»Woher weißt du das überhaupt?«, fragt Ron und diese Frage ist eindeutig spontan, sie kommt direkt aus seinem Innersten, aus seinem Herzen.
Micaela ist überrumpelt. Sie weicht vor ihm zurück.
Ron bemerkt ihre Verwirrung und schaut sie nicht länger so an wie bisher, mit diesem freundlichen Blick, der sie von Anfang an zu ihm hingezogen hat. Jetzt ist er ernst, sehr konzentriert.
Er will es erfahren. Er muss es erfahren.
»Gestern Abend hast du zu mir gesagt, dass Enrico kurz davor steht, etwas zu tun, das er sein Leben lang bereuen wird«, fährt er fort, »und offensichtlich hat er es tatsächlich getan. Aber das kannst du eigentlich gar nicht wissen, weil du gestern Abend nicht dabei warst. Ich dagegen war dort, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen. Woher weißt du es also? Und wer hat dir gesagt, dass der Sprengstoff heute Mittag explodieren wird und dass es zu einem Massaker kommt? Hast du das alles erfunden?«
Micaela ist von der Dringlichkeit in seiner Stimme so betroffen, dass sie nur noch stottern kann: »Nein … nein. Meine Arbeit …«
»Für wen arbeitest du?
»Für die Luftwaffe … So etwas in der Art.«
Wie viel darf ich ihm sagen?, fragt Micaela sich. Wie viel kann ich ihm sagen, ohne zu riskieren, dass ich vor ein Militärgericht komme? Aber im Grunde ist jetzt ohnehin alles ruiniert, genau wie Enricos Leben, ich habe nichts mehr zu verlieren ...
»So etwas in der Art?«
»So etwas wie eine geheime Einheit.«
»Aha«, sagt Enrico. »Und dann setzen sie ein Mädchen ein, das so alt ist wie wir?«
»Ja, weil … Das geht euch nichts an. Und es würde zu lange dauern, alles zu erklären.«
»Okay, aber woher willst du wissen, dass diese Schule in einer Stunde explodiert?«
»Unsere Computer haben das ausgerechnet«, gibt Micaela schließlich zu. Mehr wird sie nicht preisgeben. Kein einziges Wort mehr.
Doch jetzt fängt Enrico an zu lachen und es ist ein schmerzliches Lachen, ein blechern klingendes Hecheln. »Klar. Ihr habt also Computer, die die Zukunft vorhersagen können. Sicher. Und wie kommt es dann, dass ich davon noch nie etwas gehört habe?«
»Weil es geheim ist.«
»Selbstverständlich. Ron, hast du gehört? Die haben einen Computer, der die Zukunft vorhersagt.«
»Nein, so ist es nicht«, sagt Micaela. »Unser Computer prophezeit nicht, was in der Zukunft geschieht. Er analysiert die Daten und …«
»Wie funktioniert es dann? Warte, warte, lass mich raten: Es ist ein normaler Computer, nur dass ihr ihn in eine Zeitmaschine steckt, damit er alles erfährt.« Enrico lacht. »Oder, noch besser: Sie stecken dich in eine Zeitmaschine. Du bist eine Geheimagentin und kommst aus der Zukunft, um uns zu retten.«
Oh, oh, denkt Micaela. Ihr ist klar, dass sie nicht antworten darf.
Dann erst merkt sie, dass Ron sie fixiert. Mit einem sehr tiefen Blick.
»Oh nein!«, stöhnt Ron.
»Was?«, fragt Enrico.
»Ich glaube, du hast richtig geraten. Sie. Kommt. Aus. Der. Zukunft.« Ron lässt die Wörter im Raum schweben und Micaela darf das nicht zulassen, sie muss irgendetwas tun.
Sie will ihr Gesicht in den Händen verbergen, doch Ron hält sie an den Unterarmen fest. Immer noch schaut er sie an. Es ist, als hätte er den Schlüssel zu ihrem Herzen gefunden und könnte es öffnen, um darin zu lesen wie in einem Buch, während Micaela es machtlos zulassen muss.
