52

Freitag, 19. Mai, 11:20
36 Minuten vor Stunde null

Wieder erklingt die Schulglocke, und über den Köpfen von Ron und Enrico kehrt Stille ein.

Ah, denkt Ron, die Pause ist zu Ende. Selig die, die nicht wissen, selig die, die keine Ahnung haben. Wenigstens wird ihr Tod überraschend kommen.

»Wenn Micaela recht hat, bleiben nur noch sechsunddreißig Minuten«, sagt Enrico. »Ich gehe jetzt.«

»Das kannst du nicht tun.«

»Doch, kann ich. Und du auch. Wozu soll es gut sein, wenn wir uns opfern? Machen wir, dass wir hier wegkommen. Unterwegs rufen wir die Polizei oder geben Feueralarm. Vielleicht gelingt es, die Schule zu evakuieren, sie zu retten, vielleicht nicht alle, aber doch einige …. Oder die Polizei kann dieses Scheißding deaktivieren …«

»Hast du nicht gehört, was Micaela gesagt hat?«, schreit Ron ihn an. »Wenn die Bombe nicht explodiert, könnte dieser Kerl aus der Zukunft zurückkehren und den Zeitzünder vorstellen. Oder irgendetwas anderes tun. Offenbar muss die Bombe explodieren.«

»Wach auf, du Idiot: Wenn die Bombe explodiert, sterben Menschen!«

Ron ist das alles vollkommen klar, und natürlich ist dies das Hauptproblem. »Vielleicht ist der Typ gar kein Verrückter … Kann sein, dass er ein wichtigeres Motiv hat. Vielleicht passieren in der Zukunft schreckliche Dinge, wenn wir die Bombe stoppen, möglicherweise bricht dann der Dritte Weltkrieg aus. Was wissen wir denn schon?«

»Ron!«, brüllt Enrico. »Das hier ist unsere Schule! Da sind unsere Mitschüler drin. Dein Freund Gimbo!«

Ron weiß es, selbstverständlich weiß er es, und eigentlich müsste er Enrico jetzt mal daran erinnern, dass er derjenige war, der den Sprengstoff in den Heizungskeller gebracht hat, dass er derjenige war, der die Schule in die Luft jagen wollte.

Aber er spürt auch, dass Enrico sich verändert hat. Er ist nicht mehr der Junge, der er gestern war, oder ist es vielleicht nie gewesen, und ihn jetzt darauf anzusprechen wäre vollkommen sinnlos.

Auch weil Enrico, alles in allem, recht hat.

Wenn die Bombe explodiert, stirbt Gimbo. Auch alle anderen sterben, sogar die Santini stirbt. Er, Ron, stirbt. Der Vorhang fällt, alles ist vorbei, gelöscht, zu Ende.

Das wäre nicht richtig, er hat noch so viel vor, vor allem muss er Micaela sagen, was er für sie empfindet, seitdem er ihr vor nicht ganz vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal begegnet ist.

»Ron, wir müssen etwas unternehmen!«, ruft Enrico.

Ron erträgt es nicht mehr, ihn wie einen Wahnsinnigen herumschreien zu hören. Deshalb geht er zu ihm und gibt ihm eine Ohrfeige. Enrico reagiert, indem er Ron in den Magen boxt, und Ron tritt ihm dafür gegen das Schienbein. Enrico stößt mit dem Ellbogen zu, sie verkeilen sich ineinander, Schulter trifft auf Schulter, die Köpfe gefährlich nah, wie zwei kämpfende Stiere. Sie versuchen, sich gegenseitig zu Boden zu ringen, sie umklammern sich, halten sich gegenseitig fest.

Im nächsten Augenblick lösen sie sich voneinander. Das Feuer, das in ihnen gebrannt hat, ist erloschen. Sie wissen beide nicht, warum sie aufeinander losgegangen sind, aber wie sich herausstellt, war es nützlich, denn Ron merkt, dass er jetzt etwas klarer im Kopf ist.

»Wir müssen nachdenken«, sagt er keuchend. »Hier ist eine Bombe. Zeitagenten haben etwas, bei allem Respekt völlig Schwachsinniges, das du gemacht hast, ausgenutzt. Micaela wollte die Bombe deaktivieren, der andere Agent dagegen war davon überzeugt, dass die Bombe hochgehen muss. Kam er dir wie ein Verrückter vor?«

»Na, und wie!«, antwortet Enrico.

