwartet haben, weil sie zusammen perfekt waren. Die am besten aussehenden Schüler dieses Gymnasiums, reich, sportlich, intelligent. Supercool. Kinder sehr eng befreundeter Familien. Unvermeidlich, dass sie ein Paar wurden.
Für Enrico war das in Ordnung. Er liebte sie zwar nicht, aber es gefiel ihm, sie um sich zu haben, jedenfalls meistens, und der Sex mit ihr war fantastisch.
Doch Camilla hat ihren Pakt verraten, ihn verraten.
Er kann es kaum erwarten, ihr das ins Gesicht zu sagen.
Er hört das satte Motorengeräusch eines Sportwagens, weiter weg, auf der Durchgangsstraße, dann biegt ein orangefarbener Audi, neuestes Modell, in die Via Ortis ein und bleibt mit quietschenden Reifen in der Nähe der Treppe stehen.
Am Lenkrad sitzt Camillas Mutter und sieht wie ein Instagram-Model aus: gebräunte Haut, hohe Wangenknochen, perfekte Lippen. Sie erkennt Enrico und lächelt ihm zu, während Camilla beim Aussteigen ein sehr ernstes Gesicht macht. Der Audi fährt wieder weg. Camilla zögert.
Enrico geht auf sie zu.
»Hör mal«, sagt sie und weiß offenbar nicht, wie sie fortfahren soll. »Tut mir leid wegen gestern. Ich hätte nicht einfach so gehen sollen. Dich mit dem, was dir gerade geschieht, allein lassen sollen. Es tut mir leid.«
Ach, es tut ihr leid.
»Ich habe das nicht ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass wir uns nicht mehr sehen sollen. Ich …«
Enrico zieht ihr Handy aus der Tasche. »Du hast das hier in der Bar liegen lassen.«
Camilla reißt es ihm aus der Hand, drückt es gegen die Brust. »Oh, danke, ich hatte schon Angst, dass ich es verloren habe, Scheiße …« Sie legt ihm die Arme um den Hals, macht Anstalten, ihn zu küssen.
Enrico schiebt sie von sich, aber mit zu viel Kraft. Sie taumelt, fällt rücklings hin, schaut ihn an, schaut zu ihm hinauf und ist so überrascht, dass ihre Augen immer größer werden.
Er fühlt sich eiskalt. »Ich habe die Fotos gesehen. Alle.«
Daraufhin passiert etwas, mit dem er nicht gerechnet hat: Camilla fängt an zu weinen. Es ist ein verzweifeltes Weinen, heftig wie der Regen, der, dem Aussehen der Wolken nach zu urteilen, in ein paar Stunden auf Bologna niedergehen wird.
»Bitte, ich bitte dich«, fleht Camilla, »erzähl es nicht meinen Eltern …«
Und zum ersten Mal sieht er das, was passiert ist, aus einer ganz anderen Perspektive. Am Vorabend hatte er sich erniedrigt gefühlt, hatte gedacht, dass sie eine ekelhafte Hure war, hatte gedacht: Sie hat es mit meinem Vater getrieben, ausgerechnet mit meinem Vater.
Jetzt dagegen wird ihm bewusst, dass der Ekelhafte sein Vater ist, und sie einfach nur ein junges Mädchen, das sein Vater hereingelegt hat, dem er wer weiß was vorgemacht hat, auf seine elegante Art, mit seiner Bildung, seinem Geld, diesem Flair eines Mannes von Welt. Und sie ist darauf hereingefallen. Enrico weiß nicht, ob es besser oder schlimmer ist als das, was ihm zugestoßen ist, und doch waschen Camillas Tränen die Wut weg, ihm bleibt nur noch eine raue Bitterkeit, die in der Kehle brennt.
Er würde ihr gern sagen, dass es ihm leidtut, dass es nicht so hätte enden sollen, doch er ist nicht fähig dazu und kann sich auch nicht rühren. Er schaut sie nur an, mehr nicht, auch die anderen schauen sie an, all die Schüler, die nun ins Gebäude strömen, rings um sie herum hat sich eine Menge angesammelt, wer weiß, was sie denken, aber auch das ist völlig egal.