»Du kommst aus der Zukunft«, wiederholt Ron. »Deshalb kannst du immer so plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden. Das Badezimmer im Haus von Enrico, die Toilette von Le Serre gestern Abend. Ich stand vor der Tür. Es gab keine Fenster und du konntest nirgendwo hin und trotzdem hast du dich in Luft aufgelöst. Ich dachte, ich sei verrückt geworden, dabei war ich es gar nicht. Du bist in deine Zeit zurückgekehrt. War es so?«
»Also wirklich!« Micaela gibt sich empört. »Das ist doch absurd …«
»Hm«, macht Enrico und tritt ebenfalls näher an sie heran. »Dir steht der Schweiß auf der Stirn, du bist ganz rot im Gesicht und dein Blick flitzt unruhig hin und her. Vielleicht haben wir ja tatsächlich richtig geraten …«
Ron hält immer noch ihre Arme fest. »Dann bist du also eine Zeitagentin? Wirklich? Ich kann es nicht glauben … Aus welcher Zeit kommst du? Aus dem Jahr 2100? Aus noch fernerer Zukunft? Aber …?«
Micaela fühlt sich, als stünde sie am Rand eines Abgrunds. Außerhalb ihres Teams weiß niemand, was in den Untergeschossen der Budova č. 42 vor sich geht. Sie hat noch nie mit jemandem darüber geredet. Nicht einmal mit ihren Eltern. Nicht einmal mit Diana.
Muss sie es jetzt tun? Mit diesen beiden Jungen darüber reden? Mit zwei Vergangenen, die dazu noch Zielpersonen ihrer Mission sind?
Micaela muss sich bei ihrer Arbeit streng an die Dienstvorschriften halten. Die erste davon lautet, stets die Anweisungen zu befolgen. Die zweite warnt davor, dass auch kleine Ursachen große Wirkungen haben können: Sie lebt einen Augenblick, der bereits vergangen ist, und jegliche Veränderung in dieser Vergangenheit könnte sich auf katastrophale Weise auf die Gegenwart auswirken.
Aus genau diesem Grund sind die Einsätze stets kurz und bestehen nur aus sehr einfachen Handlungen. Eine Tür öffnen. Sich in einer Bar an einen Tisch setzen. Auf eine auf den Boden gefallene Zigarettenpackung treten (damit hatte sie einmal in Paris fünfzehn Kindern das Leben gerettet, die sonst wenige Stunden später in einem Brand im Wald von Fontainebleau ums Leben gekommen wären).
Und dann gibt es da noch eine dritte Vorschrift, die Micaela befolgen sollte und die lautet: Keinerlei nicht autorisierte Kontakte mit den Vergangenen. Dieser Vorschrift hat sie soeben zuwidergehandelt. Welche Konsequenzen könnte das haben?
»Los, rede!«, befiehlt Enrico.
»Vierundzwanzig Stunden«, antwortet Micaela.
Sie hat es getan. Sie hat es zugegeben, sie hat gebeichtet.
Was für ein Schlamassel … Ich habe alles zerstört.
Oder vielleicht doch nicht? Micaela fehlen die Worte, um zu beschreiben, was sie im Moment empfindet. Sie fühlt sich leer. Sie fühlt sich schuldig, weil sie das größte Geheimnis ihres Lebens verraten hat. Aber irgendwie fühlt sie sich auch erleichtert.
Denn alles in allem handelt ein Agent im Feld in Eigenverantwortung, und Enrico und Ron die Wahrheit zu sagen, ist die letzte Karte, die sie auszuspielen vermag. Um die Bombe zu stoppen. Um den Lauf des Schicksals zu verändern.
»Vierundzwanzig Stunden?«, fragt Enrico nach. »Was bedeutet das?«
»Das ich von morgen komme. Von Samstag, dem zwanzigsten Mai.«
»Pfff«, macht Enrico. »Das ist doch idiotisch. Hör endlich auf, uns Blödsinn zu erzählen. Wenn es stimmen würde, warum kehrst du dann nicht einfach zu gestern Abend zurück, anstatt uns zu erzählen, dass eine Bombe explodieren wird und all das Blabla. Du könntest mich aufhalten, wenn ich den Sprengstoff aus dem Lager hole … Oder kehre noch weiter in die Vergangenheit zurück, zu dem Tag, als mein Vater diese Garage voller Sprengstoff entdeckt hat, und lass den Schlüssel verschwinden. Oder noch besser: Kehre sechzehn Jahre weit zurück und verhindere, dass ich geboren werde. Dann hättest du das Problem Enrico ein für alle Male gelöst.«
Er sagt diesen letzten Satz in einem seltsamen Ton, so dass er wie ein Todesurteil klingt. Oder wie eine Begnadigung.
Micaela setzt sich auf die ihr am nächsten stehende Schulbank, weil sie Halt braucht, etwas, das sich sicher anfühlt. Sie verschränkt ihre Hände, damit sie nicht mehr zittern.
