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Samstag, 20. Mai, 10:57
23 Stunden und 1 Minute nach Stunde null

Im Team einer Zeitreisen-Mission zu sein, überlegt Rot, muss so ähnlich sein, wie in einem Kino die Karten zu verkaufen. Du weißt alles über die Filme, die gezeigt werden, kennst Teile von ihnen auswendig und weißt auch, an welchen Stellen die Leute lachen und an welchen sie vor Angst schreien. Doch du lebst nur ein Leben aus zweiter Hand, weil du den Film selbst niemals ganz siehst.

Für ihn und Blau jedenfalls ist es so. Sie sind beim Team, sehen die große summende Zeitmaschine und die Monitore mit den Grafiken. Sie schauen auf die Uhren. Warten.

Seit die Ärztin die emotionale Spitze festgestellt hat, sind ungefähr zehn ereignislose Minuten vergangen. Die auf den Bildschirmen angezeigten Werte haben sich normalisiert und sämtliche Techniker konzentrieren sich wieder auf ihre Computer. Die Kommandantin sitzt wie festgefroren auf ihrem Platz, die Hände unter dem Kinn gefaltet, die Stirn so stark gerunzelt, dass eine tiefe Furche sie durchzieht.

Rot kann nachfühlen, dass es für sie frustrierend sein muss. Die Verantwortung für die Mission zu tragen, ohne selbst aktiv zu werden. Nichts anderes tun zu können, als zu hoffen. Genau wie alle übrigen hier im Raum.

Als die grafischen Darstellungen von Micaelas Vitalwerten abermals hohe Spitzen erreichen, springt die Kommandantin auf.

»Was ist da los?«

Ihre Frage wird von dem lauten Biep, biep übertönt, das die Maschine plötzlich von sich gibt.

»Ich hatte gefragt: Was ist da los?«

Die Ärztin schaut von ihrem Computer auf. »Micaelas Werte sind in die Höhe geschnellt. Den Grund dafür kenne ich nicht.«

»Jerry?«

»Zu viel Nebel«, antwortet der Analyst. »Ich kann nichts Brauchbares erkennen, wir sind im Blindflug … Wo ist Data? Wo zum Teufel steckt er?«

»Ich kann euch sagen, was da los ist«, wirft Blau in seinem perfekten Englisch ein.

Rot dreht sich zu ihm um. Sein Kompagnon ist so still, dass er ihn manchmal vergisst, und mit der Sturmhaube über dem Kopf wirkt er noch unzugänglicher. Wie ein Phantom.

»Leutnant Falco kämpft gerade gegen den Feind«, erklärt Blau. »Endlich zeigt sich der Konter-Agent, der eure Arbeit seit dem Beginn dieser Mission behindert.« Er nickt zu Rot hinüber. »Schau mal auf die Uhr. Der Moment ist gekommen. Es passiert genau jetzt.«

Rot sieht, dass Blau recht hat. Es passiert genau jetzt. Das bedeutet, dass ihnen nur noch wenig Zeit bleibt: Beim Hauptfilm hat der Abspann begonnen.

Bedauerlich, dass sie, die Leute, die hinter der Leinwand des Kinos arbeiten, ihre eigene Mission noch nicht erfüllt haben.

Die Anweisungen für Rot waren sehr explizit: Sie sollten in den nächtlichen Stunden mithilfe von MARIE herausfinden, wer der Konter-Agent ist und aus welchen Motiven heraus er agiert. Denn der bemüht sich gerade, die Bombe hochgehen zu lassen. Bisher haben sie allerdings ihre Aufgabe nur zur Hälfte durchgeführt. Mit den in dieser Nacht gesammelten Informationen haben sie ermittelt, was der Konter-Agent erreichen will und auch warum. Doch wer er ist, bleibt weiterhin ein Geheimnis.

Von diesem Punkt an helfen Rots Anweisungen nicht mehr weiter. Ab jetzt sind Blau und er nur noch auf die eigene Kombinationsgabe angewiesen.

Seit er in der Budova č. 42 eingetroffen ist, denkt er darüber nach. Er spürt, dass die Lösung in greifbarer Nähe ist, und trotzdem ist er noch nicht darauf gekommen. Wenn sie die Antwort nicht finden, wenn er und Blau sich irren, löst sich ihr ganzer schöner Plan in Rauch auf. In diesem Fall wird dieser Mann Micaela töten, oder er hat es vielleicht bereits getan.

Dabei fehlt nur noch so wenig … Er ist der Lösung schon so nahe.