Und während Enrico dort steht mit seinen Kopfschmerzen und versucht, die Scherben einer zerschmetterten Liebe aufzusammeln, einer Liebe, die nie eine gewesen ist, kommt auf einmal wieder dieser Typ auf ihn zu, dieser Ron Senai, fliegt auf ihn zu wie ein Falke.
Dieses Mal ist Enrico derjenige, der am Boden landet, neben Camilla, er knallt auf den Teer und stellt dann fest, dass Ron auf seinem Bauch sitzt.
Der Junge scheint vom Teufel besessen zu sein. Er hebt eine Faust, lässt sie in Enricos Gesicht krachen und Enrico nimmt einen plötzlichen Schmerz an der Wange wahr, am Mund, den Geschmack von Blut. Die Wucht des Schlags ist so heftig, dass sein Gesicht zur Seite gedreht wird, seine langen blonden Haare landen im Straßenstaub.
»Wo hast du sie hin?«, schreit Ron ihn an. »Du musst mir sagen, wo sie ist. Sag mir, wo sie ist!«
Enrico hat keine Ahnung, was er meint. Er ist noch ganz auf seinen Schmerz und vor allem auf Camilla konzentriert. Auf den Schmerz, den sie beide teilen.
Ron hört auf, ihn zu schlagen, und steht auf, oder besser: Ron hört auf, ihn zu schlagen, weil er von jemandem zum Aufstehen gezwungen wird: Signor Carelli, der einen Schirm wie einen Stock einsetzt.
»Was soll das, was ist los mit euch? Und ihr, was steht ihr hier herum und glotzt? Los, weg mit euch. Mädchen, hast du dir wehgetan? Schämt ihr euch denn nicht, ein Mädchen anzugreifen? Was seid ihr? Tiere?«
Camilla wird aufgeholfen, eine aus der Elften legt ihr eine Hand auf die Schulter, bringt sie weg. Enrico würde ihr gern sagen, dass sie nicht weggehen soll, weil sie reden müssen, doch Carelli packt ihn an der Schulter, und zwar fest, es tut weh, und er befiehlt: »Ihr zwei kommt mit mir mit. Zum Direktor. Jetzt sofort!«
Es sieht aus, als hätte sich die halbe Schule versammelt, um zuzuschauen, wie er und Ron wie Verbrecher abgeführt werden, von Carelli, der als Polizist fungiert. Sie steigen die Treppen hoch und betreten das Büro des Direktors, in dem es nach Staub riecht. Es ist eine wirre Ansammlung aus Kartons und Karteikästen, inmitten derer, wie zufällig dort gelandet, ein Schreibtisch steht.
Der Direktor trinkt gerade Kaffee und hat noch seinen Mantel an. Signor Carelli erzählt ihm, was passiert ist, und geht dann, lässt die beiden Jungen dort zurück.
Ron hält mit der linken Hand die rechte umfangen, die, mit der er auf Enrico eingeprügelt hat. Theoretisch müssten Faustschläge dem wehtun, der sie einstecken muss, aber ihm kommt es vor, als hätte er sich einen Handknochen gebrochen, während Enrico nicht so aussieht, als hätten ihn die Schläge groß beeindruckt.
»Gut, gut«, sagt der Direktor. »Es ist ein Vergnügen, am Beginn des Arbeitstags zwei Ehrenmänner wie euch beide zu empfangen.«
»Ich wurde angegriffen«, sagt Enrico tonlos.
»Lügner«, murmelt Ron.
Enrico würde ihn gern fragen, warum er ein Lügner sein soll, doch der Direktor kommt ihm zuvor: »Senai, seien Sie still!«
Ron schließt den Mund.