»So funktioniert es aber nicht«, erklärt sie. »Unsere Technologie leidet immer noch unter vielen Einschränkungen. Wir Agenten können ausschließlich innerhalb eines vierundzwanzigstündigen Zeitfensters zurückkehren. In meiner Zeit ist es jetzt … 10 Uhr 49 am Samstag, dem zwanzigsten Mai. Das bedeutet, dass ich auf das, was um 10 Uhr 48 am Freitag, dem neunzehnten Mai geschieht, nicht mehr einwirken kann. Ich kann nicht weiter zurück als zu diesem jetzigen Augenblick, hier bin ich an meiner Grenze angelangt.« Sie holt tief Luft und fährt fort: »Bisher bin ich in dieses Zeitereignis viermal eingetreten. Mein erster Einsatz war … nein: wird … wird in einer knappen Stunde erfolgen. Zu dem Zeitpunkt, in dem die Bombe explodiert, um 11 Uhr 56, werde ich an meinem freien Tag zum Dienst gerufen, damit ich die Mission übernehme. Und um 13 Uhr 24 werde ich gestern, also Donnerstag, eingreifen, um euren lächerlichen Streit zu unterbrechen.«
Micaela fühlt sich immer noch, als wäre sie unter Wasser, in einer Luftblase gefangen. Die auf den Schulbänken aufgestellten Computermonitore scheinen sich zu bewegen, vor und zurück, wie Wellen.
Tue ich das gerade wirklich?, fragt sie sich. Sind Ron und Enrico tatsächlich hier bei mir?
Micaela erinnert sich daran, wie zum ersten Mal ein Oberst der Luftwaffe in die Akademie kam und sie zu einem vertraulichen Gespräch einbestellte. Er erklärte ihr, dass sie aufgrund ihrer bisherigen Leistungen positiv aufgefallen sei und dass man sie nach Prag schicken wolle, als Kandidatin für eine besondere Mission. Erst ein paar Monate später las Micaela zum ersten Mal in einem streng geheimen Dossier von der Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen. Sie war schockiert. Ein internationales, geheimes Polizeikorps, das in den verschiedenen Zeitzonen arbeitet … die Transfertechnologien … ihre Grenzen … All das war ihr viel zu unglaubwürdig vorgekommen.
Genau dieser Schock, dieser Unglaube ist auf den Gesichtern von Ron und Enrico zu sehen, und sofort fühlt sie sich weniger allein.
»Wenn du schon gestern in Aktion getreten bist«, sagt Ron, »warum bist du dann überzeugt, dass die Bombe explodieren wird?«
»Weil wir das gesehen haben«, erklärt Micaela. »Es ist bereits geschehen. Meine Einsätze gestern sind allesamt gescheitert.«
»Und warum?«
Sie umfasst mit aller Kraft die Schulbankkante, um Halt zu finden, sich an der Wirklichkeit festzuklammern.
»Das wissen wir nicht. Sobald ein Agent beginnt, an einem Zeitereignis zu arbeiten, hat die Operationsbasis auf die Ereignisse keine klare Sicht mehr. Ein Phänomen, das wir ›Nebel‹ nennen … Damit versucht das Universum Zeitparadoxe zu verhindern. Also mehr oder weniger. Doch trotz des Nebels gibt es etwas, das wir mit hundertprozentiger Sicherheit wissen: Die Bombe wird explodieren. Außerdem passiert etwas Seltsames, aber wir wissen nicht, was es ist. Wir haben nur einen Verdacht.«
»Was für einen Verdacht?«
»Wir glauben, es ist ein Konter-Agent am Werk, der an demselben Zeitereignis arbeitet. Jemand macht die Wirkungen meiner Einsätze zunichte.«
Ron setzt sich auf die Schulbank neben ihr. Eigentlich will sie ihm sagen, dass er etwas tun soll, dass sie kostbare Minuten verlieren, doch damit die beiden ihr helfen können, müssen sie zuerst einmal verstehen. Sie braucht dringend ihre Hilfe. So viel Hilfe, wie sie nur bekommen kann.
»Was können wir tun?«, fragt Ron.
»Ihr müsst mir helfen, den Sprengstoff zu finden, bevor etwas oder jemand ihn explodieren lässt.« Micaela schaut Enrico an. »Du kannst nicht vergessen haben, wo du ihn gelassen hast. Das ist unmöglich.«
»Es ist aber so.«
»Aber …«
»Ich habe gesagt, dass es so ist!«, schreit er sie an, und gleich darauf beugt er sich vor und fängt an zu weinen. Er löst sich förmlich in Tränen auf und schluchzt so stark, dass er kaum noch Luft bekommt.
Micaela hat nicht mit dieser Reaktion gerechnet, sie weiß nicht, was sie sagen soll. Es kommt ihr vor, als würde sie den ganzen Schmerz spüren, den er in sich trägt, die Dunkelheit, die ihn nachts zu verschlingen droht, die ihm den Schlaf raubt.
Ohne nachzudenken geht sie zu ihm und umarmt ihn. (Eine weitere Verletzung der Vorschriften, aber das ist jetzt auch schon egal.)
Enrico legt den Kopf auf ihre Schulter.