So nahe.

Es ist, wie wenn man einen Gegenstand aus allzu großer Nähe betrachtet: Er wird unscharf, die Details verschwinden.

Ja, genau. Genau. Wenn man etwas direkt vor der Nase hat, zu nahe vor Augen hat, dann sieht man es nicht mehr.

Und er begreift.

»Der Feind muss in dieser Basis sein, hier bei uns«, sagt Rot nachdenklich. »Natürlich, denn wenn er sich außerhalb von Nummer 42 befände, könnte er Micaelas Aktionen nicht beobachten. Solange ein Team in der Kapsel ist, dringen keinerlei Informationen nach außen. Das stimmt doch, oder? Deshalb muss er hier sein, irgendwo in diesen Räumen … Es muss jemand aus dem Team sein.«

»Unmöglich!«, protestiert der Analyst.

Doch die Kommandantin befiehlt ihm zu schweigen und Rot fährt fort: »Wie viele Leute sind in der Kapsel? Könnt ihr herausfinden, wo sich alle in diesem Augenblick aufhalten?«

»Das Team besteht aus dreizehn Personen, die Agentin mit eingeschlossen«, erklärt der Analyst. »Aber wir sind alle hier drin … Es fehlt nur Data.«

»Auch meine Adjutantin Liz fehlt«, ergänzt die Kommandantin. »Major Coleman. Und die beiden Wachsoldaten …«

»Mark und Owen stehen draußen vor der Tür, Generalin«, informiert sie die Krankenschwester.

Die Kommandantin hat verstanden, jetzt ist auch sie zu demselben Schluss wie Rot gelangt. Sie kennt die Wahrheit.

»Jerry, ruf sofort die Aufnahmen der Überwachungskameras auf. Findest du Liz und die anderen? Kontrolliere auch die Bilder aus der Cafeteria, aus den Ruheräumen, notfalls auch die aus den Toiletten. Sofort!«

Auf den Monitoren vor dem Analysten erscheinen Aufnahmen aus dem Inneren der Basis.

Leere Gänge, leere Räume.

»Sie sind nicht da … Ich finde sie nirgends. Sie sind verschwunden. Sie müssen die Kapsel verlassen haben.«

»Ich bin die Einzige, die die Codes der Ausgänge kennt«, sagt die Kommandantin. »Sie können das System nicht ausgetrickst haben.«

»Dann haben sie es direkt vor eurer Nase getan«, kommentiert Blau, und Rot glaubt, dass er unter seiner Sturmhaube grinst.

Die Kommandantin reagiert nicht darauf. »Jerry, wenn einer unserer Leute ein Konter-Agent ist und sein Transfer von hier aus erfolgt, dann muss es in der Basis eine weitere Maschine geben. Wo könnte er sie gefunden haben?«

Der Analyst denkt nach. »In Stará Boleslav haben wir Maschine 17 und das ist diese hier. Maschine 23 ist dem Team von General Dvořák anvertraut worden, während Maschine 41 unter der Aufsicht von Martínez steht …«

»Das weiß ich auch alles. Also?«

»Es gibt da noch Maschine 93«, wirft einer der Techniker ein.

»Was ist mit dieser 93?«

»Sie wurde vor Kurzem hergeschickt, es müsste ein neueres Modell sein. Aber weil gerade so viel los ist, haben wir es noch nicht geschafft, sie zu installieren.«

»Und warum weiß ich nichts davon? Warum wurde mir das nicht berichtet?«, kreischt die Kommandantin mit schriller Stimme. Sie ist außer sich.

»Aber, Kommandantin«, gibt der Mann entgeistert zurück, »ich selbst habe es dem Zweiten Kommandanten heute Morgen gemeldet. Wie immer.«

»Coleman!«

»Ich glaube, jetzt wissen wir, wie sie in die Vergangenheit gelangen«, meint Blau gelassen. »Sie haben die Tücken eurer Bürokratie ausgenutzt, um sich eine Zeitmaschine unter den Nagel zu reißen.«

Niemand hört ihm zu, auch weil die Kommandantin bereits auf dem Weg zur Tür ist. »Wo ist diese Nummer 93? Wo?«

»Sie ist ebenfalls in Sektor Lila, im Lagerraum K«, antwortet der Techniker. »Hinter der Cafeteria links.«

Die Kommandantin zieht ihre Pistole.

»Holen wir uns diesen Bastard«, sagt sie. »Und ziehen wir ihm die Schläuche raus.«