»Signor Neri«, fährt der Direktor fort. »Gestern Nachmittag haben Sie versucht, mein Auto zu zerstören, und heute Morgen sind Sie in eine Prügelei verwickelt. Es kommt mir vor, als würde mit Ihrem Leben etwas nicht stimmen. Was meinen Sie?«
Enrico fängt an zu lachen. Er kann einfach nicht anders. Na ja, klar stimmt mit seinem Leben etwas nicht, sein ganzes Leben ist ihm einfach so weggerutscht, ins Klo gerutscht und er hat auch noch die Spülung gedrückt.
Der Schuldirektor kann das nicht wissen und Enricos Gelächter macht ihn noch wütender. »Machen Sie sich über mich lustig, Signor Neri?«
»Nein«, antwortet der und lacht weiter.
»Begreifen Sie denn nicht«, sagt der Direktor, »dass Sie von dieser Schule verwiesen werden können? Ich beabsichtige, eine disziplinarische Maßnahme einzuleiten.«
Das sollte eigentlich die schlimmste Drohung sein, die endgültige, totale, doch Enrico berührt sie kaum. Wie mag es Camilla jetzt gehen? Er möchte mit ihr sprechen. Oder nein, vielleicht ist es besser, sie in Ruhe zu lassen, sie muss ohnehin furchtbar durcheinander sein.
Ein erwachsener Mann … ein Alter. Und sie waren zusammen im Bett? Oh Gott, wie widerlich!
Der Direktor ist inzwischen dazu übergegangen, Ron unter Druck zu setzen.
»Wollen Sie mir bitte erklären, Signor Senai, warum Sie Signor Neri angegriffen haben?«
»Er …« Ron atmet tief durch. »Das geht nur uns etwas an, Herr Direktor.«
»Ach ja? Es wäre besser, wenn es auch mich etwas angehen würde, denn sonst werfe ich euch beide aus meiner Schule raus.«
Ron zögert und Enrico erkennt, dass sich der andere schnell eine Lügengeschichte ausdenkt, irgendetwas Improvisiertes.
»Es ist wegen des Handys«, sagt Ron. »Gestern haben Enrico und ich uns gestritten, aus Versehen habe ich sein Handy kaputt gemacht, jetzt soll ich es ihm ersetzen, aber ich habe das Geld nicht.«
Enrico grinst wieder. Der Typ hat echt was drauf. Er hat Regel Nummer eins beim Lügen beherzigt: Immer halbe Wahrheiten erzählen.
»Ist das so, Signor Neri?«
Enrico zuckt mit den Schultern. Er weiß, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet wird, und deshalb hält er lieber den Mund.
Der Direktor ergreift einen Papierstapel und knallt ihn mit voller Wucht auf die Tischplatte. Eine sinnlose Geste, aber offensichtlich liebt er dramatische Inszenierungen.
»Das reicht, ich habe mit euch schon viel zu viel Zeit verloren. Geht in euer Klassenzimmer. Ich erwarte, dass ihr euch heute den ganzen Schultag über vorbildlich verhaltet. Tut ausschließlich das, was von euch als Schüler erwartet wird. Ich werde euch vor dem letzten Läuten holen lassen, um euch mitzuteilen, welche Schritte ich euch betreffend ergreifen werde.«
»Aber …«, beginnt Ron.
Der Direktor bringt ihn mit einem zornigen Blick zum Schweigen.
»Sollte ich euch heute irgendwo außerhalb eures Klassenzimmers antreffen, werdet ihr beide der Schule verwiesen. Darauf gebe ich euch mein Wort. Und jetzt raus hier. Signor Carelli!«
Der Hausmeister, der offensichtlich die ganze Zeit über draußen gewartet hat, schaut herein. »Ich begleite die beiden, kein Problem.«
Sie gehen zu ihrem Klassenzimmer und unterwegs überkommt Enrico Neugier, er muss wissen, was Ron von ihm will, warum er ihn geschlagen hat.
»Warum?«, fragt er ihn.
»Ich weiß alles«, antwortet Ron leise. »Ich weiß von der Bombe.«
Enrico starrt ihn verständnislos an.
Was für eine Bombe meint er?