Ron und Enrico betreten den Heizungskeller und werden Zeugen eines Kampfes.
Man sieht sofort, dass hier keine ebenbürtigen Gegner miteinander ringen. Die eine der Kämpfenden ist Micaela, neunzehn, einen Meter siebzig groß und schätzungsweise sechzig Kilo schwer. Der andere ist ein Mann in Handwerkerkleidung, der ungefähr so groß wie Ron ist, also ziemlich groß, und mindestens zweimal so schwer.
Micaela hat ihre Jacke ausgezogen und sie sich um den linken Arm gewickelt, um sie wie einen Schutzschild einzusetzen, während sie in der rechten Hand ein Messer aus Knochen hält. Der Mann dagegen ist mit einem Hammer und einer spitz zulaufenden Blechschere bewaffnet.
Mit leicht gebeugten Knien, ausgebreiteten Armen und zusammengebissenen Zähnen beobachten die beiden einander. Dann greifen sie an, und Ron wird klar, dass dieser Kampf ganz anders aussieht als die Kämpfe in den Videospielen, mit denen Gimbo und er sich vergnügen. Hier ist nichts abenteuerlich oder elegant, es ist nur eine Aufeinanderfolge von schnellen, brutalen Bewegungen, die darauf abzielen zu töten.
Der Mann ist derjenige, der als Erster zuschlägt: Er springt vor, hebt den rechten Arm und schlägt mit dem Hammer zu. Ron würde in dieser Situation versuchen wegzulaufen, Micaela aber hechtet nach vorn, wie um sich dem Hammer zu stellen, flitzt unter dem Arm des Mannes hindurch und knallt ihm ihren Kopf ins Gesicht.
Es ist ein Volltreffer. Der Mann taumelt, ohne aber zu stürzen, er weicht nur einen Schritt zurück und sticht mit der Schere nach der Agentin. Sie wirbelt zur Seite, versucht ihn mit ihrem Messer zu verletzen, doch weil ihre Arme zu kurz sind, erreicht sie ihn nicht und der Stoß geht ins Leere. Der Mann holt sofort wieder mit seinem Hammer aus, streift sie damit zwar nur, doch die Wucht des Schlags genügt, um sie durch die Luft zu schleudern. Sie kracht gegen einen Pfeiler, richtet sich jedoch sofort auf, bringt sich wieder in Position.
Beide verschnaufen keuchend, dann stürmt sie auf ihn zu und tritt ihm hart in den Unterleib. Wieder ein Volltreffer, aber der Mann grunzt lediglich, ohne zu Boden zu gehen. Er scheint einen Unterleibsschutz zu tragen. Wehgetan hat der Tritt trotzdem und Micaela tritt gleich wieder zu, dieses Mal mit einem Kickboxertritt in die Seite. Der Mann schien darauf gewartet zu haben, fängt ihren Fuß noch in der Luft ab und klemmt ihn in seine Ellenbeuge ein. Er reißt sie hoch und Micaela verliert das Gleichgewicht und stürzt.
»Ron!«, ruft Enrico.
Er kauert neben einem Stapel Plastikstangen, die, wie Ron inzwischen weiß, nichts anderes als Sprengstoffpatronen sind.
»Was ist?«
Enrico zeigt auf die Elektrokabel, die von allen Seiten her zu der Uhr verlaufen, auf der ein Countdown im Gang ist. »Weißt du noch, dass ich dir gesagt habe, dass diese Sprengstoffstangen keine Bombe sind? Aber dieser Typ hat aus ihnen eine richtige Bombe gemacht.«
»Und du weißt, wie man sie entschärft?«
Enrico schaut Ron entgeistert an. »Machst du Witze?«
Ron schaut die Sprengstoffstangen an, die Kämpfenden, überlegt, dass er mit Schlägereien sicherlich mehr Erfahrung hat als mit Sprengladungen, und stürzt sich folglich schreiend und mit geballten Fäusten mitten ins Geschehen.
Der Unbekannte sieht ihn kommen, holt aus und knallt ihm den Hammer gegen den Magen. Ron, der mit einem derart heftigen Schmerz nicht gerechnet hat, fällt auf die Knie und schämt sich. Er hatte gehofft, eine Weile mithalten zu können, und jetzt hat er sich gleich blamiert.
Zumindest aber konnte er den Feind durch seinen ungeschickten Angriff ein paar Sekunden lang ablenken. Micaela nutzt das, um dem Mann mit der in ihre Jacke gewickelten linken Faust einen Schlag in die Seite zu verpassen, und schlägt gleich noch einmal zu, zweimal, dreimal. Der Mann stürzt zu Boden. Micaela springt zurück. Sie lässt ihre Jacke auf den Boden fallen und Ron sieht, dass sie in der Hand, ihrer Linken, die bisher unter der Jacke verborgen war, einen Schlagring hält.
Daher also die heftige Wirkung ihrer Schläge. Micaela greift sofort wieder an, kickt den Mann mit unglaublicher Gewalt ins Gesicht. Er biegt den Kopf zurück, spuckt Blut und bleibt ausgestreckt liegen.
»Verdammtes Arschloch!«, flucht sie.
Micaela will nochmals nach ihm treten, doch dieses Mal reagiert er, pariert den Tritt, indem er sich die Hände vors Gesicht hält, und bekommt abermals ihren Fuß zu fassen. Er reißt sie aus dem Gleichgewicht und zu sich auf den Boden hinunter.
Er hält sie an einem Arm fest. »Du verstehst nicht«, sagt er. »Es gibt Dinge, die wichtiger sind als du und ich.«
»Wichtiger als eine Bombe in einer Schule?«
»Sehr, sehr viel wichtiger.«
Die Schulglocke ertönt. Klar, denkt Ron, die Glocke, die Pause, alle Schüler verlassen ihre Klassenzimmer, um ein Brötchen zu essen, einen Fruchtsaft zu trinken, im Innenhof eine Zigarette zu rauchen.
Er hat die Pausen geliebt. Gimbo und er haben sich die Mädchen angeschaut und rumgeblödelt.
Was mag Gimbo gerade tun? Vielleicht fragt er sich, wo Ron steckt, sucht möglicherweise nach ihm. Oder aber er spricht mit einem Lehrer. Wen hatten sie in der dritten Stunde? Ach so, ja, Brondi in Mathe. Auf jeden Fall aber wird er nicht einmal im Traum daran denken, in den Heizungskeller hinunterzugehen, um dort nach Ron zu suchen.
Der Unbekannte reagiert auf die Schulglocke wie ein Boxer im Ring auf den Gong: Er spuckt Blut aus und packt Micaelas Arm andersherum, so fest, dass sie einen erstickten Schrei von sich gibt. Auf einmal hat er wieder die Blechschere in der Hand. Ron hat nicht mitbekommen, wann er die zu fassen bekommen hat und wie. Er sieht nur, wie der Mann grinsend die aufgeklappte Schere in der freien Hand hält.
Dann bewegt er sich, jetzt ist er sehr schnell, ein Aufblitzen von Stahl, wieder ändert er seinen Griff an ihrem Arm, nun hockt er rittlings auf ihr und drückt mit seinen Knien ihre Arme auf den Boden. Ein wildes, brutales Grinsen verzerrt sein Gesicht. Er reckt die Schere hoch in die Luft.
Enrico schreit auf. Ron dagegen ist wie gelähmt, es ist, als könne er das, was er da sieht, nicht glauben: das Mädchen, das er liebt, und die drohend auf sie gerichtete spitze Schere.
»Tut mir leid«, sagt der Unbekannte.
Dann sticht er zu.