»Nein, nein«, widerspricht Ron. »Ein zynischer, erbitterter Bastard, aber kein Verrückter. Und er hat Micaela nicht getötet, obwohl es ihm ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Was sagt uns das? Dass er Vorschriften befolgt, dass er einen Ehrenkodex respektiert. Wer weiß? Vielleicht wird einer unserer Klassenkameraden der neue Hitler …«

»Die Santini ist der neue Hitler«, knurrt Enrico. »Das sage ich schon die ganze Zeit.«

Ein grottenschlechter Witz, der nicht wirklich lustig ist, und trotzdem lacht Enrico und Ron lacht mit.

»Micaela wollte nicht, dass ich mit dir spreche«, erklärt er Enrico. »Sie hat mir gesagt, dass ich dich im Auge behalten, aber nicht aufhalten soll. Ich durfte dir auch nichts sagen oder die Polizei verständigen oder irgendetwas in der Art. Was bedeutet das? Dass sie der Ansicht ist, dass es gefährlich ist, die Vergangenheit zu verändern. Sogar sehr gefährlich, wenn man es nicht auf die richtige Art macht.«

»Für uns ist das jetzt gerade nicht die Vergangenheit«, widerspricht Enrico. »Es ist die Gegenwart. Eine Gegenwart, die gleich BUMM! macht.«

Er weist mit dem Kopf zu der mit dem Sprengstoff verbundenen Casio-Uhr und Ron zwingt sich, nicht auf deren Digitalanzeige zu schauen.

»Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob Micaela recht hat oder der andere. Ich will ihr glauben, weil … eben weil.«

»Von wegen eben weil«, sagt Enrico seufzend. »Die Wahrheit ist, dass sie dir gefällt. Ich fasse es nicht, dass du in einem Moment wie diesem an Sex denkst.«

Ron ignoriert die Bemerkung und fährt fort: »Aber Micaela könnte sich irren. Es könnte sein, dass die Bombe gestoppt werden muss, oder auch nicht. Was passiert, wenn wir uns irren? Los, sag es mir!« Er ist so frustriert, dass er sich am liebsten die Haare ausreißen würde. »Weißt du, was die Wahrheit ist? Dass wir keine Informationen haben. Wir beide wissen nichts … Und deshalb können wir nichts tun. Aber auch nicht nichts tun. Wir sind blockiert, weil wir nicht wissen, wie die Zeitreisen funktionieren und worum es in dieser ganzen Geschichte überhaupt geht.«

»Und ich fürchte, uns bleibt nicht die Zeit, es herauszufinden«, erwidert Enrico, »denn leider ist deine Freundin verschwunden, ohne uns ihre Handynummer dazulassen.«

Was würde ich darum geben, die zu haben, denkt Ron. Wenn er Micaelas Telefonnummer hätte, könnte er sie anrufen, um Hilfe bitten … Auch wenn die Gegenwarts-Micaela nicht weiß, wer er und Enrico sind und was hier bald geschehen wird.

Sie hatte es ihm ja erklärt: Erst in einer halben Stunde, wenn die Bombe detoniert ist, wird sie an ihrem freien Tag zum Dienst bestellt werden, um in Aktion zu treten. Also selbst wenn Ron ihre Handynummer hätte, würde diese ihm nichts nützen. Denn er bräuchte die Hilfe der Zukunfts-Micaela, und zu der kann er keinen Kontakt aufnehmen. Sie ist so nah und trotzdem unendlich weit weg, vierundzwanzig Stunden von ihm entfernt.

Sie ist verschwunden, verschwunden … Sogar ihr Blut auf dem Fußboden ist verschwunden. Nur ihre zerrissene Jacke ist zurückgeblieben, sie liegt zusammengeknüllt in einer Ecke wie ein alter Lappen.

Verdammte Jacke.

Und verdammter Enrico und verdammtes verfluchtes Schicksal. Die Bombe wird hochgehen und Ron weiß nicht, wie er sie stoppen soll, weiß nicht, was er machen soll. Er ist allein und ahnt, dass es nicht viel bräuchte, um dieses Problem zu lösen, nur ein kleines bisschen Hilfe. Und stattdessen … stattdessen …

Stattdessen nichts.

Ron lässt sich auf die Knie sinken.

Er hält sich den Kopf mit beiden Händen und fängt an zu weinen.