Sie flüstert ihm zu: »Es wird alles gut ausgehen.«
Ron steht auf und beteiligt sich an der Umarmung. Er riecht gut, denkt Micaela. Sie drei bilden einen festen, starken Kern.
Als sie sich voneinander lösen, ist Ron derjenige, der als Erster etwas sagt: »Versuchen wir, ruhig zu bleiben. Wir wissen, dass Enrico gestern Abend den Sprengstoff geholt und seinen Rucksack damit befüllt hat und dass er ihn hierher in die Schule gebracht hat. Denn heute Morgen hattest du den Rucksack nicht mehr, oder?«
Enrico schüttelt den Kopf. Er dreht sich weg, so als müsse er sich wegen seines tränennassen Gesichts schämen, und wischt es mit dem Ärmel ab.
»Also musst du den Rucksack hier gelassen haben. Das weiß ich, weil meine App mir angezeigt hat, dass dein Auto vor der Schule stand. Und weil du den Rucksack sicherlich nicht einfach auf die Straße hast fallen lassen, musst du irgendwie in die Schule reingekommen sein. Aber wie? Der Haupteingang war heute Morgen nicht aufgebrochen, nirgends lagen kaputte Glasscheiben herum. Gibt es denn noch einen anderen Zugang?«
»Über den Heizungskeller«, antwortet Enrico.
Micaela hat den Grundriss der Schule auswendig gelernt.
»Der ist im Souterrain, dorthin gelangt man nur über die Treppe neben dem Hausmeisterbüro.«
»Nein, nein«, widerspricht Enrico. »Man kommt da auch durch die Belüftungsschächte rein, die auf den Bürgersteig der Via Ortis hinausgehen.«
»Laut den Bauplänen sind diese Schächte auf der Innenseite vergittert«, entgegnet Micaela.
Doch Enrico schüttelt den Kopf. »Eines der Gitter hat sich gelöst. Die Schrauben sind schon vor ewig langer Zeit durchgerostet … Man braucht das Gitter nur anzuheben, um reinzukommen. Alle wissen das. Hauptsächlich geht man da hin, um rumzuknutschen, bis man etwas Besseres gefunden hat.«
»Ich wusste das nicht«, wendet Ron ein.
Micaela würde jetzt eigentlich lachen, wenn sie nicht schon so viel Zeit verloren hätten.
Der Heizungskeller.
Da also ist die Bombe.
Vielleicht hat sie ja doch noch genügend Zeit, um sie zu entschärfen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, läuft sie los und aus dem Klassenzimmer hinaus, rennt den Flur entlang und die Treppe hinunter. Es ist niemand unterwegs, aber im Moment könnte nicht einmal der liebe Gott sie aufhalten.
Ein Stockwerk, zwei, sie hält sich an den auswendig gelernten Grundriss, Hausmeisterbüro, Treppe, Souterrain, fensterloser Flur, an seinem Ende die Brandschutztür des Heizungskellers.
Nun steht sie in einem hässlichen Raum mit nackten Wänden und Betonfußboden, überall sind Pfeiler, die die oberen Etagen des Gebäudes stützen, an den Wänden befindet sich ein Gewirr von Rohren, die von den beiden riesigen runden Boilern ausgehen und durch Löcher in Wänden und Decke weitergeleitet werden. Das wenige Tageslicht fällt durch die Gitter an der Außenwand herein, die laut ihren Informationen nicht geöffnet werden können, von denen sich eines jedoch herausnehmen lässt.
Dort ist Enrico in der vergangenen Nacht in die Schule eingestiegen, was mit einem zwanzig Kilo schweren Rucksack voller Sprengstoff sicher nicht leicht war. Aber vielleicht hat er den Rucksack auch einfach nach unten fallen lassen.
Micaela erwartet, ihn auf dem Fußboden unter dem Gitter vorzufinden, doch dann bemerkt sie ein Bündel Sprengstoffstangen, das an einem der Pfeiler befestigt ist. Es kann nicht von einem Gymnasiasten an der Säule angebracht worden sein. Jemand hat mit einer Schlagbohrmaschine Löcher in die Säule gebohrt, um die Ladungen gezielt anzubringen, und Micaela sieht die Zündschnur und einen Timer: eine schlichte Casio-Armbanduhr, auf der ein Countdown eingestellt wurde.
Es ist jetzt 10 Uhr 57, noch neunundfünfzig Minuten bis zur Explosion.
Neben dem Sprengsatz steht eine geöffnete Werkzeugtasche und Micaela begreift, dass ihr Feind in der Nähe sein muss, in diesem Moment.
Sie ist in dem Heizungskeller nicht allein.
Sie ballt die Hände zu Fäusten, will sich umdrehen.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagt eine Stimme.